Editorial

Mit dem Begriff Campus verbindet jeder sofort das Bild nordamerikanischer Universitätsbauten auf grünem Rasen – und auch die romantische Vorstellung von ungetrübtem Studentenleben. Dieser Idealtypus wie auch alle Ableitungen davon haben ihre Stärken und auch Schwächen. Fehler, die beim (Re-)Import des Campusgedankens nach Europa gemacht wurden, gilt es nun zu korrigieren – die Chancen, dass dabei ein neuer, der gesellschaftlichen Realität entsprechender Stadttypus entsteht, sind nicht schlecht.

Die »Pilgerväter«, die von der Mayflower an der amerikanischen Ostküste angelandet –wurden, waren religiös motivierte Emigranten, unter ihnen viele Akademiker, getrieben vom Ekel vor der verderbten europäische Stadt. Nichts weniger als die »Neue Welt« zu gründen, war ihr Ansinnen.

Konsequenterweise errichteten sie keine Städte, sondern vielmehr klösterlich inspirierte, am mittelalterlichen »collegiate ideal« Englands orientierte Gebäudekomplexe für gemeinsames Leben, Lernen, Studieren und gemeinsame Glaubensausübung – Campus-Anlagen als Zivilisations­instrument in der Wildnis.

Als Höhepunkt dieser Gründungswelle wie auch der Ausprägung dieses Bautypus‘ darf man den 1817 von Thomas Jefferson (1801-09 Präsident der Vereinigten Staaten) entworfenen Campus der University of Virginia in Charlottesville ansehen: eine überdimensionale Bibliothek in ländlicher Umgebung (s. Bild links) und rings um einen weitläufigen Campus herum Häuser, in denen ­Professoren und Studierende gemeinsamen leben und lernen.

Bis heute ist zu spüren, dass in den USA die Stadt an sich – nach europäischer Lesart – nie der ­Planungsmittelpunkt war. Städte entwickelten sich lediglich ungeplant um die Colleges herum, als Anhängsel und (wirtschaftlich) notwendiges Übel. Die Campus-Anlagen bieten sorgfältig über­legte Räume und Verbindungen, autofreie, parkartige Anlagen, Kultureinrichtungen und Architektur von Weltrang.

Sie sind städtebaulich wie wirtschaftlich so erfolgreich, dass sich die um­gebenden Städte mittlerweile gegen den Aufkauf ganzer Stadt­teile wehren müssen.

Wer einmal hier studiert hat weiß: Man muss den Campus nicht verlassen. Er bietet rund um die Uhr, Wohnen, Sport, Einkaufen, Kultur, Glauben, Gemeinschaft – und Studieren. Tatsächlich, und verstärkt nach 9/11, ist es Pflicht für die jüngeren Studierenden, in einem der sogenannten Colleges zu wohnen. Schutz, Familienersatz wie auch soziales Training stehen im Vordergrund. Auch ­Lehrende wohnen in den Colleges; bereits der Besuch einer Vorlesung fühlt sich wie ein Kontakt zur Außenwelt an. Der Sprung aus der idealen in die reale Welt ist nach dem Studium schwer, nicht wenige enden entweder als »Nerds«, als ­ewige Studenten, oder als erfolgreiche Ausgründer in den campusnahen »Inkubatorgebieten«.

Mit den in Europa um das Jahr 2000 einsetzenden Studienreformen und der Hinwendung zum anglosächsischen Modell fand der Begriff Campus auch bei uns Verbreitung. Alles, was früher »Außenstelle« war – wie Garching bei München oder »Standort« wie die Lichtwiese der TU Darmstadt oder die Ruhr-Universität Bochum, nennt sich jetzt Campus.

Die alten Begriffe waren ­treffender, hatten diese Auslagerungen und Neugründungen doch nie den lebensumspannenden Anspruch der amerikanischen Vorbilder, sondern das Ziel, die Vervielfachung der Studierendenzahlen nach dem 2. Weltkrieg in den Griff zu bekommen. Auch einige über die Innenstadt verteilte Standorte werden unter dem Begriff subsumiert, ja selbst unzugängliche Firmengelände, mitunter ganz ohne Forschungsanspruch, nennen sich plötzlich Campus. Ganze Hochschulen, wie die Frankfurter Goethe-Universität werden auf der Basis des Campus-Gedankens umorganisiert. Beim Wettbewerb zum Campus Westend (s. S. 18) wurde unter Freudentränen frohlockt, hier ­entstünde nun das »Harvard Europas«.

Dass die Gründe für die Neuorganisation häufig woanders liegen – in Frankfurt im Erlös, den man sich vom Verkauf der innerstädtischen Uni-Grundstücke verspricht – und dass sich Geschichte und Rahmenbedingungen europäischer Hochschulen grundlegend von den amerikanischen unterscheiden, tritt erst im Laufe der Zeit zutage: Auf dem Campus Riedberg der Goethe-Universität will man sich freitags nach 17 Uhr nicht mehr aufhalten, ein schlichter Arbeitsort, leer und tot.

Die deutschen Studierenden wohnen bei den Eltern oder in der Stadt, sie treiben Sport in Vereinen. Kulturangebote zur Verfügung zu stellen, können sich die Universitäten so wenig leisten wie ­eigenen Wohnraum. Hochsteuerländer lassen den Familien nicht den Spielraum, wie in den USA derzeit um 50 000 USD pro Jahr für ihre Kinder auszugeben.

