Editorial

Stoff und Raum sind seit je eng mit­einander verbunden: Schon früh hat sich der Mensch ein Heim aus Textilien gebaut und Tücher zu einem Zelt geformt. Diese direkte Beziehung haben Generationen von Baumeistern verfeinert, weiterentwickelt und weitergegeben. Die Nähe hat Eingang gefunden in die Sprache – Decke, Knoten, Hülle, Gewebe – und auch in die Rhetorik des Bauens, wo Eigenschaften des Textilen in anderen Materialien zum Ausdruck kommen. In einer metaphorischen Betrachtung zeigen sich Eigenschaften des Stofflichen als Quellen der Inspiration für Architektur, Städtebau und Ingenieurskunst.

TEC21 widmet dem Begriffspaar von Stoff und Raum zwei Ausgaben und untersucht ihre Verwandtschaft sowie das Potenzial, das sich dazwischen aufspannt. Denn der Einfluss wirkt auf beide Seiten: Das Textile ist Ideengeber für räumliche Phänomene, aber ebenso wirken Raum und Architektur anregend auf die Kreationen von Stoffen und Mode.

Im vorliegenden Heft untersucht die Kunsthisto­rikerin Franziska Wilcken die Verwandtschaft der beiden Begriffe, erkundet die gemeinsamen Wurzeln und öffnet den Blick für deren meta­phorische Bedeutung. Welche Möglichkeiten für die Tragwerksplanung in der Umsetzung der Stoff-Metapher liegen, zeigt der Bauingenieur Thomas Ekwall in seinem Essay auf. Die kommende Ausgabe thematisiert die Arbeit am Textilen am Beispiel des urbanen «tessuto» und veranschaulicht im Gespräch zwischen Kreativen aus Architektur und Modedesign die Berührungsflächen der beiden Disziplinen sowie ihre gegenseitige Affinität.

Susanne Frank, Marko Sauer

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Tor zum Ort, Portal nach Nord

11 PANORAMA
Nun wissen wir’s | Städtebeschimpfungen

14 VITRINE
Neues aus der Baubranche

16 SIA
Die Botschaft der Norm | Stärkung der Vergabe­ordnungen | BIM-Merkblatt genehmigt | «Die Demokratie spielt eigenständig mit»

20 VERANSTALTUNGEN

THEMA
22 STOFF UND RAUM I – ÜBER DAS STOFFLICHE

22 TEXTILE VERRÄUMLICHUNGEN
Franziska Wilcken
In ihren räumlichen Aspekten berühren sich die Architektur und die Welt des Textilen. Die Übertragung der Formensprache des Stoffs birgt viele Möglichkeiten für den Entwurf von Räumen und Oberflächen.

28 RAUMÜBERSPANNENDE MEMBRANEN
Thomas Ekwall
Tragwerke mit Eigenschaften von Textilien bilden eine interessante und anregende Nische. Dabei ist das Potenzial der Metapher oft grösser als dasjenige des Materials.

AUSKLANG
34 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Textile Verräumlichungen

Textile Räume gibt es seit Jahrtausenden. Die Beziehung des Textilen zum Raum hat Gottfried Semper Mitte des 19. Jahrhunderts grundlegend untersucht. Die Ergebnisse inspirieren uns bis heute. Die Kunsthistorikerin Franziska Wilcken spannt den Bogen von den Ursprüngen textiler Räume bis hin zu den Tendenzen zeitgenössischer Architektur.

Das Nachdenken über textilen Raum eröffnet für alle, die es unternehmen, ein Feld, das ich ein grosses bekanntes Unbekanntes der Architektur nennen möchte. Textile Räume gab es schon vor der neolithischen Revolution vor ca. 11 000 Jahren, also vor der Sesshaftwerdung der frühen Menschen. Bis heute sind Flecht- und ­Knüpfwerke charakteristisch für nomadische Architekturen. In Westeuropa wird das Wissen über Textilien überwiegend im Bereich der Textilindustrie, Kunst­gewerbe, Kleidung und Mode bewahrt und vermittelt, nur partiell ist es in die Architekturlehre – mit Aus­nahmen wie dem Bauhaus und Frei Otto (1925–2015) und dem Stuttgarter Institut für leichte Flächentragwerke – eingedrungen.

