Editorial

Aufgrund ihrer zahlreichen Tunnel wird die Schweiz gern mit einem durchlöcherten Emmentaler ver­glichen. Leider sind ihre Gesteine nicht immer so homogen und gut bearbeitbar wie ein Käselaib. Sind die Löcher mit Glarner Schabziger gefüllt, kann sich das Durchbohren recht mühsam gestalten.

Diese Modellvorstellung kommt der Durchörterung des sogenannten Mörtalbruchs beim Bau des Pumpspeicherwerks Limmern recht nah. 40.3° steil aufgestellt musste die Tunnelbohr­maschine durch die problematische Zone.

Aufgestellt waren letztlich auch die Mineure nach erfolgreichem Durchbruch. Überhaupt die Tunnelbauer: Geht es ihrer Maschine richtig schlecht, ist sie angespannt, dreht sich ihr der Kopf und muss sie ständig brechen, dann ist die Freude am grössten. Immerhin, manchmal ­stellen sie ihre TBM gentlemanlike unter einen (Rohr-)Schirm.

2017 geht nun Limmern in Betrieb. Ein Projekt der Superlative mit Rekorden, die manchmal gut klingen, aber nicht immer erstrebenswert sind: «die längste Staumauer der Schweiz» etwa. Aus Kosten- und Umweltgründen wäre die kürzeste Mauer besser, aber die Topografie hat eben auch noch mitzureden. «Die längste Unternehmens­anleihe am Schweizer Kapitalmarkt»: ein Rekord, mit dem die Anleger derzeit ihre liebe Mühe ­haben. Ist doch nicht gewiss, ob oder wann sich das Projekt rechnen wird. Aber davon abgesehen: Im Hochgebirge moderne Drachen erwachen zu lassen, ist schon eine sagenhafte Leistung.

Peter Seitz

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Schöne Aussichten

13 PANORAMA
Risikoanalyse in Tunneln | Tunnelbrände in der Statistik | Where have all the flowers gone? | Verinnerlichte Offenheit | Eine Möbelgeschichte

22 VITRINE
Tunnelbau- und Vermessungsspezialisten

24 SIA
Mehr als Gestaltung: Öffentliche Plätze 4.0 | Gebäudeschutz Naturgefahren: Neue Module | Normentwurf prSIA 281 | SIA-­Anliegen konstruktiv vertreten

28 VERANSTALTUNGEN

THEMA
30 LINTH-LIMMERN
Die Drachen erwachen

30 VEREDELTES ELIXIER
Peter Seitz
Die neue Staumauer verwandelt den Muttsee in Europas höchstgelegenen Stausee.

34 AUF BOHREN, BIEGEN UND BRECHEN DURCH DEN BERG
Peter Seitz
Ein neuer Kraftort der Schweiz: Das Pump­speicherwerk Limmern liegt unsichtbar im Berginnern.

39 UNGETÜME UNTER TAGE
Peter Seitz
Vier Asynchron­maschinen, die grössten ihrer Art in der Schweiz, bilden das 1000-MW-Herz des Pumpspeicherwerks Limmern.

AUSKLANG
41 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Veredeltes Elixier

(SUBTITLE) Stausee Muttsee

Bergseen werden oft als Edelsteine in der Alpenlandschaft bezeichnet. Wie Juwelen werden sie wertvoller, je grösser sie sind. Die längste Staumauer der Schweiz vergrössert den Muttsee nun zu einem hochkarätigen Schatz.

Höhenlage und nutzbares Wasservolumen sind die Zauberwörter, die bei der Wasserwirtschaft die Augen feucht werden lassen. Zusammen ergeben diese beiden Faktoren potenzielle Energie, die über Turbinen und Generatoren in Strom umsetzbar ist. Im Fall des Muttsees war die Höhenlage schon üppig, lag sein Wasserspiegel vor dem Aufstau doch auf 2446 m ü. M. Die Talsohle im Talschluss bei Tierfehd liegt nur noch auf 803 m ü. M., reichlich Potenzial also für die Stromgewinnung. Beim Wasservolumen half die Axpo als Nutzerin des Wassers mit einer neuen Staumauer etwas nach. Die Mauer ist mit ihrer Länge von 1054 m die längste der Schweiz und die höchstgelegene Europas. Sie erhöht nun den Inhalt des Muttsees von 9 auf 23 Millionen Kubikmeter.