Natürlich ist es sinnvoll für europäische Universitäten, ihre verstreuten Anlagen enger zusammen­zuziehen. Vorausschauende Campusplaner legen besonderes Augenmerk auf die Anbindung an die umgebende Stadt, auf wechselseitige Angebote und überlappende Zeitmodelle. Sie sind sich bewusst, dass die Autarkie amerikanischer Anlagen hierzulande im strukturellen Widerspruch zur städtischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen wie hochschulpolitischen Realität steht und dass gerade in der Verknüpfung mit der umgebenden Stadt die Besonderheit des europäischen Campus liegen kann.

Der Titel des Grundlagenwerks des Stanford-­Professors Paul V. Turner lautet »Campus – An American Planning Tradition«. Man könnte – ­weniger bescheiden – aber auch vom Campus als dem größten Idealstadtexperiment der Neuzeit sprechen.

In Europa scheint die schnelle Akzeptanz des Begriffs auf eine Sinnkrise der Stadtvorstellungen hinzudeuten. Vielerorts wird entlang der räumlichen Ideale der ­mittelalterlichen Stadt nachdrücklich am Umbau der Innenstädte gearbeitet; dabei zeigt sich aber überdeutlich: Es gibt sie nicht mehr, die Stadtgesellschaft, die auf der Straße leben muss, die ihre Nachrichten im Freien austauscht und ihre Existenz in und um die Stadt ­sichert.

Auf dem Campus des MIT siedeln sich Senioreneinrichtungen an, deren Bewohner die Nähe zur Jugend und ihrer Aktivitäten suchen und Zutrittsrecht zu ­Vorlesungen genießen. Die Notwendigkeit für lebenslanges Lernen rückt zunehmend als Selbstverständlichkeit in den Mittelpunkt, warum sollte dann nicht der Campus zum Lebensmittelpunkt werden – mehr als die historisch wieder aufgebaute Innenstadt?

Je offensichtlicher der Widerspruch zwischen der ­Erscheinung der europäischen Stadt und der gesellschaftlichen Realität, umso mehr könnte ein gelebtes Modell wie der Campus zu einer neuen, aufregenden und integrierenden Stadtvorstellung werden. | Martin Wilhelm

Gehobene Rasteritis im Grünen

(SUBTITLE) Campus Westend der Goethe-Universität in Frankfurt a. M.

Die Goethe-Universität gibt ältere Liegenschaften auf und konzentriert sich auf das ehemals von den amerikanischen Streitkräften genutzte Gelände am I.G.-Farben-Haus. Einem städtebaulichen Masterplan folgend entstand auf dem neuen Campus Westend ein an städtische Blockstrukturen angelehntes Ensemble in Naturstein, das sich gleichermaßen selbstbezogen wie auch offen für außerakademische Aneignung erweist.

Am Wochenende ist der zentrale Platz des Campus Westend fest in Kinderhand. Alles rollt und kreischt – es ist ein Heidenspaß. Im Hörsaalgebäude, das mit der Mensa den Platz säumt, ist die Cafeteria auch sonntags geöffnet. Heiße Schokoladen und dampfende Kaffeebecher werden zu den Gartentischen ­herausgetragen. Obwohl teilweise von grünem Maschendrahtzaun umgeben, wird das parkartige Areal der Johann Wolfgang Goethe-Universität als weitere Grünfläche, als Fortführung des westlich angrenzenden Grüneburgparks wahrgenommen und genutzt. Dabei – da mehrere Fachbibliotheken auch am Wochenende in Betrieb sind – mischen sich Studierende mit Kindern, Eltern mit Passanten und Radfahrern. Auf dem Campus Westend gibt das multi­kulturelle Frankfurt auch im recht kalten Spätwinter ein friedliches Bild ab.

Im Sommer 2001 bezogen die Kulturwissenschaften die ehemalige, nach ­Plänen von Dissing+Weitling (Kopenhagen) renovierte Konzernzentrale der IG Farben im Norden des Westends. Der aus der Feder von Hans Poelzig stammende, mit Cannstatter Travertin bekleidete Stahl-Bau, der zwischenzeitlich als Headquarter der US Army in Europa diente, ist heute noch so eindrucksvoll wie damals. Den 2002 ausgelobten städtebaulichen Wettbewerb für einen Uni-Campus nördlich des Poelzig-Baus mit insgesamt 39 ha gewann Ferdinand Heide. Der großen städtebaulichen Qualität des Entwurfs halber sowie wegen der zukunftsfähigen »Hochschultypologie« und der »genügenden Entwicklungschancen«. Mit 15 Jahren Abstand ist Heides Vision eines ­urbanen Campus, der die Qualitäten des Bestands aufnimmt und weiterführt, im Wesentlichen aufgegangen.

Gerade die beiden Grünspangen, die zusammen mit dem »zentralen Band« das Areal durchziehen, geben ihm Großzügigkeit und eine angenehme Weite. Sein Entwurf, den das Frankfurter Stadtparlament 2006 als rechtsgültigen Bebauungsplan beschloss, wird auch in der stets misstrauischen Frankfurter Architektenschaft als der beste aller Wett­bewerbsteilnehmer beurteilt.

Varianten der Strenge

Anders dagegen die in der Nachfolge, stets nach RPW-Wettbewerben (Richtlinie für Planungswettbewerbe) entstandenen Uni-Gebäude, die sich – so wollte das jede Auslobung – am Poelzig-Bau orientieren sollten (s. Liste zum Lageplan auf der linken Seite). Insgesamt wurden 185 000 m² BGF neu gebaut und etwa 480 Mio. Euro (2600 Euro/m²) ausgegeben. Nicht darin eingeschlossen ist das Wohnheim beider christlichen Konfessionen mit Apartments für etwa 425 Studierende (Architekten: Karl + Probst, München).