Den existenziellen, körperlichen Materialkontakt zum Textilen, den schon ein Neugeborenes aufnimmt und den der Mensch während seines Lebens nie verliert, bedeutet für alle, die sich theoretisch und schöpferisch damit beschäftigen, immer auch, die schon lang bestehende individuelle haptische Kenntnis des Materials zu reflektieren und zu abstrahieren. Bekannter könnte uns ein Material kaum sein, und doch ist es in seiner Beziehung zu Raum, der Kategorie, mit der Architektur umgeht, erst Mitte des 19. Jahrhunderts von Gottfried Semper (1803–1879) untersucht worden – da jedoch grund­legend und wegweisend. Seit den 1980er-Jahren hat sich der theoretische Diskurs zu textiler Architektur jedoch intensiviert. Architekten, Künstler und Theoretiker beziehen die Textrin, wie Semper die textile Kunst nannte, zunehmend in ihre Arbeit ein.[1]

Textiles Material verfügt wie sonst nur Lehm in der abendländischen Kunst- und Ideengeschichte über eigene mythologische Erzählungen. Die Hexameter Ovids evozieren den am Webstuhl ausgetragenen Wettkampf zwischen der lydischen Weberin Arachne und der göttlichen Athene, der für Arachne in ihrer Verwandlung in eine Spinne endet. Die weibliche Konnotation ist eine Konstante der kulturellen Reflexion über textile Kunst.

Aus dem lateinischen Adjektiv textilis – gewebt, gewirkt – ging das substantivierte Neutrum textilia hervor, aus dem sich der in fast allen europäischen Sprachen verwendete Textil-Begriff ableitet. Textilien sind «aus verspinnbaren Fasern hergestellte Gebilde, wie Garne, Gewebe, Gewirke, Gestricke».[2] Der amerikanische Künstler Seth Siegellaub (1941–2013), ein bedeutender Sammler von Textilkunst, verwies auf die universellen Anspruch des Begriffs Stoff «(…) the German word for textiles is the same as the general word for material or matter (Stoffe)».[3]

Sempers Untersuchung zur textilen Kunst

Gottfried Semper behandelte 1860 im ersten Band seines «Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik» zuerst die «Textile Kunst, für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst». Die Möglichkeit, Textilien als schutzbietende und gleichzeitig raumerzeugende Wände in frühen menschlichen Behausungen einzusetzen, war ein Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Semper erweiterte das Inventar der per definitionem textilen Stoffe Flachs, Baumwolle, Wolle und Seide, zu denen auch die Tierfelle gehören, um Kautschuk und um Lacke.

Textile Materie wurde von Semper über ihre Eigenschaft als Flächenbedeckung, also ihre bekleidende Funktion, gefasst, und so kam das elastische Material Kautschuk, aus ostindischem Pflanzensaft gewonnen, ein «Factotum der Industrie», in seinen Katalog.[4] Die chinesische und japanische ­Tradition, Lack als kontinuierliche Flächendecke einzusetzen, bewog ihn, den aus Harzen gewonnenen Stoff ebenfalls in der Textilen Kunst zu behandeln.

Semper definierte die Stoffe der Textilkunst als «zähe, dem Zerreissen widerstehende Materie», die, anders als die erhärtungsfähige Materie der Keramik, nicht beständig sei. Alle Faserstoffe also, Tierhaare, aus dem Pflanzenbereich die Baumwolle, Flachs, Hanf, Bambus, Jute und das Gespinst des Seidenwurms. Rohe Stoffe werden bearbeitet, Flachs wird gebrochen, Wolle wird gekrempelt, Baumwolle kardiert. Prinzipiell gesagt, werden die Fasern weitgehend parallelisiert, um dann zu Fäden gesponnen zu werden.

Spiel mit dem Transfer

Die Fähigkeit zur Raumbildung wohnt allen textilen Stoffen inne. In Venedig – dessen Künstler in der Re­naissance weniger besessen vom Bildraum, dagegen, in byzantinischer Tradition, mehr interessiert an der Beschaffenheit von Oberflächen waren – entstand um 1490 ein Gemälde, in dem die Darstellung der Materie die Rolle eines Hauptakteurs des Bilds übernimmt.[5] Motiv des zweiteiligen Bilds ist die Ver­kündigung an Maria.

Auf der linken Tafel ist die Figur des Boten, des Erzengels Gabriel, auf der rechten Tafel Maria dargestellt, die Begegnung findet der Bildtradition gemäss in einem Interieur statt. Aus einer Vielfalt von Gründen ist die malerische Darstellung, die Giovanni Bellini für den schweren textilen Gewandstoff Gabriels wählte, interessant. Die im Profil gegebene geflügelte Gestalt des Engels wird in der marmornen Raumbühne des Bilds erst durch die Gewandfalten körperlich, sie definieren die Figur, anders als seine teils verhüllten Gliedmassen.