Beton statt Steine

Die Gewichtsstaumauer mit dem markanten Knick, die sich an die frühere Form des Muttsees anschmiegt, war nicht von Beginn an so gedacht. Anfängliche Pla­nungen zum Aufstau des Sees gingen noch von einem Steinschüttdamm aus. Dieser hätte jedoch aufgrund seines trapezförmigen Querschnitts eine bedeutend grössere Aufstandsfläche erfordert. Der nun umgesetzte dreieckige Querschnitt der Betonstaumauer vermindert den Flächenverbrauch der Stauanlage. Dadurch gelang es, mehrere kleine Seen und Lachen in der gewellten Landschaft der Muttenalp zu erhalten. Das Hochplateau Mutten mit seiner hochalpinen Flora und Fauna wurde im Zuge der Bauarbeiten sogar zur Schutzzone erklärt. Ein festgesetztes Weggebot für Wanderer und Bauarbeiter half, die Einwirkungen ausserhalb der Baustelle auf die ursprüngliche Alpenlandschaft zu minimieren.

Die Wahl einer Schwergewichtsmauer hat jedoch noch weiter reichende positive Aspekte auf die Umgebung. Für einen Schüttdamm hätte das Steinvolumen, das aus den Kavernen und Stollen der Kraftwerksanlage ausgebrochen wurde, nicht ausgereicht. Zur Gewinnung von Steinen für einen Damm wären folglich ein oder mehrere Steinbrüche nötig gewesen. Die grösseren Mengen an zu verarbeitendem Material hätten bedeutend grössere Deponieflächen nach sich gezogen. Somit stellte die Staumauer mit ihrem Betonvolumen von etwa 250 000 m³ die ökologisch besser ­verträgliche Lösung dar.

Bis die Staumauer wie aus einem Guss dastand, brauchte es eine Bauzeit von drei Jahren, wobei nur in den Sommerperioden gearbeitet werden konnte. Aufgrund des hochalpinen Klimas ruhten die Arbeiten im Winterhalbjahr. Beim Bauablauf sind drei zeitliche und räumliche Abschnitte zu unterscheiden: 2012 entstand der westliche, im Jahr darauf der östliche Teil der Mauer mit der integrierten Hochwasserentlastungsanlage. Der Lückenschluss erfolgte im Herbst 2014.

Block für Block – im Pilgerschritt

Innerhalb der einzelnen Abschnitte wurde die Mauer blockweise erstellt. Ein Mauerblock hatte je 15 m Länge, sodass 68 Blöcke für die gesamte Staumauer nötig waren. Gebaut wurden sogar 69 Blöcke – ein Block ­musste teilweise rückgebaut und neu errichtet werden, da er partiell eine ungenügende Betonqualität aufwies. Die Errichtung der Blöcke im sogenannten Pilger­schrittverfahren – es wird zuerst jeder zweite Block betoniert, danach füllt man die dazwischenliegenden Lücken – bietet bautechnische und logistische ­Vorteile. Die Hydratationswärme, die beim Abbinden des Betons entsteht, kann gleichmässiger entweichen, und bereits erstellte Mauerblöcke dienen den dazwischenliegenden als seitliche Schalung. Aussparungen in den Seitenwänden der zuerst gebauten Blöcke, der sogenannten Vorläufer, sichern eine gute Verzahnung mit dem Nachläufer beim jeweiligen Lückenschluss. ­

Das abwechselnde Erstellen vereinfacht ausserdem ­die Arbeitsabläufe, da verschiedene Einsatzmannschaften nicht gleichzeitig am selben Ort mit beschränktem Platzangebot eingesetzt werden müssen.