Für all diese Uni-Bauten fällt das Urteil, je nach architektonischer Provenienz des Beurteilenden, anders aus. Für die, die an der TU Darmstadt studierten – und davon gibt es im nahen Frankfurt viele –, haben die Berliner »Schlagschattenfuzzis« die Mainmetropole erobert. Von denen, die anderswo, etwa in Dortmund oder gar in Berlin studierten, hört man naturgemäß andere Ansichten. Dass sich bis auf das Wohnheim stets Berliner Architekten – Heide hat an der TU Darmstadt und an der UdK Berlin studiert – durchsetzten, erklärt das Hessische Wissenschaftsministerium als Wettbewerbsauslober mit »Zufall«. Dessen ungeachtet: Ob des steinernen Fassadenmaterials, v. a. ob der alles robust integrierenden Gartenlandschaft ist zweifellos ein städtebaulicher Zusammenhang entstanden, der sich unschwer als Campus identifizieren lässt, der auch durchweg von besserer Qualität ist als vieles, was in Frankfurt in den vergangenen Jahren entstanden ist. Der neben dem Studieren auch zum Verweilen, Kaffee-Trinken, Spazieren oder sogar zum Spielen einlädt. Und es scheint auch so, dass dies den Studierenden bewusst ist: Es lässt sich auf den Natursteinfassaden kein einziges Graffito entdecken.

Freilich: Über einige inhaltliche Widersprüche kann man durchaus schmunzeln. Denn die Gebäude nehmen keinerlei Beziehung, keinerlei Verbindungen zu ihren Nachbarbauten auf – trotz im B-Plan vorgegebener Raumkanten, Höhen, Dimensionen, trotz der Natursteinfassaden, trotz ­»Orientierung« an Poelzig. Der ach so kontextsensitive, vom städtischen Straßenraum gedachte Berliner Neorationalismus bleibt in der durchgrünten Stadtlandschaft des Campus Westend auf Einzelstatements beschränkt. Er kann, wenn kein städtischer Kontext da ist – und das Uni-Gelände liegt relativ isoliert –, offensichtlich selbst wenig Kontext aufbauen. Heide hatte gedacht, über die Nutzung Beziehungen herzustellen: Über die Bibliotheken für insgesamt knapp 1 500 Studierende, die sich in den Sockelgeschossen des RuW- und des PEG-Gebäudes ­befinden. Die sollten offen sein und sich zum Campus orientieren. Doch Müller Reimann bauten zwei introvertierte, jeweils um einen grünen Innenhof liegende Büchereien. Auch die dritte Bibliothek – im Fachcluster für Sprach- und Kunstwissenschaften, der von 2018 an nach Plänen von BLK2 Architekten im Nordosten des Uni-Areals gebaut werden soll – orientiert sich mit ­ihren 350 Studentenarbeitsplätzen nach innen.

Darüber hinaus ist der Einwand berechtigt, dass die Kollegen aus der Hauptstadt Poelzig allzu eng, allzu klassizistisch interpretierten. Es braucht nicht viel, um beim I.G.-Farben-Haus bei allem Willen zur strengen Form einen ­furiosen Formen- und Anspielungsreichtum in Detail zu entdecken, der die Monumentalität des Baus immer wieder unterläuft. Erst die Verschränkung beider Ebenen macht seine eigentliche Qualität, seine Kraft aus. Von dieser Synthese ist bei den Berlinern wenig zu sehen – obwohl die Bauten durchweg in hoher handwerklicher Qualität, teilweise sogar hervorragend ausgeführt sind. Kleihues, dem Drittmittel zur Verfügung standen, zitiert in seinem »House of Finance« das Vestibül des Poelzig-Baus, glänzt mit verschiedenfarbigen Marmorböden und drei Seminarräumen, die dem britischen Oberhaus entlehnt sind. Das Haus, das in exklusiver Clubatmosphäre der Begegnung von Finanzwirtschaft, Forschung und Politik dienen soll, ist gesammelter Ausdruck der Distinktionsbedürfnisse, die die Finanzelite hegt – inklusive ­derer, die dazugehören wollen.

Müller Reimann bauten jeweils viergeschossige Baukörper, die sich über ­einen zweigeschossigen Sockel erheben. Sie punkten mit Flächeneffizienz und schönen Details – etwa im PEG-Gebäude eine Wand mit handgestocktem, mit ockerfarbenen Zuschlagstoffen versehenem Sichtbeton, umrahmt von ebensolchem, aber geschliffenem. Auch Volker Staab hat drei über ein Sockelgeschoss sich erhebende Baukörper geplant: Einer davon, mit Apartments für Gastwissenschaftler, ist einnehmend charmant geraten, die beiden anderen nur bedingt. Und die Fassade zur Hansaallee mit ihren Schießscharten – querliegende, vom Bücherregal ausgesparte Fenster für eine weitere Bibliothek – ist, mit Verlaub, hässlich und in ihrer fast hermetischen Abgeschlossenheit ein Affront gegenüber Passanten und Betrachtern.

Bei Gesine Weinmillers stocksteifem Quader lässt sich maliziös vermuten, die Architektin habe die »normativen Ordnungen« allzu wörtlich genommen, obwohl sie für ihre Verhältnisse mit L-förmigen Naturstein-Formaten geradezu spielt und feine Schattenwürfe auf die profilierte Fassade zeichnet.