Bellini stellt den schimmernden Stoff in so schwere und hart umbrechende Falten gelegt dar, dass selbst ein Atlasstoff kaum denkbar ist, vielmehr erscheint das Gewand skulptural und wie aus Stein, nahezu architektonisch. Die malerische Illusion der räumlichen Qualität der verschatteten Faltenmulden ist perfekt und verweist auf die Realität: Eine Falte entsteht in textilem Material durch Schub oder Zug, dadurch bilden sich, abhängig vom Stoff, Biegungen und Knicke.

Bellini hat das Gewand des Engels der Verkündigung in zahllose Knicke gelegt, die gezackten Scheitel der Faltenwulste und tiefe, dunkle Stoffkehlen erzeugen eine textile Topografie, die das epiphane Ereignis der Verkündigung gleichsam noch einmal erzählt. Auf die Faltenkaskaden des Erzengels lässt Bellini die beiden anderen grossen Stoffdarstellungen des Bilds, Marias blauen Mantel aus leichterer Seide und einen roten Vorhang – vielleicht ein Seidentaft für ein Bettgemach? – antworten.

Die dicht gewebten Seiden- und Atlasstoffe sind malerisch mit ihrem steifen und eckigen Faltenwurf charakterisiert. In der Textilen Kunst beschreibt Semper die Herkunft der Seide aus China und die Übernahme der chinesischen Seidenproduktion im antiken Griechenland. Der harte Faltenwurf des Seidenstoffs, dem weichen Faltenwurf der hellenischen Wollgewänder diametral entgegengesetzt, führte danach zu einem eigenen Seidenstil, der parallel zum hellenischen Wollstil in Ornamentik und Ästhetik Eingang fand. Semper weist auch auf die Nähe der Texturen von schwerer Seide und Metall hin: Textiler Atlas ist mit seinen licht­reflektierenden Eigenschaften Metalloberflächen verwandt, ein Phänomen, das sich im 19. Jahrhundert auch in der Tradition festiver Blechzelte niederschlug.[6]

Das Spiel mit dem Transfer des Materials ist der Kern von Sempers ästhetischer Stoffwechseltheorie. Eine Materie wird in eine andere überführt und bleibt als formgebender Grund bestehen – Behänge der Zelte wechseln in die Geflechte des Holzbaus, Holzbau wird in Stein übertragen. Dabei wird der ursprüngliche Materialstil beibehalten, die Form emanzipiert sich vom rein Stofflichen und nackten Bedürfnis.[7]

Zelt, Hütte und Höhle

Die eiszeitliche Höhlenmalerei in der Höhle La Mouthe im Südwesten Frankreichs bringt in überraschender farblicher Frische eine tatsächliche Urhütte vor Augen. Vor geschätzten 20 000 Jahren trugen Vorfahren des modernen Menschen auf die Felswand mit mineralischen Pigmenten eine Zeichnung auf, die eine Hütte in ihrer einfachsten Form zeigen könnte: Über einen horizontalen Stamm gelegt oder zwischen zwei Zeltstangen gespannt scheint eine textile Decke zu hängen. Die Fotografie aus dem Neander­thal-Museum zeigt ein Firstzelt in der erstaunlich naturalistischen Halbperspektive des Stils der Magdalénien-Epoche.

Das darüber geworfene Material ist zweifellos ein textiles Gewebe, die weiche Falten­darstellung – durch die Unebenheiten des Bildgrunds verstärkt – lässt auf Wolle schliessen. Das Material scheint, vertraut man unbefangen dem heutigen Blick, bereits in dekorativer Absicht in unterschiedlichen Farbstreifen gefärbt. Links vom farbigen Zelt sind schwache Spuren und Felsritzungen von dach- oder zeltförmigen Dreiecken zu erkennen. Es sind soge­nannte Tektiformen der eis- und steinzeitlichen Kunst, die man als halbabstrakte Zeichen für Zelt oder Haus interpretiert. Das Zelt als schutzgebender, mobil und temporär zu errichtender Raum war mit der menschlichen Fähigkeit zur Herstellung grober Gewebe von einzigartiger Praktikabilität für nomadische Kulturen.

In geschichtlicher Zeit wurde ein Zeltheiligtum (um 1440 v. Chr.) zum Gründungsbau jüdischer und christlicher Sakralbauten. Die im Buch Exodus (2. Buch Mose 25–39) beschriebene Zeltanlage (von Luther als «Stiftshütte» übersetzt) hat zu Beginn des 18. Jahrhunderts den Mathematiker und Theologen Bernard Lamy (1640–1715) zu einer visuellen Rekonstruktion des sakralen Zeltbaus veranlasst.