Weiter Horizont, beengter Platz

Das Betonieren der einzelnen Blöcke erfolgte in Etappen von je 3 m Höhe. Die sechs jeweils einen halben Meter starken Betonschichten einer Etappe konnten somit in einer Zwölfstundenschicht erledigt werden. Bedurfte in den unteren Bereichen der Staumauer die entstehende Hydratationswärme des Massenbetons besonderer ­Aufmerksamkeit, ging es in den oberen, verjüngten Querschnitten eher aufgrund der beengten Arbeitsverhältnisse heiss her.

Die nur 4 m breite Mauerkrone der obersten Etappe liess wenig räumlichen und zeitlichen Spielraum für Maschinen und Arbeiter. Da der einzubringende Beton zügig zu erhärten begann, blieben für die Erstellung einer Schicht nur zwei Stunden Zeit, bevor mit der nächsten, oberhalb liegenden begonnen werden musste. Eine Verzögerung beim Einbau hätte sich negativ auf den Verbund der einzelnen Schichten ausgewirkt.

Schleifenförmig ausgelegte Kühlschläuche in den flächenmässig grossen unteren Staumauerbereichen senkten die Temperatur des Betons beim Abbindevorgang. Zu hohe Temperaturen im Kern des Bauteils hätten hohe Temperaturunterschiede zu den aussenliegenden Bereichen gezeitigt und die Gefahr von Rissbildungen erhöht. Auch der Zusatz von Flugasche wirkte sich günstig auf die Temperaturentwicklung des Mauerbetons aus.

Ausserdem erhöhte die Beimengung die Fliessfähigkeit und Verdichtbarkeit des Betons. Ein Nebenprodukt aus Verbrennungskraftwerken kommt so noch zu einem positiven Einsatz in der Wasserkraft.

Den Verbund der Betonoberflächen zwischen einzelnen Etappen gewährleistete der Einsatz von Hochdruckwasser. Mit diesem raute man die Oberfläche der bereits vorhandenen Etappe auf, sodass sich der Beton der nächsten Etappe gut verzahnen konnte.

Dichter Boden, partiell abgedichtet

Die Einbindung der Mauer in den Untergrund war etwas aufwendiger als die Oberflächenanpassung der einzelnen Etappen. Solider Fels stand zwar schon in einer Tiefe von etwa 2 m unter der Oberfläche an, allerdings waren im karstfähigen Gestein Klüfte und Störzonen vorhanden. Diese mussten mit einem Spezialbeton, einem sogenannten «dental concrete», zunächst abgedichtet ­werden, bevor anstehende Felsunebenheiten mit Kontaktbeton ausgeglichen wurden. Erst anschliessend kam der eigentliche Massenbeton der Staumauer zum Einsatz.

Durch das untere Drittel der Mauer führt ein Kontrollgang, in dem Messungen zur Bauwerkssicherheit stattfinden. Sickerwassermengen etwa, Mauerverschiebungen, Verkippungen oder Druckmessungen können in diesem überwacht werden. Ein Injektionsschirm, der die Sickerwasserwege im Untergrund der Sperre verlängert, wurde ebenfalls aus dem Kontrollgang heraus verpresst. Dies macht das ganze System wasserundurchlässiger und erhöht die Standfestigkeit der Mauer zusätzlich.

Die bestehende Sohle des Muttsees weist eine praktisch wasserundurchlässige Gesteinsschicht auf. Auf­wen­dige, grossflächige Dichtungsmassnahmen konnte man sich somit ersparen. Die Planungen einer oberfläch­lichen Abdichtung mit Spritzbeton im neuen, vergrösserten Aufstaubereich am wasserseitigen Fuss der Staumauer konnten im Zuge der Bauarbeiten eingestellt werden. Eine detaillierte geologische Abklärung bestätigte nach Freilegung dieses Felsbereichs eine genügende Dichtheit des Areals.