Der Verweis auf die Bauaufgabe kann die ob ihrer gehobenen Rasteristis gescholtenen Kollegen entlasten: Schließlich ist Universitätsbau Bürobau. Weil sich auch der universitäre Mittelbau geschlossen für Einzelbüros aussprach, blieb den Architekten nicht viel anderes übrig, als über den Bibliotheken ­Bürostrukturen für Institute und Lehrstühle zu bauen. Ob diese in solch barscher Rigidität wie auf dem Campus Westend ausfallen müssen, darüber lässt sich trefflich streiten.

Einzig Heide nutzte konsequent die Freiheiten, die ihm die Sonderfunktionen seiner Gebäude gaben: Mit tiefen Einschnitten, Loggien und geschossübergreifenden Verglasungen geht er fast skulptural zu Werke. Er schneidet Volumina aus, variiert Fensterbreiten hier, schließt groß dimensionierte Fassadenflächen da. Weil auch sein Travertin eine weit größere Farbvarianz aufweist und stärker strukturiert ist als der seiner Berliner Kollegen, kommt er dem Poelzig des IG-Farben-Gebäudes wesentlich näher als jene.

Ausbau der Selbstbezogenheit

Der Campus Westend, der zentrale Anlaufstelle für etwa 25 000 der insgesamt 46 500 Studierenden der Goethe-Uni ist (neben dem Campus Riedberg für Naturwissenschaftler und dem Campus Niederrad für Mediziner), hat mit historischen Altlasten zu kämpfen. Schon Ernst May und Martin Elsässer kritisierten Poelzig, weil dieser mit seinem 250 m langen Riegel – dem damals größten Bürohaus Europas – das dahinter liegende Gelände vom Westend abschneide (Dass die beiden einem ähnlichen, doch architektonisch nicht ganz so beeindruckenden Wettbewerbsbeitrag eingereicht hatten, war ihnen offenbar entfallen). Als im Mai 1972 die Rote Armee Fraktion den ersten von insgesamt drei Anschlägen auf das Hauptquartier der US Army verübt hatte, verwandelte sich der bis dahin öffentlich zugängliche Park zur militärischen Sperrzone. Das galt auch für die dahinter liegenden Offiziersvillen, die Zeilengebäude der Mannschaften und die Frankfurt American High School. Weil die Adickesallee, die den nördlichen Abschluss des Areals bildet, ein vielbefahrener Autobahnzubringer ist, dahinter wiederum Zeilenbauten liegen, und auch im Osten wenig städtische Strukturen vorhanden sind, wird der Campus vermutlich auch weiterhin isoliert bleiben. Und dass gar ein ­Studentenviertel entsteht – wie einstmals in Bockenheim rund um den derzeit sich rapide leerenden Kramer-Campus –, kann man sich schwerlich vorstellen. Zumal sich in jedem neuen Uni-Gebäude eine Cafeteria mit gehobenem Angebot befindet (auch das eine Vorgabe des Masterplans), sodass die Studierenden nicht gezwungen sind, das Areal zu verlassen. Das Studierendenhaus, derzeit in der Ausführungsplanung (Architekt: HJP, Würzburg), soll das ­Angebot in naher Zukunft sogar noch vergrößern.

Die weitere Zukunft des Campus ist noch nicht abzusehen. Heide hatte als nördlichen Abschluss insgesamt fünf Sechsgeschosser mit 13-geschossigen Hochpunkten – analog zu den Risaliten des I.G.-Farben-Hauses – vorgesehen. Einer davon, an der Nordost-Ecke, wird derzeit nach Plänen von K9 Architekten (Freiburg) für das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) gebaut. Die restlichen Vier stehen als Reserveflächen für Uni-nahe Einrichtungen zur Verfügung. Darüber hinaus steht die Philipp-Holzmann-Schule dem Campus-Ausbau buchstäblich im Wege. Diese städtische Berufsschule hatte das Gebäude der High School übernommen, deren Sportplatz sollte bis vor Kurzem als Übergangsstandort für ein Gymnasium dienen.

Wegen des enormen Zuzugs sucht die Stadt händeringend nach Grundstücken für Schulen und Kitas. Im Januar 2017 verkündeten Land, Stadt und Goethe-Uni eine »grundsätzliche Verständigung«: Man tauscht Grundstücke aus, die Stadt bekommt einen neuen Schulstandort, die Uni Planungssicherheit für ihren weiteren Ausbau. Über die einzelnen Modalitäten wird noch verhandelt. Wann also der letzte Stein des dann nicht mehr ganz so neuen Campus gesetzt wird, steht in den Sternen. »Mittel- bis langfristig«, heißt es offiziell. Vielleicht zu einer Zeit, in der jene, die ihn heute zum Spielen benutzen, selbst studieren wollen.

db, So., 2017.04.02

02. April 2017 Enrico Santifaller

Im Jugendstil

(SUBTITLE) Hochschulzentrum »ARTEM« in Nancy (F)

Formal vielfältig, bunt und offen gestaltet erscheint der Campus der neuen Hochschule, die nach einem fächer­übergreifenden Konzept arbeitet. Ausdrücklich nicht als akademisches Ghetto konzipiert, sondern als Stadtquartier, spielt in diesem Fall auch die (Bau-)Kultur, die hier mit dem Jugendstil ihren Höhepunkt erreicht hatte, eine Rolle. Doch derzeit durchkreuzt die gesellschaftliche Realität, was die Architektur anbietet.

