Editorial

In unserer 17-jährigen Tätigkeit sind wir – höchst unverdienterweise – nicht gerade mit Preisen überhäuft worden, was möglicherweise auch daran liegt, dass wir uns nie um Auszeichnungen beworben haben. Heute dürfen wir uns aber endlich selbst gratulieren: Wir haben nämlich einen Preis gewonnen und zwar für das urbanize!-Festival. Für diesen haben wir uns freilich auch nicht beworben, ihn aber trotzdem bekommen – nämlich den Kleinen Staatspreis für ... nein falsch: den Förderungspreis der Stadt Wien für Architektur. Dieser Architekturpreis ging bisher ausschließlich an echte ArchitektInnen, aber wir fragen lieber nicht nach, sondern freuen uns über den Einzug eines erweiterten Architekturbegriffs, stellen schon mal den Champagner kalt und fühlen uns ein klein wenig wie das Architekturkollektiv Assemble, das 2015 den wichtigsten britischen Kunstpreis – den Turner-Preis – gewonnen hat und deren Werk gerade in einer Ausstellung im Architekturzentrum Wien zu sehen ist. Wir haben die Gelegenheit genutzt und mit Maria Lisogorskaya und Lewis Jones von Assemble ein Gespräch über ihre Arbeiten, Herangehensweisen und Ideen geführt, das ab S. 18 dieser Ausgabe zu lesen ist.

Damit wären wir nach dieser höchst eleganten Überleitung bei der vorliegenden Ausgabe gelandet: Sie ist ein Sampler, hat also keinen Schwerpunkt, sondern bietet eine Reihe unterschiedlicher urbaner Themen. Diese reichen – abgesehen vom Assemble-Interview – von der Wohnraumversorgung und der aktuellen Situation am Wohnungsmarkt in Wien und in Berlin über die antiurbanistische Main-Street-Nostalgie in den USA des Donald Trump, den immer beliebteren, aber nichts desto trotz falschen Vergleich von Städten mit Computern, Wagenplätze und informelle Siedlungen in Berlin bis zu – es ist Sommer! – einer kleinen Geschichte des Badens in der Donau bei Wien.

Sowohl die Wiener als auch die Berliner Bevölkerung ist in den letzten Jahren massiv gewachsen, die Nachfrage nach Wohnraum parallel dazu stark gestiegen. Andrej Holm für Berlin und Justin Kadi für Wien kommentieren die aktuelle Lage in den boomenden Hauptstädten. Holm sieht in Berlin einen »Mix aus demographischen Veränderungen, veränderten Investitionsstrategien und einem Kahlschlag der sozialen Wohnungspolitik« dafür verantwortlich, dass es »nicht nur zu drastischen Mietsteigerungen« gekommen ist, »sondern zu einer tatsächlichen Wohnungsnotlage mit einem Mangel an allem, was die Wohnungsversorgung einer Stadt braucht.«

Für Wien diagnostiziert Justin Kadi eine steigende Wohnkostenbelastung und eine zunehmende Verdrängung in periphere Lagen. Eine der Ursachen sieht er in der Deregulierung des Mietrechts im Jahr 1994, die sich aktuell besonders stark auswirkt.

Eine der Folgen der Wohnungsnot sind informelle Siedlungen. Niko Rollmann portraitiert die diesbezügliche Situation in Berlin. Diese ist einerseits von etablierten Orten – überwiegend Wagenplätzen – gekennzeichnet, die von den Behörden meist geduldet werden, und andererseits von wilden Lagern bzw. so genannten Spots, bei denen kein alternativer Lebensentwurf, sondern die nackte Not Grund für die informellen Wohnverhältnisse sind.

Frank Eckardt hat sich den US-amerikanischen Mythos der Main Street speziell unter den neuen politischen Verhält- nissen angesehen. Trumps WählerInnen sind überproportional oft außerhalb der Großstädte zu finden und lassen sich von ihrem Hero gerne erzählen, wie schrecklich kriminell und chaotisch es in den Inner Cities zugeht. Mit verklärtem Blick sehnen sie sich ins Zeitalter der kleinstädtischen Main Street zurück, in dem angeblich noch alles gut war. Währenddessen blicken Konzerne wie Alphabet (formerly known as Google) nicht in die Vergangenheit, sondern in eine gewinnträchtige Zukunft, wenn sie nach Lösungen für die von ihnen diagnostizierten städtischen Probleme suchen. Wobei sie eigentlich gar nicht suchen, denn sie meinen zu wissen, dass mit ausreichend Daten die Verkehrsproblematik ebenso zu bewältigen wie eine effiziente Verwaltung zu garantieren und obendrauf noch das Gesundheits- und Wohnungswesen auf Vordermann zu bringen sei. Shannon Mattern weist in ihrem Beitrag für diese Ausgabe nachdrücklich darauf hin, dass es ein Irrweg ist, die Stadt wie einen Computer zu denken, und zu meinen, mit automatisierter Informationsverarbeitung der urbanen Komplexität gerecht werden zu können.