Hochwasser: den Buckel hinunter

Auch die Hochwasserentlastung konnte mit wenig Aufwand bewerkstelligt werden. Über einen abgesenkten Abschnitt der Staumauerkrone gelangen Hochwasserabflüsse in eine Schussrinne auf dem Mauerrücken und in ein Tosbecken am Staumauerfuss. Die Auslegung der Entlastungsanlage setzt sich aus den Hochwasserabflüssen des sehr kleinen Einzugsgebiets des Muttsees und der zusätzlichen maximalen Pumpwassermenge von etwa 145 m³ zusammen. Redundante Seestandsmessungen des unten gelegenen Limmernsees und des Muttsees mit einer automatischen Absicherung im ­Leitsystem schliessen ein Überlaufen aufgrund des Pumpenbetriebs praktisch aus. Dank der felsigen Topo­grafie war ein Ausbau des Gerinnes unterhalb des Tosbeckens verzichtbar. Es konnte in seinem ursprüng­lichen Zustand belassen werden.

Rückgebauter Rekord, versinkende Logistik

Die Materialbewirtschaftung und deren Logistik hing sprichwörtlich an den Bauseilbahnen 1 und 2, die vom Talboden zum Chalchtrittli respektive vom Ochsen­stäfeli am Limmernsee zum Muttsee hinaufführten (vgl. Grafik S. 34). Mit Fertigstellung der Baumassnahmen wurden sie zwar rückgebaut, jedoch hält die untere Bauseilbahn 1 noch immer einen Weltrekord: Mit ihrer Nutzlast bis zu 40 t für Sonderlasten war sie die grösste Materialseilbahn der Welt. Bei vier möglichen Fahrten pro Stunde war sie enorm ausgelastet. Sämtliche Güter für den Staumauerbau und grosse Teile für den Untertagebau wie Zement, Gestein, Stahl, Maschinen und auch die Arbeitskräfte wurden mit den Seilbahnen zu ihrem ­Bestimmungsort hinaufbefördert. Allein für den ­Staumauerbau mussten etwa 100 000 t Zement und knapp 500 000 t Gestein die Luftreise antreten.

Die für die Materialien nötigen Deponie- und Aufbereitungsflächen lagen grösstenteils auf der Wasserseite der Staumauer. Sie versanken nach Rückbau des Betonwerks und der Gesteinsaufbereitungsanlagen zusammen mit den meisten Baustellenzufahrten unter dem Wasserspiegel des Sees – auch dies eine Form des Landschaftsschutzes.

Was für das Auge sichtbar bleibt, ist dem einen ein Dorn in selbigem, dem anderen, gemessen an den umgebenden Dimensionen der Glarner Alpen, ein Strich in der Landschaft – oder aber ein Diadem, das den Edelstein des Muttsees und sein nun veredeltes Elixier einfasst. Je nach Betrachtungsweise.

TEC21, Fr., 2017.05.12

12. Mai 2017 Peter Seitz

Auf Bohren, Biegen und Brechen durch den Berg

(SUBTITLE) Pumpspeicherwerk Limmern

Es ist das grösste Pumpspeicherwerk der Schweiz: Limmern, ein nahezu unsichtbares Vorzeigeobjekt mit einer gewaltigen Pumpenleistung von 1000 MW. Gewaltig war auch der Aufwand seiner Erstellung unter Tage.

Steigt ein Wanderer vom Talboden in Tierfehd zum Muttsee hinauf, sieht er, oben angekommen, im wahrsten Sinn des Wortes nur die (Staumauer-)Krone des aussergewöhnlichen Werks. Die anderen Superlative hat er beim Aufstieg schon unter die Füsse genommen, liegen sie doch tief im Innern des Bergs – oder sind, wie im Fall der Bauseilbahnen, bereits wieder abgebaut (vgl. «Veredeltes Elixier»). Es ist ein enormes Stollen- und ­Kavernensystem, das den Berg zwischen dem Talboden, dem Limmernsee und dem zuoberst gelegenen Muttsee durchzieht. Das Herz der neuen Anlage pumpt respektive turbiniert in der Kavernenzentrale, die 600 m im Berginnern und höhenmässig auf etwa 1700 m ü. M. knapp unter dem Limmernsee entstand.