Wenn man in diesen Wochen die französische Grenze überquert, fragt man sich, ob das in Zukunft noch so einfach möglich sein wird, falls Marine Le Pen tatsächlich zur Staatspräsidentin gewählt werden sollte. Noch können wir die Autobahnmaut in Euro bezahlen. Unser Ziel ist Nancy, dort die neue Hochschule ARTEM, die durch ihr interdisziplinäres Konzept und eine affirmativ offene Architekturkonzeption auch als Beispiel für eine multikulturelle Aus­einandersetzung betrachtet werden kann.

Getragen wird die neu gegründete Institution von drei bestehenden Hochschulen, die hier in kooperierenden Studiengängen der Kunst, Technik und Unternehmensführung kreative und ökonomische Talente fördern sollen. Die Stadt will damit an die legendäre Ecole de Nancy anknüpfen, mit der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine prosperierende Epoche begann. Im Mittelpunkt des Art Nouveau stand Emile Gallé, er gilt bis heute als bedeutendster Glasmacher und Designer, der mit Künstlern, Handwerkern und Industriellen für eine Furore des Jugendstils sorgte.

Auf der Suche nach Kontinuität

Der Ort und die Bestimmung der neuen Hochschule sind also von Erwartungen getränkt, die genau 100 Jahre nach der Gründung der Ecole de Nancy im Konzept von ARTEM niedergelegt wurden. In dem 2006 ausgelobten internationalen Wettbewerb konnte sich Nicolas Michelin mit seinem Büro ANMA gegen prominente Kollegen durchsetzen. Sein Entwurf für das innenstadt­nahe Militärareal sicherte ihm nicht nur den Auftrag für die ersten Bau­abschnitte, die Ingenieurschule ENSMN und das angeschlossene Forschungsinstitut Jean Lamour, sondern auch die Regie des gesamten Projekts, für das ein Masterplan minutiös Struktur und Kubatur der weiteren Gebäude vorwegnahm.

Auf dem Grundstück wurden zwei der alten Kasernen abgerissen. Die Hochschulbauten sollten die vorhandenen Verkehrswege zum östlich anschließenden Wohnquartier aufnehmen und den von Plätzen und Blockinnenräumen geprägten Städtebau fortsetzen. Auch die Höhe der neuen Gebäude würde mit maximal fünf Geschossen dem Maßstab der Umgebung entsprechen. Außerdem sollten eine ungenierte Farbenfreude und von der rechtwinkligen Ordnung abweichende Formen die Baukultur des ­Jugendstils interpretieren. Um diesen Anspruch würdigen zu können, muss man sehen, dass das alte Zentrum von Nancy in den letzten Jahrzehnten geradezu gewalttätig mit (inzwischen heruntergekommenen) maßstabslosen Neubauten verunstaltet wurde. Die Stadt mit 106 000 Einwohnern (und 46 000 Studenten) besitzt prächtige Vorzeigeorte wie die Place Stanislas, aber neben diesen Ensembles gibt es Straßen, die aussehen wie Ost-Berlin vor der Wende. Auch mit dem allgegenwärtigen Jugendstil gingen viele Bauherren nicht ­immer pfleglich um, man entdeckt PVC-Fenster aus dem Baumarkt in den staubgrauen Denkmälern.

Sehnsucht nach dem öffentlichen Raum

Jetzt also alles neu! Mit einer großen Geste will Nicolas Michelin die Bevölkerung und den akademischen Nachwuchs zusammenbringen. Entlang der von Südosten nach Nordwesten führenden Rue du Sergent Blandan verbindet eine 300 m lange gläserne Passage die einzelnen Institute und Fakultäten. Weiße Stahlrohre bilden das Tragwerk, das an seinen Fassaden mit versetzten flachen Giebeln abschließt.

Mit jeweils vier dreieckigen rosarot oder hellblau getönten Glasfeldern wird die Dachgeometrie über die Diagonale gelöst. Zur Place de Padoue wächst die Galerie zu einem überhohen Glassturz. Wo es Querverbindungen zu den Straßen gibt, unterbrechen Durchgänge unter markanten Spitzdächern die Passage. Man könnte sich vorstellen, dass die ­polygonen Formen den floralen Jugendstil in die Räson des Ingenieurbaus übertragen. Auf dem Boden glänzt ein marmorierter Zementestrich, die längsseits angelegten Pflanzbeete werden von den Lehnen langer Steinbänke gesäumt. Für die Temperierung sorgen »puits canadiens« (Luft-Erdwärmetauscher), die ganzjährig eine angenehme Ventilation liefern.

Unter Verschluss

Diesem neuen städtebaulichen Element wurden in der weiteren Wettbewerbsausschreibung große Qualitäten als öffentlicher Raum suggeriert; es wurde sogar überlegt, die Passage um weitere 400 m bis zum Badkomplex Nancy-Thermal zu verlängern. Man darf allerdings skeptisch sein, ob sich die Anwohner wirklich unter die akademische Bohème mischen werden, denn die Galerie ist zwar ein wunderbarer, nicht kommerzieller Ort. Doch die eingestellten Blechhäuschen sind keine Kioske, sondern umschließen Haustechnik und Tiefgaragenzugänge. Ob sich deshalb in den leeren Glashäusern Mütter mit spielenden Kindern und Rentner mit Rollator aufhalten möchten oder die Galerie wenigstens witterungsfreundlich einen notwendigen Weg verkürzt? Wenn hier nichts stattfindet, wenn es »nichts gibt«, spricht das Angebot nur gutbürgerliche Kreise an. Dösende Männer mit Bierdosen würden bestimmt nicht geduldet. Das alles bleibt jedoch Spekulation, denn seit den Terror­anschlägen ist die einladende Passage hermetisch verschlossen. Nur wer hier arbeitet, darf sie benutzen.