Auf einer Kupferstichtafel ist die Anlage zu sehen, das Zelt inmitten des von Planen umgrenzten Bezirks. Das Zeltheiligtum als unbekleidetes, von Spannseilen befestigtes Holzgerüst, und dasselbe, von Planen ummantelte Gerüst sowie ein Querschnitt verdeutlichen die Zeltkonstruktion. In Lamys sachlich-­enzyklopädischer Darstellung fehlt die im christlichen Kontext bedeutsame textile Trennwand, der Vorhang, der das Allerheiligste im Zeltinnern vom Vorraum abtrennt.

Die Tatsache, dass die Beschreibung des Stifts­zelts im Buch Mose deutlich älter ist als die Schriften zur Architek­tur von Vitruv (33 v. Chr. bis 22 n. Chr.), war im 18. Jahrhundert Anlass für allerlei Spekulation. So versuchte John Wood d. J. (1704–1754), Architekt der Stadtanlagen der Stadt Bath, in Fragen der Architektur einen christlich-jüdischen Vorrang vor der Antike durch den Text der Thora zu beanspruchen.[8]

Die modulare Ordnung und Tektonik des he­bräischen Zeltheiligtums nahm Le Corbusier im 20. Jahrhundert nicht nur zum idealen Vorbild in «Vers une architecture» (1923). 1937 orientierte er den ausserhalb des Geländes der Pariser Weltausstellung errichteten, radikal modernen Pavillon des Temps Nouveaux an dessen eingehegter Zeltarchitektur.[9]

Material und Technik: Stoffe konstruieren

Textile Flächen werden geflochten und, in kunstvoller Form, als Teppiche zu biegsamen «Pliable planes» (Anni Albers). Teppichen attestierte der Purist Adolf Loos einen hohen materialen Eigenwert, da sie nichts imitierten: «Teppiche wollen nur Teppiche sein und keine Mauersteine, sie wollen nie für solche gehalten werden.»[10] Damit erhob Loos den Teppich weit über das Baumaterial Ziegel, mit dem Hendrik Berlage 1903 seine Amsterdamer Börse umkleidete, wobei er durch ein atektonisches Fugenbild eine textilartige Gebäudehaut suggerieren konnte.

Textiles Material besitzt eine eigene Formensprache – es ist geprägt von tierischen und pflanzlichen Fasern, die maschinell gekämmt und in parallele Richtung gebracht werden müssen, um dann weiter verarbeitet zu werden. Die Techniken, die aus dem elastischen, weichen und saugfähigen textilen Material Gewebe, Matten, Geflechte erzeugen, ermöglichten es, in prähistorischer Architektur die raumbildende Funktion von Wänden zu übernehmen. Das Akkordieren der Fasern ist entscheidend, erst dadurch entstehen die spezifischen Eigenschaften der Textrin.

Für gewebte Gebilde gilt, dass die am Webstuhl hergestellten textilen Flächen aus sich kreuzenden Fäden entstehen. Anni Albers griff in ihren Webklassen am Bauhaus und nach ihrer Emigration in die USA 1933 am Black Mountain College bewusst auf das unzeitgemässe Weben an Handwebstühlen zurück und machte damit den Konstruktionsprozess von Stoffen für die Studenten erfahrbar.

In ihrem Buch «On Weaving» verortet sie das Weben analog zur Architektur als Wechselbeziehung zwischen Baumaterial (thread) und Konstruktion (weave).[11] Während ihrer gemeinsamen Rei­sen mit Josef Albers in den späten 1930er-Jahren zu archä­ologischen Stätten in Mexiko entstanden zahlreiche Fotografien wie diejenige eines Hochreliefs aus Mitla. Die rautenförmigen Steine wirken wie Imitationen von Ikat-Stoffdrucken, einer in den Anden verbreiteten textilen Färbetechnik.

Tradition als visuelle Metapher

Als visuelle Metapher besitzt textiles Material in der Architekturgeschichte eine eigene Tradition. Im Sa­kral­bau der Nachkriegsmoderne der 1960er- bis 1970er-­Jah­re verwiesen zeltförmige Konstruktionen und Kirchen­silhouetten assoziativ auf die hebräische Stiftshütte. Giovanni Michelucci hat in seinem radikalen Spätwerk, der 1964 fertiggestellten Autobahnkirche San Giovanni Battista bei Florenz, nicht nur mit der hohen materialen Eleganz seines rationalistischen Bahnhofsgebäudes von Florenz (1933–35) gebrochen. Über dem quer orientierten, aus Haustein gemauerten Kirchenschiff tragen kolossale Betonstützen eine gewaltige, konvex in den Raum gewölbte Betonschale.