Wandelbare Wasserwege

Das Wasser des Muttsees fliesst bei der Verstromung über das Einlaufbauwerk in den Oberwasserdruckstollen mit einem Innendurchmesser von 8 m zum Wasserschloss. Dieser 130 m hohe Schacht mit einem Durchmesser von 10.5 m vermindert Druckstösse in den Wasserleitungen, wenn die Verschlussorgane in der Schieberkammer respektive in der Kavernenzentrale betätigt werden. Das Schliessen eines Kugelschiebers vor einer Pumpturbine dauert unter voller Last 45 Sekunden. In dieser kurzen Zeitspanne wird der Durchfluss je Turbine von etwa 45 m³/s auf null heruntergefahren. Am Wasserschloss teilt sich der Abfluss auf zwei stahlgepanzerte Oberwasserdruckschächte auf. Diese verzweigen sich vor der Kavernenzentrale in vier Wasserstränge für die vier Pumpturbinen. Nach der Turbinierung fliesst das Wasser in den Limmernsee und kann von dort bei Bedarf in umgekehrter Richtung wieder in den Muttsee zurückgepumpt werden.

Kavernen im Kalk

Die Zentrale besteht aus der 149.9 m langen und 53 m hohen Maschinen- und der etwas kleineren Trans­formatorenkaverne. Der Abstand der beiden Kavernen und ihre abgebogene Lage zu den Oberwasserdruckschächten schulden sie vorhandenen Klüftungen im anstehenden Quintnerkalk.

Der Ausbruch erfolgte im Dreischichtbetrieb, an sieben Tagen in der Woche, von oben nach unten. Vom bereits erstellten Sondierstollen, der der Abklärung des anstehenden Gesteins diente, und vom bereits vorhandenen Zugangsstollen zur Limmernstaumauer, der an der Bergstation der Bauseilbahn am Chalchtrittli beginnt, wurde ein Zugang zu den zukünftigen Kavernen aufgefahren.

Sprengungen der Firststollen eröffneten die Arbeiten an den Kavernen. Nach der Sicherung mit Spritzbeton und 12 m langen Ankern ging man an den Ausbruch der Kalotten mit ihren ersten provisorischen Sicherungen. Vor dem eigentlichen Strossenabbau stellte man die definitive Sicherung der Kalotten her. 23 ringförmige, armierte Betonverkleidungen mit einer Stärke bis 1.20 m und einem Abstand von je 1 m bilden die Decke des ausgebrochenen Gewölbes.

Im Schutz der temporär an teilweise vorgespannten Stabankern aufgehängten Kalottensicherung konnte der Strossenabbau in 5 m hohen Etappen bis zur Sohle der Kavernen erfolgen. Zur ersten Sicherung der Seitenwände, der Paramente, zog man schlaffe, teilweise vorgespannte Felsanker, Armierungsnetze und Spritzbeton heran. Die Betonbauten der Maschinen­fundamente und der Wände sichern nun die Kavernenräume definitiv.

Radlader räumten das Ausbruchsmaterial der Kavernen, insgesamt etwa 244 000 m³ in einen Schutterschacht, der zu einer unterhalb gelegenen Brecheranlage führte. Ein Teil des ausgebrochenen Gesteins wurde im ebenfalls unterirdischen Betonwerk zur ­Herstellung der Betoneinbauten der Kavernen her­genommen. Beide Kavernen hatten immerhin einen ­Betonbedarf von etwa 85 000 m³. Der Grossteil des gebrochenen Gesteins gelangte aber auf Förderbändern zum Umschlag- und Deponieplatz am Ochsenstäfeli am Ufer des Limmernsees. Dort bereitete man das Gestein auf und lagerte es temporär ab, bevor es mit der Bauseilbahn 2 zum Staumauerbau am Muttsee hinauftransportiert wurde.
Steinerne Stollen, steile Schächte

Zeitgleich mit dem Bau der Kavernen wurde von Tier­fehd aus der Zugangsstollen 1 vorgetrieben, über den die jetzige Versorgung der Maschinenzentrale stattfindet. Der 3764 m lange Stollen mit einem Durchmesser von minimal 8 m wurde von einer Startkaverne am Talboden aufgefahren und weist eine Steigung von 24 % auf. Neben der Gefahr möglicher Wassereinbrüche
aus geöffneten Klüften im Karstgestein und der Querung eines Hauptkluft- und dreier Nebenkluftsysteme stellte der sogenannte Mörtalbruch ein grösseres Frage­zeichen für den Vortrieb dar. Beim Mörtalbruch handelt es sich um eine Störzone aus zerscherten Felspaketen, die von karstigen, mit Lehm und Sand gefüllten Klüften durchzogen ist.