Das Regulative setzt sich auf dem Campus fort. Hinter zwei Stirnbauten schließt das riesige, endlos wirkende Materialforschungsinstitut Jean Lamour mit einer ondulierten finstergrünen Blechfassade an (Architekten: ANMA). Der Hauptzugang liegt zwischen den beiden mit beige- und ockerfarbenen Blechkassetten bekleideten Häusern, deren Glätte bereits abweisend wirkt. Tatsächlich ist der gesamte Komplex verschlossen, 450 Forscher sind hier bei der Arbeit, und selbst in friedlichen Zeiten darf sich zu ihnen niemand verirren.

Unter den Glashütchen der Galerie führen jeweils schmale Gassen zwischen den einzelnen Hochschulgebäuden in einen Gartenhof der sich hinter und unter den brückenartig verbundenen Gebäudeteilen ausbreitet. Die Eingänge lassen sich als Schwellen lesen, stabile Gitter und Tore, die nach 23 Uhr verschlossen werden, signalisieren auch bei Tag, dass man hier nur geduldet wird und mit den jungen Menschen, die hinter den bunten Fassaden wirken und werkeln, nichts zu tun hat.

Die Landschaft bettet sich in weichen Wellen um die Architektur, Rigolen, ­Senken und Rinnen sammeln und leiten das Regenwasser, das in Zisternen ­gesammelt und zur Bewässerung verwendet wird, einige stabile Liegen deuten Erholung an. Noch wirkt es wie die Inszenierung eines Kurparks, als sollten die Studenten nur flanieren und sich alles brav ansehen.

Architekten miteinander und nebeneinander

Als erstes von den verschiedenen Gebäuden wurde 2012 die Ingenieurschule (ENSMN) von ANMA fertig. Ihr Hauptzugang hinter der Galerie empfängt mit einem Foyer, in dessen Mitte eine leicht gekrümmte Treppe die OGs unter einem lichten Glasdach erschließt. Es ist ein zentraler Galerieraum mit hellen Holzstufen.

Ansonsten merkt man sich die Farbe Blau, die das Grün im EG fortsetzt. Auf jeder Ebene changiert die Tönung ein wenig kräftiger und heller. In die Tiefe führt eine schmale Gebäudebrücke, die beidseitig von Seminarräumen begleitet wird. Der Flur weitet sich zu Sitznischen, am Ende erreicht man wieder ein breiteres Bauwerk, das in Orangerot getaucht ist. Die Raumwinkel sind uneindeutig, ebenso die Farben, immer wieder hat eine künst­lerische Hand etwas Ornamentales über Türen und Wände gemalt. Das grobe Mobiliar wirkt strapazierfähig, es wurde sicher nicht vom Architekten ausgesucht. Überhaupt spürt man unwillkürlich, dass man sich im Ausland befindet – alle Details, Anschlüsse, Materialien folgen einer ungewohnten Ästhetik.

Die Außenfassade ist mit diagonal gerasterten Blechkassetten in unterschiedlichen Farben bekleidet. Dunkelrot steht südlich daneben das mit keramischen Platten verschalte Haus der Sprachen, an das ein schmales »Amphitheater« – eigentlich nur ein Keil mit Sitzstufen anschließt.

Die künftige Mitte des Campus bilden mit ihren silbrig glänzenden Blech­paneelen die Schule für Management und eine Mediathek, die ihrer Eröffnung entgegensehen. Architekten sind Lipsky-Rollet aus Paris.

2016 fertiggestellt wurde die Kunsthochschule von Dietrich | Untertrifaller und Christian Zomeno. Wie Dioskuren stehen ihre beiden funktional verbundenen Baukörper fast parallel nebeneinander. Das höhere, prismatisch gefaltete Haus fungiert als »Signalgebäude«, eine identifizierbare Vorgabe des Masterplans für alle Baugruppen, was jedoch nicht sehr auffällt. Es ist mit gekantetem dunklem Lochblech bekleidet, in dem unregelmäßige Öffnungen ausgespart sind; das nördlich den Uni-Parcours abschließende ­geradlinige Haus hat eine Fassade aus schwarzen glasfaserverstärkten Tafeln, die von unterschiedlich tiefen Fenstervitrinen unterbrochen werden. Dass die Hochschule als Betonkonstruktion errichtet wurde, zeigt sich in den scharfkantig geschalten Innenräumen, mit deren Sichtqualität die Franzosen jedoch ihre Mühe hatten.

In beiden Häusern sind die Ateliers, Werkstätten, Studios und Büroflächen um eine Funktionsachse organisiert. Hier werden kreative Produktion und publikumsnahe Präsentation gelehrt. Die bis zu 4,50 m hohen Räume sind beeindruckend ausgestattet, ein Bataillon Apple-Rechner gehört ebenso dazu wie ein solider Maschinenpark für alle denkbaren Handwerke. Der Ausbau reduziert sich auf wenige Materialien und Farben: Zementestrich, auch mal Riemchenparkett über der Fußbodenheizung, roher Stahl als Treppenwangen, HWL-Platten an den Decken. Vor den mit massivem Kreuzlagenholz ausgeschlagenen tiefen Fensternischen im Nordbau bauschen sich farbige Filzvorhänge (hinter denen müde Studenten auch mal ihre Schlafkojen einrichten). Die Architektur gibt den Künstlern einen neutralen Hintergrund, doch bleibt sie immer präsent. Die akkurat in den Betonwänden platzierten Installationen oder die mit Schattenfugen abgesetzten Eichenholzlaibungen setzen Maßstäbe. Höhepunkt sind die unter dem Dach liegenden großen Ateliers mit ihren lichten Streckmetalldecken. Zur Gartenseite verbindet ein Hörsaaltrichter die beiden Gebäude, die um die »Villa Artem« ergänzt werden sollen, ein Institut für ein projektbezogenes praxisnahes Aufbaustudium im Kontakt mit Unternehmen. Im Bau ist die Mensa.