Im Innern der Autobahnkirche kann so zwar auch das Zeltheiligtum visuell assoziiert werden, aber Michelucci gelingt mehr als das: Er visualisiert einen Semper’­schen Stoffwechsel in brutalistischer Kon­sequenz; die materiale Schwere des Sichtbetons wird in der kolossalen textilen Wölbform visuell aufge­hoben, ohne verleugnet zu werden. In den späten 1980er-Jahren erhob Gilles Deleuze in Rückgriff auf Leibniz die Metapher der Falte zum Titel seines viel gelesenen Werks «Le Pli» – erst durch die Falten kann die Wahrnehmung der Wirklichkeit philosophisch beschrieben werden.[12] Frank Gehry hat 2015 in der gefalteten Fassade des Dr. Chau Chak Wing Building in Sydney die poststrukturalistische Metapher von Deleuze in Architektur rückübersetzt.

Den Bereich der Wahrnehmung berührt auch das konkrete Vermögen textiler Stoffe, Raum und Objekte vorübergehend zu verhüllen. Der durch die Mitte gerissene Vorhang im hebräischen Heiligtum, der den allerheiligsten Bereich abtrennte und vor Blicken verbarg, wird im Neuen Testament zum Bild der neuen Religion (Matthäus 27, 50–51a; Markus 15, 37–38; Lukas 23, 45b–46). Mit einer Umkehrung dieser Enthüllungsmetapher arbeiteten Christo und Jeanne Claude, als sie 1968 in Bern zum ersten Mal ein Gebäude verhüllten. Die textiforme Verfremdung von Bauten institutionalisierter Kunst und Kultur – im Fall der Berner Kunsthalle dauerte die Aktion eine Woche – wurde zu Beginn der Verhüllungsaktionen des Künstlerpaars noch mit weich fallendem Polyethylen realisiert.

Die schleierartigen transparenten Draperien überformten den neoklassizistischen Bau von Walter Joss mit einer konträren Ästhetik des Vergänglichen. Später, wie bei der Verhüllung des Reichstags im Jahr 1994, setzten die Künstler das schwerere Polypropylengewebe ein, das dem zusätzlich durch Stahlseile umschnürten Bau ein wesentlich härteres Falten- und Oberflächenrelief – metallisch wirkendem Atlasstoff ähnlicher als die wolleartigen Bogenfalten der Berner Draperie – verlieh.

Neue Gebiete erschliessen

Ästhetische und technologische Eigenschaften textiler, «biegsamer» Flächen erscheinen in der Architektur der rezenten Jahren zunehmend. Ob textile Technologie 2010 in Holzbearbeitung übersetzt (Shigeru Ban, Cen­tre Pompidou in Metz) oder die Ästhetik des Zelts genutzt wird, wie 2005 im halbtransparenten Metallgewebe des De Young Museum, San Francisco (Herzog & de Meuron), oder ob Ziegelfassaden monumental gefaltet werden wie 2015 bei Gehry in Sydney – die architektonische Beschäftigung mit der Textrin erschliesst neue Gebiete. Eines der subtilsten und gleichzeitig amü­santesten Beispiele für das textile Eindringen in das Feld der Architektur – und vice versa – ist ein Abschnitt der Fassade des Londoner Sainsbury Wing von Robert Venturi und Denise Scott Brown.

Zwischen den rektangulär eingeschnittenen Eingangsöffnungen verdichten sich die aus dem neoklassizistischen Vokabular der benachbarten National Gallery entlehnten Kolossal­pilaster der Fassade zur Gebäudeecke hin sukzessive zu Pilasterbündeln, analog den Vertikalfalten eines Theatervorhangs.[13] Mit leiser tex­tiler Ironie haben Venturi/Scott Brown die mediale ­Tradition des steinernen Museums unterwandert und zugleich dramatisiert – die Museumsfassade wird zum Billboard der ausgestellten italienischen Kunst.