Die Wahl zur Erstellung des Stollens fiel auf eine doppelt verspannte Tunnelbohrmaschine mit Rückfallversicherung. Dieser 160 m lange, 1500 t ­schwere Koloss bot sicherheitstechnische Vorteile. Im Schutz des Bohrkopfs konnten die Arbeiten im Bereich der geneigten Sohle auf ein Minimum beschränkt werden, was vor allem für den Fall eines plötzlichen Wassereinbruchs wichtig war. Auch eine Vorauserkundung des zu durchfahrenden Abschnitts mittels Schlagbohrungen, die durch den Bohrkopf hindurch geschehen konnten, und eine seismische Erkundung waren möglich. Mit einer maximalen Vortriebsleistung von 22 m pro Tag stellte der Vollausbruch eines solch grossen und steilen Stollens eine weltweite Einmaligkeit dar.

Eine zweite Tunnelbohrmaschine frass sich zeitlich parallel von der Maschinenkaverne mit sogar 85 % nach oben zur Schieberkammer. Zum Vergleich: Diese Steilheit von etwa 40° entspricht ungefähr der durchschnittlichen Neigung des Hörnligrats am Matterhorn. Hintereinander wurden die beiden je 1051 m langen Oberwasserdruckschächte ausgebrochen. Auch diese kleinere Maschine mit einem Durchmesser von 5.20 m und einem Gewicht von 800 t musste durch den Mörtalbruch und erlebte dort, im Gegensatz zur TBM im Zugangsstollen, kritische Momente.

Die Störzone des Mörtalbruchs war im Vorfeld der Bauarbeiten zwar bekannt, aufgrund der Gesteins­überdeckung war aber eine geologische Sondierung nicht möglich gewesen. Die Prognosen zur Ausdehnung der Störung schwankten daher zwischen 20 cm und 20 m. Da im bröseligen Mörtalbruch die Tunnelbohrmaschine nicht seitlich verspannt werden konnte, war sie für den Einbau eines Rohrschirms konzipiert worden. Ein Rohrschirm besteht aus Rohren, die über dem ­Bohrkopf der Tunnelbohrmaschine in Bohrrichtung nach vorn getrieben werden. Sie bilden einen Schirm, in dessen Schutz die Bohrmaschine das eigentliche ­Stollenprofil ausbrechen kann.

Trotz diesem Hilfs­mittel sank die Tunnelbohrmaschine im Mörtalbruch etwas ein und musste aufwendig stabilisiert werden. Mit ­Wochenvortriebsleistungen von bis zu 133 m ­konnten die Arbeiten an den Druckschächten jedoch gut ­beendet werden. Die übrigen Stollen, der Oberwasser- und die Unterwasserdruckstollen wurden konventionell im Sprengvortrieb erstellt.

Standseilbahn im Stollen

Alles andere als konventionell ist die Standseilbahn, die im Zugangsstollen 1 eingebaut ist. Mit ihrer maximalen Nutzlast von 215 t – dies entspricht fünfeinhalb voll geladenen Sattelzügen – reiht sie sich in die vielen Rekorde des Projekts Linthal 2015 ein: Sie ist die grösste Standseilbahn der Welt für Materialtransport.

Ihre beiden Bahnwagen verkehren auf demselben Gleis im Gegenverkehr, was eine Ausweichstelle im Tunnel nötig macht. Die immense Nutzlast der Bahn ist auf die schwersten Einzelbauteile des gesamten Kraftwerksprojekts ausgelegt: die Maschinentransforma­toren, deren Reiseziel die Transformatorenkaverne war. Aber auch die anderen Ausrüstungsteile, wie die Pumpturbinen, deren Spiralgehäuse oder etwa die ­Saug­rohre fanden ihren Bestimmungsort über die Standseilbahn. Die Generatoren konnten aufgrund ­ihres Endgewichts nur in Einzelteilen von der Bahn transportiert werden. Allein ein Rotor kommt nach seinem Zusammenbau auf rund 330 t. Daher mussten sie in der Maschinenkaverne montiert werden. Nur mit beiden 200-Tonnen-Hallenkränen, die in der Maschinenkaverne laufen, konnten sie schliesslich ihren Einsatzort auf dem Stator erreichen (vgl. «Ungetüme unter Tage»).