Passend zur aktuellen Hitzewelle mit über 30°C erzählt Rafael Kopper in seinem Beitrag die Geschichte des öffentlichen Badens in der Donau bei Wien und zeigt wie sie vom »mitunter gefährlichen Nutzgewässer zum beliebten Freizeitziel« wurde. Er schreibt über frühe Aneignungsprozesse der Bevölkerung, den entsprechenden Reaktionen der Politik und der Institutionalisierung der Bedürfnisse der WienerInnen.

Quasi auf Auszeit hat sich auch Manfred Russo befunden, der nach einem guten Jahr Pause mit einer neuen Folge der Geschichte der Urbanität zurückkehrt und sich zum dritten Mal Henri Lefebvres Theorien zur Produktion des Raumes widmet. Das Kunstinsert stammt vom in Wien lebenden Künstler Aldo Giannotti, dessen wunderbare Zeichnung für dérive sich um das Thema Demolition dreht.

Und dann steht auch noch das bereits 8. urbanize! Festival vor der Tür: DEMOCRACitY – Demokratie und Stadt begibt sich von 6.10.–15.10.2017 auf Erkundungsreise durch Theorie und Praxis einer umfassenden (Re-)Demokratisierung der urbanen Gesellschaft: Vom Versuch Stadt gemeinsam zu entwickeln und den von Barcelona ausgehenden Impulsen eines neuen Munizipalismus, über die Verteilung von Rechten und Möglichkeiten mittels Urban Citizenship- und Spatial Justice- Ansätzen, bis zu Chancen und Gefahren für die demokratische Aushandlung durch die Digitalisierung. Wie immer als volle 10-Tages-Packung mit Vorträgen, Diskussionen, Filmen, Stadtspaziergängen, Workshops und Interventionen. Da hilft nur Kalender zücken und Zeit frei schaufeln: Programm-Details gibt es ab Mitte August 2017 auf www.urbanize.at.

Einen schönen Sommer wünschen Elke Rauth und Christoph Laimer

Inhalt

01
Editorial
CHRISTOPH LAIMER, ELKE RAUTH

04 — 08
TRUMP on Main Street
FRANK ECKARDT

09 — 13
Wie das MIETRECHT die MIETEN treibt und was die POLITIK unternimmt Ein Kommentar zur Lage
am Wiener Wohnungsmarkt
JUSTIN KADI

14—17
Mehr LICHT als SCHATTEN
Berliner Wohnungspolitik in Rot-Rot-Grün
ANDREJ HOLM

18 — 22
LERNEN und VERSTEHEN
Das Londoner Architekturkollektiv Assemble im Gespräch
ANDRE KRAMMER, CHRISTOPH LAIMER

23 — 27
Wagenburgen, Hüttendörfer und SPOTS Informelle Siedlungen in Berlin
NIKO ROLLMANN

28—31
WIEN im WASSER IMPRESSUM Kleine Geschichte vom Baden in der Donau
RAFAEL KOPPER

32—36
Kunstinsert Aldo Giannotti
demolition

37 — 45
A CITY is NOT a COMPUTER
SHANNON MATTERN

46 — 50
Geschichte der Urbanität, Teil 52
Henri Lefebvre, Teil 8. Die Produktion des Raumes 3 Raum und Körper, Energetik und Spiegelung
MANFRED RUSSO

51 — 60
BESPRECHUNGEN
Der Schwedenplatz und die Raumbildung gesellschaftlicher Verhältnisse S.51
Die schulische Vermittlung
kritischen (Raum-)Denkens S.52
Das gute Leben wagen S.53
»Nein zur Verführung des Publikums« S.54 Urbane Gärten als Schule demokratischer Konfliktkultur S.55 Menschenwerkstatt S.56
Probierpferd und Sodabrunnen S.58
Ganz Wien S.59
Journal der Bilder und Einbildungen S.60