Ganz im Süden an der noch unfertigen Place de Padoue blieb auf dem ehe­maligen Kasernenhof das Denkmal des 1842 in Algerien gefallenen Sergent Blandan stehen. Er war im Alter der jungen Leute, die hier studieren. Mit ­seinem aufgepflanzten Bajonett sieht der tapfere Soldat auf die gläserne Galerie. Er kann sie nicht schützen. Drum ist die Schule verriegelt, das Leben bleibt draußen.

db, So., 2017.04.02

02. April 2017 Wolfgang Bachmann

Alles fließt

(SUBTITLE) »Roy and Diana Vagelos Education Center« der Medizinfakultät an der Columbia University in New York (USA)

Wo, wenn nicht in New York, sollte das Prinzip eines vertikalen Campus zur Anwendung kommen? Lehrräume und Labore verteilen sich im Norden Manhattans auf 14 Geschosse und sind durch ausnehmend luftige Kommunika­tionszonen untereinander verbunden. Kristallin geformte Auskragungen aus Glasfaserbeton schaffen eine auffällige Adresse, die dem Sponsor zur Ehre gereicht und Transparenz in den andernorts zumeist abgeschotteten medizinischen Lehrbetrieb bringt.

Nur ein paar Schritte westlich von der U-Bahn-Station an der geschäftigen Kreuzung von Broadway und 168. Straße wird es plötzlich beinahe still. Auf der schmalen Haven Avenue, die in einer leichten Biegung dem hohen Norden Manhattans entgegensteigt, dämpft das ferne Rauschen unablässigen Verkehrs auf der nahen George Washington Bridge die Sirenen der Kranken­wagen auf dem Weg zu den vielen Krankenhäusern der Umgebung.

Überraschend taucht das neue medizinische Lehrgebäude der Columbia Universität zwischen bescheidenen Mietshäusern aus den 20er Jahren auf: Der gläserne »Fremdkörper« will mit seiner dramatischen Südseite und deren exponierten Treppenaufgängen gesehen werden. Kommt man aus der entgegengesetzten Richtung den Hügel herab, könnte man das nördlich an die Zeile fünfstöckiger Klinkerbauten angeschlossene Minihochhaus beinah übersehen, würde nicht eine Freitreppe mit großer Geste auf eine Anhöhe mit Blick auf den Hudson River verweisen. Hier ist ein unvermuteter Freiraum in dem sonst dicht vermauerten Umfeld entstanden, über dessen Himmel bisher drei ­gesichtslose Studentenwohnheime in gelbem Backstein regierten.

Die Treppe an sich ist der Schlüssel zum Entwurf des vertikalen Campus, den Diller, Scofidio + Renfro (DS+R) für ein wahrhaft winziges Grundstück ­konzipierten – sie ist sowohl das Organisationsprinzip für das komplexe, mit insgesamt 9 300 m² extrem knapp ausgestattete Programm des Roy and Diana Vagelos Education Centers, als auch das ästhetische Leitmotiv. Die langen, fensterlosen Korridore, die das Innenleben der meisten medizinischen und pädagogischen Einrichtungen kennzeichnen, waren an dem gegebenen Standort weder möglich noch erwünscht. Und so fährt die wie von einem Erdbeben zerdrückte Serpentine, die als dynamische, kantige Linie die Südfassade hinabjagt, nicht nur als Blitz in das historische Einwandererviertel, sondern sie exponiert auch einen Großteil des Interieurs: Als »Study Cascade« bezeichnen die Architekten das kontinuierliche Auf und Ab der Stufen, der überdimensionalen Treppenabsätze und Terrassen, die sie als einen einzigen, fließenden, in das Gesicht des Gebäudes geschriebenen Raum begreifen. Neben den Zugeständnissen an die städtische Bauordnung, die an dieser Stelle die Verjüngung der oberen Stockwerke sowie überwiegende Transparenz verlangte, lässt sich die Zickzack-Signatur als Referenz auf die Nachbarschaft lesen, deren spärlich bevölkerte Wohnstraßen ihre New Yorker Identität v. a. aus den omnipräsenten Feuerleitern beziehen.