Schächte in Stahl

Die 830 Stahlrohre mit einem Durchmesser von bis zu 4.4 m und einem Gewicht bis 20 t, die als Panzerung in die beiden Oberwasserdruckschächte eingelassen wurden, benötigten die Standseilbahn nicht. Sie durften eine Luftreise über die Bauseilbahnen antreten, bevor sie über die Schieberkammer für immer in der Dunkelheit der Schächte verschwanden.

Angeliefert als Stahlplatten erfolgte die Produktion der Stahlrohre im Talboden vor Ort. Nach der Biegung über Walzen und einer ersten Heftung der Längsnaht wurden die bis zu 6 cm starken Wandungen von Robotern geschweisst. Nach eingehenden Prüfungen der Schweissnähte und Bohrungen von vier Löchern, die für die spätere Verpressung von Beton zwischen Rohr und Fels dienten, konnte die Verfrachtung auf den Berg beginnen.

In der Schieberkaverne schweissten wiederum Roboter je drei Rohrstücke zu 9 m langen Rohrschüssen zusammen, die dann in die beiden 40.3° geneigten, über 1 km langen Schächte abgelassen wurden. Vor Ort kamen dann die vorwiegend slowenischen und portugiesischen Schweissspezialisten zum Zuge. Für eine Naht zwischen zwei Rohrschüssen benötigte ein Schweisser etwa fünf Tage. In der «Göttlichen Ko­mödie» beschreibt Dante das Inferno mit neun nach unten, ins Erdinnere führenden Kreisen. Die Ober­was­serdruckschächte setzten sich aus über 260 kreisför­mi­gen Rohrschüssen und dazugehörigen Schweiss­nähten zusammen.

Da bei der Güte der Schweissnähte keine Kompromisse infrage kamen, mussten alle Schweisser ein Trainingsprogramm in einem 1 : 1-Modell durchlaufen, das in Belgien aufgebaut war, und anschliessend auf der Baustelle Limmern eine Prüfung absolvieren.

Erlebbare Energie

Ab Januar 2018 wird das Pumpspeicherwerk Limmern für die Öffentlichkeit respektive den Tourismus geöffnet. Innerhalb von Führungen wird allerdings nur die «unsichtbare» Kavernenzentrale gezeigt, zur sichtbaren Staumauer gelangt man weiterhin ausschliesslich auf eigene Faust zu Fuss. Der Wanderer, der diese Bergfahrt unter die Füsse genommen hat, wird mit seiner Leistung zufrieden sein. Aufgrund des zurückgelegten Höhenunterschied von etwa 1700 Höhenmetern vom Talboden zur Staumauer besitzt er inklusive Gepäck (110 kg) etwa eine halbe kWh mehr an potenzieller Energie als bei seinem Start. Für diese Energieerhöhung hat er ungefähr vier Stunden Zeitaufwand gebraucht. Die 1000 MW Pumpenleistung von Limmern bräuchten für eine ­gleiche Erhöhung der Energie, ohne Berücksichtigung von Verlusten, etwa zwei Tausendstelsekunden.

TEC21, Fr., 2017.05.12

12. Mai 2017 Peter Seitz

Ungetüme unter Tage

(SUBTITLE) Inbetriebnahme Pumpspeicherwerk Limmern

Geschichten von Drachen und Ungeheuern, die in tiefen Berghöhlen schlafen, gibt es zuhauf. In Linthal erwachen 2017 moderne Monster: die vier Maschinengruppen des Pumpspeicherwerks Limmern mit ihren 1000 MW.