68
IMPRESSUM

Der Schwedenplatz und die Raumbildung gesellschaftlicher Verhältnisse

Wien ist aus städtebaulicher Perspektive nicht gerade für seine Plätze berühmt. Der Karlsplatz ist bekanntlich eher eine Gegend als ein Platz, so urteilte angeblich zumindest Otto Wagner. Den Rathausplatz bekommt man als solchen kaum einmal in den Blick, weil darauf mehr oder weniger ganzjährig irgendwelche Events stattfinden. Der Reumannplatz fällt auch eher in die Kategorie Gegend. Der Yppenplatz hätte räumlich zwar das Potenzial zur Piazza, ist aber mittlerweile ein einziger Gastgarten. Der Praterstern ist eine Verkehrshölle, was ein Drama ist, denn der Platz hätte ungeheures Potenzial für einen fantastischen Ort.

Ein weiteres Drama ist die mediale Berichterstattung über die Wiener Plätze: Sowohl der Karlsplatz und der Praterstern als auch der Schwedenplatz werden oder wurden teils jahrelang als gefährliche Orte gebrandmarkt, weil sich dort Menschen aufhalten, die den herrschenden Vorstellungen wie man auszusehen hat, sich zu benehmen hat, was man zu konsumieren hat und wie man seine Freizeit zu verbringen hat, nicht entsprechen. Die medial erzeugten Bilder verfestigen sich vor allem bei den Menschen, die die Plätze gar nicht kennen oder nutzen und haben immer wieder zu baulichen oder sicherheitspolitischen Maßnahmen geführt, die die Verdrängung unerwünschter Bevölkerungsgruppen zur Folge hatten.

Der Schwedenplatz, dem die vorliegende Publikation gewidmet ist, ist inso- ferne für Wien typisch, als auch er nicht der Vorstellung eines Platzes entspricht, hat man einen klassischen italienischen Platz als Vorbild vor Augen. Auch er wurde jahrelang als Angstraum beschrieben, was sich irgendwann tatsächlich in den Köpfen festgesetzt hat, obwohl er diesbezüglich in der jüngeren Vergangenheit sein Topranking an den Praterstern abgeben musste.

Den Schwedenplatz überhaupt als Platz wahrzunehmen, ist schon schwierig. Die Grenze zum Morzinplatz ist räumlich nicht wahrzunehmen und der angrenzende Franz-Josefs-Kai entspricht nicht dem klassischen Abschluss eines Platzes – vielmehr war der Schwedenplatz ursprünglich nicht mehr als eine Erweiterung des Kais. Die langgezogene Form des Schwedenplatzes ebenso wie die vielen Kioske, U-Bahn- sowie Parkgaragenauf- und abgänge, Entlüftungsschächte, der Busparkplatz und die Straßenbahnhalte- stellen verhindern das Raumgefühl, das ein klassischer Platz vermittelt. Seine heutige Form erhielt der Schwedenplatz erst in der Nachkriegszeit durch den Abriss einiger Häuser, die im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt worden waren.

Wenn der Schwedenplatz nicht durch seine städtebauliche Form punkten kann, so tut er das ganz sicher als lebendiger urbaner Ort. Kaum ein anderer Wiener Platz ist rund um die Uhr so bevölkert wie der Schwedenplatz. Das hat einerseits mit den beiden U-Bahn- und mehreren Straßenbahnlinien zu tun, die hier ihre Stationen bzw. Haltestellen haben, andererseits aber vor allem auch mit dem Umstand, dass in der Umgebung ein intensives Nachtleben herrscht und der Schwedenplatz die NachtschwärmerInnen 24/7 mit Fastfood und Getränken versorgt. Nicht zufällig war er ursprünglich auch Abfahrtsort aller Wiener Nachtbuslinien.

Rudi Gradnitzer hat sich für seine sozialräumliche Studie über den Schwedenplatz nicht eine Betrachtung des kompletten Platzes vorgenommen, sondern einzelne prototypische Aspekte ausgewählt. Das sind einerseits Gebäude: der Gemeindebau Georg-Emmerling-Hof, das Hotel Capricorn, der Raiffeisen-Tower und andererseits die Wiener Verkehrsbetriebe und die visuelle Kommunikation am Schwedenplatz und am angrenzenden Donaukanal.