Anmerkungen:
[01] Semper übernimmt den Begriff u. a. aus einer Anthologie antiker Texte zur Landwirtschaft, vgl. Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, Bd. 1: Die textile Kunst, für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Mittenwald 1977 (1860), S. 92.
[02] Günther Drosdowski (Hg.), Duden, das grosse Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter, Mannheim, Leipzig u. a. 1994, S. 1358.
[03] Seth Siegellaub, A Very Speculative but Brief Note on Textiles and Society, in: The Stuff that Matters, London 2012, S. 5.
[04] Semper (1977), S. 112.
[05] Die Doppeltafel von Giovanni Bellini, heute Gallerie dell’Accademia / Venedig, war ursprünglich Teil des ­Orgelprospekts von Santa Maria dei Miracoli. Vgl. ­Deborah Howard, Bellini and Architecture, in: The Cambridge Companion to Bellini, Cambridge 2008, S. 143–166.
[06] Rainer Graefe, Schinkels Blechzelte und Nachfolgebauten, in: Vela, Mitteilungen des Instituts für leichte Flächentragwerke (IL) 30, 1984, S. 134–149.
[07] Zit. nach Adrian von Buttlar, Gottfried Semper als Theoretiker, in: Semper 1977.
[08] John Wood, The Origin of Building or the Plagiarism of the Heathens Detected, Bath 1741.
[09] Vgl. Kenneth Frampton, Kapitel 10 Postscriptum, in: Grundlagen der Architektur. Studien zur Kultur des Tektonischen, München 1993, S. 9–11.
[10] Adolf Loos, Das Prinzip der Bekleidung (1898), in: A. Loos, Ins Leere gesprochen, Berlin 1921, S. 110.
[11] Anni Albers, On Weaving, London 1975 (1965), S. 59.
[12] Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a. M. 2000.
[13] Dank an Marco Zünd, der 2015 in London darauf aufmerksam machte.

TEC21, Fr., 2017.10.06

06. Oktober 2017 Franziska Wilcken

Raumüberspannende Membranen

Stoffe sind eine wesentliche Inspirationsquelle für die Leichtbauweise. Dank dem Einsatz synthetischer Folien lassen sich ihre Eigenschaften in raumbildende Tragwerke übertragen – allerdings nur bedingt. Wenn Stoff jedoch als Metapher aufgegriffen wird und andere Materialien zum Einsatz kommen, öffnen sich ungeahnte Möglichkeiten.

Beim Bauen mit Stoff schwebt dem Bauingenieur in der Regel ein Mem­bran­tragwerk vor – eine druck- und biegeweiche Fläche, die reine Zug­kräfte überträgt. Darin enthalten ist das Versprechen absoluter Effizienz: Schliesslich weiss er, dass ein solches Bauteil aus Glasfaser, würde man es aufhängen, 133 km hoch sein müsste, bevor es unter seinem Eigengewicht auf Zug versagen würde (die sog. Reisslänge). Andererseits befürchtet er, dass die Membran instabil oder dynamisch erregt wird, sobald diese Tragwirkung unter ungünstig wirkenden Lasten nicht mehr aktiviert werden kann.

Der breite Einsatz von Stoffen für Membrantragwerke setzt deshalb ihre Formstabilität voraus, einen Zustand permanenter Zugspannung, der trotz unterschiedlich gerichteten Beanspruchungen wie Schnee oder Windsog gewährleistet bleibt. Dieser Zustand lässt sich nur über Vorspannung mit Hilfsmitteln künstlich erzeugen, da die stabilisierenden ständigen Einwirkungen einer Folie  –  etwa ihr geringes Eigen­gewicht  –  vernachlässigbar sind. Das Hilfsmittel kann Luftdruck senkrecht zum Stoff sein, wie bei den pneumatischen Tragwerken, oder vorgespannte Seile, die punktuell oder linienförmig am Stoff ziehen.

Statt sich mit den Tücken von Textilien auseinanderzusetzen, lassen sich manche Architekten und Ingenieure eher von den raumbildenden Qualitäten des Stoffs inspirieren als vom Material selber. Sie übersetzen die Effizienz von Membrantragwerken in andere Baustoffe und können die Probleme der Formstabilität so raffiniert umgehen.

Hochwertig konfektioniert

Im Bauwesen war der Einsatz von Stoffen lange Zeit eingeschränkt. Membranen pflanzlichen oder tierischen Ursprungs sind witterungs- oder lichtempfindlich. Wegen ihres Kriechverhaltens und der geringen Zugfestigkeit lässt sich keine dauerhafte Vorspannung einbringen, die ihre Formstabilität gewährleisten würde. So bilden die ursprünglichen Stofftragwerke – Baldachine und Zeltblachen – eine schlaffe Haut, die regelmässig durch eine Unterkonstruktion abgestützt werden muss und unter Wind gelegentlich ins Flattern kommt.

Ausschlaggebend für den Durchbruch der raumbildenden Tragwerke aus Stoff war die Entwicklung der synthetischen Folien ab Ende der 1960er-Jahre. Im Bauwesen bestehen diese in der Regel aus einem Gewebe (Polymer- oder Glasfaser), das mit einer Haut aus Plasto­meren (PVC, ETFE, PTFE) beschichtet wird. Während das Gewebe der Folie ihre Festigkeit und Elastizität verleiht, stellt die Beschichtung eine wasser- und schmutz­abweisende, UV-beständige Schicht dar, die eine Lebens­dauer von 20 bis 50 Jahren ermöglicht. Noch wichtiger: Die leistungsfähigen Folien können mit Vorspannverfahren kombiniert werden, um dauerhafte, formstabile Tragwerke mit grösseren Spannweiten zu bilden.