Mit der Inbetriebnahme des Pumpspeicherwerks Limmern 2017 nimmt die Axpo nach achtjähriger Bauzeit den ersten Platz bei den leistungsfähigsten Pumpspeicherkraftwerken der Schweiz ein. Zu den bereits vorhandenen An­lagen der Kraftwerke Linth-Limmern (KLL) kommen zusätzliche 1000 MW Pumpen- respektive Turbinenleistung. Die KLL können somit ab Ende 2017 mit einer gesamten Leistung von 1520 MW das Stromnetz beeinflussen.

Dieses Netz galt es jedoch für die Leistungsaufstockung erst einmal zu erreichen. Eine neue 17.5 km lange Stromleitung mit 65 Masten bis zu einer Höhe von 89 m führt vom bestehenden 380-kV-Höchstspannungsnetz bei Schwanden-Sool über das Niederental und den Bergrücken des Sedels nach Tierfehd. Durch den Zugangsstollen 1 stossen die Leitungen knapp 4 km den Berg hinauf bis in die riesige Kavernenzentrale des unterirdischen Pumpspeicherwerks vor (vgl. «Auf Bohren, Biegen und Brechen durch den Berg»).

Dort, in der Transformatorenkaverne, verrichten vier Ungetüme ihren Dienst: Die Maschinentransformatoren, die schwersten Einzelbauteile des gesamten Kraftwerkprojekts mit einem Gewicht von je 215 t, verwandeln die zugeführte Hochspannung in Mittelspannung von 18 kV, um bei Pumpenbetrieb die Motorgeneratoren antreiben zu können. Bei Turbinenbetrieb, sprich: wenn Strom erzeugt wird, geschieht dies umgekehrt, da Hochspannung verlustärmer übertragbar ist.

Kolosse in der Kaverne

In der nebenan gelegenen Maschinenkaverne verarbeiten vier weitere Monster ungeheure Energiemengen: die Motorgeneratoren. Sie sind auf einer vertikalen Antriebswelle mit den in Schächten unterhalb angeordneten Francis-Pumpturbinen verbunden und fungieren als Motor im Pumpenbetrieb respektive als Strom­erzeuger im Turbinenbetrieb. Die zwölfpoligen Motorgeneratoren sind die derzeit grössten Asynchronmaschinen der Schweiz. Allein ihre Rotoren wiegen je Generator 330 t und wurden daher in der Kaverne vor Ort montiert.

Asynchronmaschinen sind im Gegensatz zu den meist in Wasserkraftwerken verbauten Synchronmaschinen drehzahlvariabel. Dies erlaubt in gewissen Grenzen die Anpassung der Pumpenleistung an die im Netz vorhandene Überschussleistung. Ist tatsächlich weniger Leistung im Stromnetz verfügbar als die Pumpenleistung, kann trotzdem gepumpt werden. Überschussstrom, der in Zeiten geringer Nachfrage anfallen kann, da Grundlastkraftwerke nicht immer heruntergeregelt werden können, kann somit effektiv zur Füllung des oben gelegenen Muttsees verwendet werden.

Für die Frequenzregelung des Stromnetzes sind Asynchronmaschinen ebenfalls interessant. Sie sind innerhalb weniger Minuten zuschaltbar. Auch ­zwischen ihren beiden Betriebsarten – dem Turbinieren und dem Pumpen – kann innerhalb einer Zeitspanne von etwa zwei bis fünf Minuten gewechselt werden.

Monster mischen am Markt mit

Im Dezember 2015 gelang erstmals probeweise die ­Netzsynchronisation einer ersten Maschinengruppe. Bei der Synchronisation wird die Umdrehungszahl der Maschine auf die Stromnetzfrequenz von 50 Hz abgestimmt. Die Maschine kann daraufhin ans Netz gekoppelt werden und Strom einspeisen respektive ­aufnehmen. 2017 sollen alle vier Maschinengruppen für den regulären Betrieb bereit sein und am Strommarkt eingesetzt werden. Schlafen und Feuer spucken wie Drachen in alten Zeiten dürfen sie dann nicht. ­Vielmehr müssen sie stets parat stehen, um Energie zu speichern, Spitzenstrom zu generieren und irgendwann einmal Geld zu spucken. Sonst wären die Giganten nur versauernde Saurier.

TEC21, Fr., 2017.05.12

12. Mai 2017 Peter Seitz

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