In seiner Studie geht es dem Autor »um die Dechiffrierung von architektonisch gestützten Machtstrukturen und historischen Prägungen am Beispiel des Schwedenplatzes. [...] In diesem Sinne ist die Untersuchung als kritischer Beitrag zum besseren Verständnis des Bestehenden zu lesen«, und weiter sich auf Adorno berufend, »mit dem ausdrücklichen Ziel seiner Beseitigung«. Zu diesem Zwecke bedient sich Gradnitzer bei Henri Lefebvre, der in seinen Schriften zu Stadt und Raum immer hervorhob, dass Raum nicht einfach exis- tiert, sondern dass er produziert wird. Lefebvres Modell der Triade folgend, untersucht Gradnitzer jeweils den konzi- pierten, den materiellen und den gelebten Raum, was sich als sehr fruchtbarer Ansatz erweist. Neben diesem zwar in der Theorie in Stadtforschungskreisen mittlerweile weithin bekannten, aber praktisch eher selten angewandten Modell, ist die Breite der für die Studie verwendeten Literatur als besonders bemerkenswert hervorzuheben. Sie umfasst architekturhistorische ebenso wie zeitgeschichtliche, gesellschaftspolitische wie stadttheoretische, philosophische wie biographische Werke. Das führt beispielsweise dazu, dass im Kapitel über den im Roten Wien errichteten Georg-Emmerling-Hof nicht nur das Rote Wien und die österreichische Architekturgeschichte Thema sind, sondern – die Ansätze vergleichend – ebenso über die parallelen Entwicklungen in der Sowjetunion zu lesen ist. Superblock, Gartenstadt, Wohnhaus-Kommune und die Revolutionierung des Alltagslebens kommen ebenso vor wie der Umstand Erwähnung findet, dass das Parteilokal der SPÖ in den 1990ern geschlossen wurde und heute eher Graffiti als Anschläge mit Informationen den gelebten Raum ausmachen. Vermissen könnte man höchstens O-Töne von Bewohnern und Bewohnerinnen des Gemeindebaus.

Ein dem Autor besonders wichtiges Anliegen ist es, den nationalsozialistischen Anteil der österreichische Architekturgeschichte zu beleuchten und immer wieder auf die fließenden Übergänge von Karrieren im Nationalsozialismus zu solchen in der Nachkriegszeit aufmerksam zu machen. Das ist insoferne von Bedeutung, als das Bewusstsein dafür, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus nach wie vor Auswirkungen auf diese Stadt haben, viel zu wenig stark ausgebildet ist. Gradnitzer zeigt es am Beispiel des gebauten Schwedenplatzes und verweist – Friedrich Achleitner zitierend – darauf, dass 50 Prozent der an der Wiener Werkbundsiedlung beteiligten ArchitektInnen von den Nazis ermordet oder vertrieben wurden und dass diese die in der Zwischenkriegszeit fortschrittlichsten waren.

Ein weiterer Strang, der sich quer durch das Buch zieht und dem der Autor im Exkurs über visuelle Kommunikation mehrere Seiten widmet, ist die Auseinan- dersetzung mit Graffiti. Der Autor sieht darin weit mehr als eine künstlerisch-jugendkulturelle Ausdrucksform. Graffiti-Writer bezeichnet er als »die legitimen Verteidiger des konkreten, gelebten, sozialen Raumes, die Mittels Dérives und direkten, farblichen Eingriffen den öffentlichen Raum beleben und dem Urbanismus im Sinne von Stadt- und Raumplanung, Architektur und Sozialmanagement entgegentreten«.

Insgesamt gelingt dem Autor in dem mit knapp 200 Seiten nicht ausufernden Band eine exemplarische und dichte Auseinandersetzung mit dem Schwedenplatz, die trotz der Fülle an Ausführungen gut lesbar ist und viele Tipps für die eigene Leseliste enthält. Wer den Schwedenplatz allerdings gar nicht kennt, sollte ihn dennoch auf jeden Fall selber besuchen, um seine Atmosphäre kennenzulernen; am besten tagsüber und in der Nacht – für Speis und Trank ist gesorgt.