Nach 50 Jahren reger Bautätigkeit hat sich um diese Prinzipien eine eindrucksvolle Grammatik der Form- und Raumsprache entwickelt. Allerdings bleibt das Formenvokabular auf die antiklastisch und synklastisch gespannten Flächen beschränkt, die sich auch noch selten miteinander kombinieren lassen.

Antiklastisch gezerrt

Bei den antiklastischen, gegensinnig gekrümmten ­Flächen befindet sich jeder Punkt der Membrane auf der Kreuzung einer konkaven und einer konvexen Haupt­achse. Solche Flächen sind besonders formstabil, da sämtliche Auslenkungen aus der Ebene Zugspan­nungen in einer der Hauptachsen verursachen. Die Vor­spannung wird vorzugsweise in der Ebene durch eingenähte Randseile erzeugt. Antiklas­tische Flächen können aneinandergereiht werden und Öffnungen integrieren, indem Rahmenbedingungen wie Maste, Ring­auflager, Kehl- und Gratseile hinzugefügt werden. Auf diese Weise wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Grundrisse mit beachtlichen Weiten überspannt.

Synklastisch aufgeblasen

Bei den synklastischen, gleichsinnig gekrümmten Flächen befindet sich jeder Punkt der Membran auf der Kreuzung zweier konvexer Hauptachsen. Das Gleichgewicht solcher Flächen wird nicht durch Vorspannung in der Ebene erreicht, sondern durch Kräfte gewährleistet, die nach aussen gerichtet den Membranzug aktivieren. Das ist das Prinzip von pneumatischen Konstruktionen, bei denen Form und Stabilität durch einen permanenten Überdruck im Innenraum erzeugt werden, der von entgegengerichteten Kräften wie etwa Schneedruck nie getilgt werden darf.

Die Grösse dieses Innenraums reicht von der wenige Quadratmeter grossen Zelle eines ETFE-Kissens bis hin zur Traglufthalle, die ein Fussballfeld umfasst. Um grössere Spannweiten bei gleichbleibender Höhe zu ermöglichen, müssen die Krümmungsradien der Membran klein gehalten werden. Der Pneu wird dann in kleinere Felder mit geringeren Krümmungsradien unterteilt. Dies kann punktuell durch im Boden verankerte Zugseile mit Pilzkopf erfolgen oder linear mittels gespannten Kehlseilen in der Membran­ebene. So entstehen auch mit synklastisch geformten Flächen unterschiedliche raumbildende Tragwerke.

Das Tabu des Faltens

Die bisher dargestellten Ansätze setzen die Formstabilität als statische Rahmenbedingung voraus und wagen daher nicht von der straff gespannten Haut abzuweichen. Das Falten, Raffen und Knittern mag in der Haute Couture seinen Reiz haben, doch bei den raumbildenden Tragwerken aus Stoff wird es mit allen Mitteln vermieden: Schlaffe Bereiche, dynamische Schwingungen, grosse Verformungen, gar Kollaps wären die Folgen solcher Eskapaden. Leider sind Faltungen eine Rand­erscheinung beim Bauen mit selbsttragenden Stoffen: Man sieht sie nur im Montagezustand oder während sich Schirmdächer und Velakonstruktionen entfalten. Sobald sie ausgewickelt werden und funktionstüchtig sein müssen, nehmen sie ihre charakteristische, gespannte Form an.

Netzstrümpfe aus Stahl

Es gibt jedoch Auswege aus dem Formenkorsett, das dem Prinzip der Formstabilität durch Vorspannung innewohnt. Wenn der Stoff auf seine tragende Eigenschaft als Membran reduziert wird – also dem Prinzip der Leichtbauweise treu bleibt, jedoch mit anderen ­Materialien umgesetzt wird –, dann öffnen sich ungeahnte räumliche Möglichkeiten, und es entstehen überraschende Tragwerke.

Am naheliegendsten sind die Seilnetzkonstruktionen, die direkt mit den Stoffkonstruktionen verwandt sind. Das Geflecht aus gebündelten Stahllitzen wirkt statisch als Membran. Statt des Gewebes aus Schuss- und Kettfäden werden isometrische, grobmaschige Netze mit drehweichen Knoten konstruiert. Ein wesentlicher Vorteil gegenüber dem Gewebe, denn dank der freien Verzerrung von rechteckigen Maschen zu Rauten lassen sich ebene Seilnetze ohne Zuschnitt zu zweifach gekrümmten Flächen formen. Dank der Ausführung in Stahl können deutlich grössere Spannweiten umgesetzt werden.