Zu ebener Erde muss man ein Drehkreuz passieren, um die nach einem Columbia-Alumnus und seiner Frau benannte Lehranstalt zu betreten. Obwohl das von drei Seiten verglaste Foyer mit auseinanderstrebenden Diagonalen die Enge der Grundfläche zu sprengen versucht, kann es weder der lichtarmen Tristesse der Haven Avenue noch dem üblichen unpersönlichen Flair eines Durchgangsraums entrinnen – Studenten sitzen isoliert vor ihren Laptops an langen Tischen, und von der »produktiven Ineffizienz«, mit der die Architekten ihren luftigen Elfenbeinturm durchdrungen wissen wollen, ist nichts zu spüren. Erst mit dem Aufstieg in die oberen Geschosse erobert man sich die lichte Freiheit, die die Fassade verspricht: Die 275 Sitze des holzgetäfelten ­Auditoriums im ersten Stock sind auf die Fensterfront mit dem spektakulären Panorama des Hudson, der Felsenwand von New Jersey und der George ­Washington Bridge ausgerichtet, und der Raum expandiert nahtlos auf die Terrasse, zu der auch die Freitreppe von der Straße heraufführt. Ein in die Planken eingelassenes, mit hohen, blonden Gräsern bewachsenes Beet ruft Assoziationen an die Landschaftsgestaltung der Highline wach, die dem ­Architektenteam internationalen Ruhm verschaffte (s. db 9/2008, S. 30-36). Statt eines Zauns stellt sich erfreulicherweise nur eine nahezu durchsichtige Wand vor den Abgrund über dem Fluss. Sie besteht aus dem gleichen, mit Nadelstreifen aus eingebackener Keramik gefritteten Glas, das den knapp 70 m hohen Turm mit Ausnahme der Südseite milchig und energiesparend umhüllt.

In Bewegung

»Uns interessieren die organischen Eigenschaften von Gebäuden, und dazu gehört auch die Zirkulation«, erklärte Elizabeth Diller. Zugunsten der räum­lichen Fluidität haben sich DS+R in der »Kaskade« einer reduzierten, warmen Palette bedient: orangefarbene Terrazzodetails, Fußböden aus Hirnholz und Paneele aus rostrot gebeizter Douglastanne, die in der Nachmittagssonne das Gebäudeinnere zum Glühen bringt. Der Orientierung mag die homogene Farbgestaltung wenig förderlich sein, doch ganz im Sinne des extrovertierten Ansatzes hilft die Außenwelt beim Navigieren über die Etagen: Ab dem achten Stock gerät z. B. auch die aus dieser Perspektive unvertraute Skyline von Midtown ins Blickfeld. In die Anordnung der senkrecht gestapelten »akademischen Nachbarschaften«, wie die Architekten zusammengehörige Raumkomplexe nennen, war ein zwanzigköpfiges Studentengremium entscheidend involviert. Mit Blick auf den dringlich geäußerten Wunsch, sich gelegentlich aus den öffentlichen Zonen in semi-private Nischen zurückziehen zu können, propagierte das Team im Namen der Studentenschaft intimere Aufenthaltsräume für kleine Gruppen mit Zugang zum offenen ­Gemeinschaftsraum eine Etage tiefer – ohne dabei mit dem Grundgedanken der Porosität zu brechen.

Die jenseits der Kaskade gelegenen Büros und Klassenräume bleiben hinter dem opaken Glas für Nachbarn und Passanten verborgen. Innen aber fällt das Tageslicht durch den Schleier auf einen Schauplatz, der normalerweise in geflieste Keller verbannt ist: Die hellen, mit futuristisch anmutender Technologie ausgestatteten Obduktionsräume bieten den Studenten ein ideales Umfeld für die Autopsie – per definitionem »die Untersuchung eines Gegenstands mit eigenen Augen«. Letztere mögen auch gelegentlich Trost im Anblick des ­großen Stroms, der ewig unter dem Fenster vorbeifließt, suchen.

Nachdem Amerikas älteste medizinische Universität ihre Verwalter, Fakultätsmitglieder und das Entwurfsteam zur Bestandsaufnahme an ebenbürtige Institutionen entsandt hatte, wurde die Unentbehrlichkeit eines perfekt ausgerüsteten Simulationszentrums klar: So wie Astronauten auf der Erde für die Schwerelosigkeit trainieren, üben Studenten an computergesteuerten Puppen eine Geburt oder die Reaktion auf einen Herzinfarkt. Für eine solche Einrichtung fehlten im Bebauungsplan jedoch die erforderlichen 1 000 m², und so verfielen die DS+R-Partner Gensler Architects auf die raffinierte Idee, die ­mechanischen Systeme nicht nur so weit wie möglich im eigenen Keller und Penthouse unterzubringen, sondern sie darüber hinaus auf die drei Columbia-eigenen Wohnheime zu verteilen und zudem die Klassenräume so effizient auszulasten, dass der entsprechende Platz gespart werden konnte.

In der Ausschreibung des Wettbewerbs im Jahr 2010 wurden Architekten ­gesucht, die neue Methoden medizinischer Lehre in ein Gebäude mit erheb­lichen Restriktionen umsetzen konnten. Die DS+R Strategie, den klinischen Bereichen zwar einerseits ihre Sterilität zu nehmen, sie aber andererseits von den sozialen Räumen zu separieren und ein Schwergewicht auf Kommuni­kation zu legen, entsprach Columbias pädagogischer Vision einer modernen Heilkunst, und nicht umsonst listen DS+R ihren urbanen Campus unter der Kategorie »Kultur«. Tatsächlich griffen die Architekten mit der Kaskade die Idee eines vertikalen Bands auf, das sie 2004 erstmals in dem unrealisierten Entwurf für das Eyebeam Museum for Art and Technology in New York entwickelt hatten. Über die Jahre hat das Konzept wohl an Neuigkeitswert, aber kaum an kinetischer Energie eingebüßt, und in seiner aktuellen Inkarnation als »Entdeckungspfad« steht es im Einklang mit dem Lehrprogramm der Universität. Dass man jedoch auf der obersten Stufe der von der Straße aus so einladenden Freitreppe vor eine verriegelte Glastür prallt ist weder mit der ­Designethik noch mit dem Nachbarschaftsgedanken einer progressiven ­Institution zu vereinbaren.

db, So., 2017.04.02

02. April 2017 Claudia Steinberg

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