Rudi Gradnitzer
Schwedenplatz. Das Flachdach unter den Wiener Plätzen Wien: bahoe books, 2016
216 Seiten, 16,80 Euro

dérive, Fr., 2017.07.07

07. Juli 2017 Christoph Laimer

Die schulische Vermittlung kritischen (Raum-)Denkens

Auf der 1929 veröffentlichten surrealistischen Weltkarte von Yves Tanguy folgen die Größen- und Lageverhältnisse der Landmassen nicht einer geometrischprojektiven Logik, sondern einer subjektivkünstlerischen Strategie, um eurozentrische Machtverhältnisse zu kritisieren. Auch Guy Debords psychogeographischer Plan von Paris dekonstruiert 1957 die Karte als Abbild der Wirklichkeit. Manifestationen der Kritischen Kartographie lösen seit Jahren Debatten über die gesellschaftliche Verantwortung der Geographie aus. Konventionen zu hinterfragen ist heute eine etablierte Strategie in der wissenschaftlichen Kartographie. Jedoch gerade in der Schule, wo Kinder und Jugendliche lernen, sich in der Gesellschaft und in ihren Räumen zu orientieren, scheint dieser Paradigmenwechsel nur verzögert anzukommen.

In ihrer Dissertation, die kürzlich unter dem Titel Urbanes Räumen erschienen ist, widmet sich die Autorin Romy Hofmann der wichtigen Rolle von Schulgeographie als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Sie analysiert den fachlichen und bildungspolitischen Diskurs zu Raumparadigmen im deutschsprachigen Raum, rekapituliert die theoretischen Grundlagen von Raumbegriffen und geht auf den Stand der Forschung zum Themenkomplex Raum, AkteurInnen, Aneignung und Konstruktionen ein. Die Arbeit untersucht das Verhältnis von Raum und Gesellschaft und beschäftigt sich mit der Frage, wie die differenzierte Beschreibung von Räumen nach physischen, strukturellen, subjektiven und konstruktivistischen Aspekten als Unterrichtsprinzip genutzt werden kann.

Konkret interessiert die Autorin, wie im Geographieunterricht den SchülerInnen kritisches (Raum-)Denken vermittelt werden kann. Hierbei ortet sie ein Potenzial für die Geographiedidaktik in den Thesen der Neuen Kulturgeographie, in der Räume über die Handlungen von Subjekten als Konstrukte erklärt werden. Aus diesem Ansatz entwickelt Romy Hofmann im Rahmen einer Fallstudie ein subjekt- und handlungsorientiertes Unterrichts-Setting, das die Perspektive von Jugendlichen mit einbezieht und diese ermuntert, sich über Wirklichkeiten auszutauschen und diese gemeinsam zu hinterfragen.

Im beschriebenen Unterrichtsprojekt sammeln SchülerInnen über Handlungen im (öffentlichen) Raum Erfahrungen von Macht und Ohnmacht bei der Raumpro- duktion. Anhand von Gruppendiskussionen, die nach der Dokumentarischen Methode analysiert werden, arbeitet die Autorin vier Schülertypen heraus: tradierend, emanzipierend, konventionalisierend und opponierend. Diese sollen vor allem die Hypothesenbildung zum Umgang Jugendlicher mit Raum erleichtern. Die Abgrenzung unterschiedlicher Typen ist zwar methodisch reizvoll, jedoch stehen die abgeleiteten typischen Verhaltensmuster in einem gewissen Widerspruch zur Diversität von Jugendgeographien. Erst in der Zusammenfassung wird das methodische Dilemma zwischen Subjektzentrierung und normierter Wissensvermittlung in der Institution Schule angesprochen.

Auf jeden Fall eröffnet das Buch interessante Perspektiven für zukünftige Forschung. Insbesondere wäre es spannend der Frage nachzugehen, wie das Prinzip der Multiperspektivität durch Einbeziehung künstlerischer Praktiken in den Geographieunterricht in der Schule vermittelt werden könnte. Es bedarf allerdings methodischer Offenheit und der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel auch und gerade bei den Lehrenden, um über geographische oder künstlerische Methoden zu einem aufgeklärten kritischen Umgang mit dem Thema Raum in der Gesellschaft zu gelangen.


Romy Hofmann
Urbanes Räumen – Pädagogische Perspektiven auf die Raumaneignung Jugendlicher
Bielefeld: transcript, 2015
268 Seiten, 36 Euro

dérive, Fr., 2017.07.07

07. Juli 2017 Antje Lehn

4 | 3 | 2 | 1