Mit dem Institutspavillon in Stuttgart (1966) schaffte der Architekt Frei Otto den Übergang vom tragenden Stoff zum Seilnetz. Beim Pavillon in Montreal (1967) dienten ihm Folien noch als aufgehängte, sekundäre Bauteile. Beim Dach des Münchner ­Olympiastadions (1972), das Frei Otto zusammen mit dem Ingenieur Fritz Leonhardt errichtete, wurde die Hülle gänzlich mit Acrylglaspaneelen bedeckt und optisch entmaterialisiert.

Das moderne Zeltdach kommt also ohne Stoff aus, kann die Verwandtschaft mit ihm aber nicht leugnen. An dieser Stelle sei auch auf die Vorgänger der Seilnetze aus Eisen hingewiesen. Für eine Ausstellung in Nischni Nowgorod errichtete der Ingenieur Vladimir Schuchow 1896 eine Rotunde mit einem ringförmigen Hängedach aus kreuzweise verlaufenden, zusammengenieteten Bandeisen. Leider hat dieses Bauwerk die Zeit nicht überdauert.

Baldachine aus Beton

In den 1960er-Jahren entstanden statisch und formal überzeugende Hängedächer aus Spannbeton. Hier ist insbesondere das Dach des Theaters Basel zu erwähnen: Der Ingenieur Heinz Hossdorf und die Architekten Schwarz und Gutmann suchten eine explizite Analogie zum Baldachin (vgl. TEC21 43/2014 und %%gallerylink:31394:Abb.%%). Mit dem plastisch formbaren Material Beton erlaubten sie sich sogar Faltungen der stark ­beanspruchten Membran, die in Oberlichtern an der Fassade mündeten.

Aus statischer Sicht waren die ­Faltungen heikel, da sich die Zugkräfte tendenziell in den verti­kalen Betonscheiben konzentrieren und sich schlaffe Bereiche im Hängedach bilden – wie zwischen punk­tuell gehaltenen, gespannten Stoffen. So wird die ­dünne Betonplatte örtlich auf Biegung beansprucht, der sie nur bedingt standhalten kann. Solche formale Abweichungen vom reinen Hängedach bleiben bis ­ heute eine Randerscheinung.

Reiz der Metapher

Der 1998 errichtete Pavillon von Ingenieur Cecil Balmond und Architekt Álvaro Siza in Lissabon zeigt eindrücklich, wie der Spannbeton durch metaphorische Annäherung das Wesen des Stoffs sublimieren kann: Ein solches Hängedach könnte aus dynamischen Gründen nie aus Stoff erstellt werden. Dass hier aber ein Material zum Einsatz kommt, das weder leicht noch in sich zugfest ist, widerspricht unserer Intuition. Zudem wird das Prinzip der formstabilisierende Vorspannung neu interpretiert: Statt Zug- wird dem Beton eine künstliche Druckkraft zugefügt, weil eine überdrückte Betonplatte biegesteif ist und Zugkräfte aufnehmen kann.

Die Masse des Materials wirkt sich vorteilhaft aus, da sein Eigengewicht nie von abhebenden Kräften wie etwa Windsog übertroffen wird. Auf die zusätzliche Vorspannung durch antiklastische Formgebung kann hier verzichtet werden. So gelingt dem schlichten Baldachin ein beachtlicher Massstabssprung, ohne dass er die Poesie seiner ursprünglichen Form verliert.

Stoff in der Form von synthetischen Folien hat einen eigenen Platz als raumbildendes Tragwerk in der gebauten Umwelt eingenommen. Die stofflichen Eigenschaften und der Massstabssprung vom Kleid zum Bauwerk lassen sich aber auch mit anderen Materialien bewältigen – wenn nicht gar besser.


Weiterführende Literatur:
Michael Seidel: Textile Hüllen. Bauen mit biegeweichen Tragelementen. Berlin 2008.
Diether S. Hoppe: Freigespannte textile Membrankonstruktionen. Wien 2007.
Walter Scheiffele et al.: Das leichte Haus. Utopie und Realität der Membranarchitektur. Dessau 2015.
Winfried Nerdinger et al.: Frei Otto. Das Gesamtwerk: Leicht bauen – natürlich gestalten. Basel 2005.

TEC21, Fr., 2017.10.06

06. Oktober 2017 Thomas Ekwall

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