Editorial

Seit einigen Jahren interessieren sich Architektinnen und Architekten wieder für Grossstrukturen. Baukünstler der frühen Nachkriegszeit werden neu entdeckt, und selbst die Kolosse der 1970er-Jahre gelten nicht mehr nur als Bausünden und Sanierungsfälle, sondern als spannende Studienobjekte (vgl. TEC21 9–10/2016, 17/2016). Denn es gilt zu verdichten, und die Aufbruchstimmung der Hochkonjunktur fasziniert gerade in der heutigen Zeit.

Das Bauen seit 1945 war denn auch das Thema unserer diesjährigen Leserreise. Mit dem Viermaster «Star Flyer» segelten wir Anfang Oktober entlang der Mittelmeerküste von Cannes nach Barcelona. Unterwegs besuchten wir ausgewählte Bauwerke: Überbauungen von hoher Qualität, die gleich nach dem Krieg mit einfachsten Mitteln erstellt oder in den Folgejahren als soziale Ex­perimente der Postmoderne realisiert wurden. An Bord vermittelten uns drei Fachleute wertvolles Wissen über die besichtigten Bauten in Marseille, Sète und Barcelona. Ihre Vorträge bilden die Grundlage für dieses Heft.

Doch wir haben noch viel mehr gesehen – etwa die Ferienanlage in Bandol von Jean Dubuisson, das Dorf Les Sablettes von Fernand Pouillon, die Retortenstadt La Grande Motte von Jean Balladur, die riesige Wohneigentumsgemeinschaft Rouvière und natürlich Le Corbusiers Cité Radieuse in Marseille. Auszüge aus dem Logbuch, illustriert mit Skizzen von Christian Wäckerlin, zeigen einige dieser Stationen. Weitere Fotos, Zeichnungen und Reiseberichte sind auf www.espazium.ch zu finden. Es lebe das Fernweh!

Danielle Fischer, Judit Solt

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Nicht ganz passgenau

12 PANORAMA
Spektakuläre Taucharbeiten | Abwasserreinigung mit Nebeneffekt | Adventsverlosung: Bald gehts los! | «Der Studienauftrag lässt nichts Gutes erwarten»

20 VITRINE
Frisches für Küche und Bad | Aktuelles aus der Baubranche

23 SIA
SIA-Form Fort- und Weiterbildung | Ausnützungsprivilegien verpflichten | Preis für die­ findige Fanny | Swiss Squares ­App neu mit Thun

28 VERANSTALTUNGEN

THEMA
30 Architekturkreuzfahrt 2016: Mediterrane Moderne

30 RAUMTHEATER UND SOZIALPALAST
Anne Kockelkorn
Ein Experiment der Nachkriegszeit: der Wohnkomplex «Walden 7» von Ricardo Bofill in Barcelona.

35 DIE STADT ALS HINTERGRUND
Dominik Fiederling
Die Wiederaufbauprojekte um den Vieux Port in Marseille legten den Grundstein für den Erfolg von Fernand Pouillon.

39 NACH INNEN GERICHTET, VON AUSSEN BESTIMMT
Bernadette Fülscher
Sète am Mittelmeer ist Hafenstadt und Insel zugleich. Dem «Anderen» kommt im Diskurs deshalb eine wichtige Rolle zu.

AUSKLANG
43 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Raumtheater und Sozialpalast

Die Gegenwart entdeckt die Wohnbauexperimente der letzten 60 Jahre neu. Das Raumschiff ist eine häufige Assoziation; selten wurde sie so weit getrieben wie bei dem Wohnkomplex «Walden 7», den Ricardo Bofill und seine Mitarbeiter 1975 in Barcelona erstellten.

Am besten beginnt man mit dem Blick von oben. Aus hundert Metern Höhe erscheint die Gebäudemasse wie eine gewaltige vertikale Kasbah mit fünf Innenhöfen. Dieses Luftbild ist auch ohne Hubschrauber zu haben, denn direkt neben dem Wohnhochhaus aus den 1970er-Jahren ragt ein ehemaliger Industrieturm auf, der heute als Restaurant dient. In der Ferne jenseits der Vorortlandschaften blinkt das Mittelmeer, und links unten liegt das Büro Taller de Arquitectura von Ricardo Bofill in den Betonzylindern einer alten Zementfabrik.

Entspannt suggestiver Komplex

Unten auf der Strasse geben die Glasfenster der hohen Eingangstüren zunächst nur wenig vom Raumspektakel im Innern preis. Doch die Begehung der fünf Innenhöfe und der Laubengalerien, die die 446 Wohnungen über ein komplexes Erschliessungssystem vernetzen, entwickelt sich wie die Szenografie eines Kinofilms – möglicherweise unter der Regie von Orson Welles.[1]

Im offenen Erdgeschoss meint man für wenige Augenblicke, ein gotisches Kirchenschiff zu betreten. Lichtstrahlen, in denen Staubpartikel auf frisch gewischte Kacheln rieseln, dringen bis zum Boden durch. An den abgeschalteten Wasserspielen vorbei weckt ein Spaziergang durch die engen Treppenläufe und dramatischen Lichtwechsel eine hypnotische Faszination, verstärkt durch das Terrakottarot und Türkisblau der Wände. Die Suggestionskraft ist stark genug, um den Besucher mit dem Gedanken zu verführen, in die Gegenwelt eines wachsenden Organismus einzutauchen.

Im Gegensatz dazu erzählen die Obergeschosse und Gemeinschaftsräume von der entspannten Aneignung der Bewohner – sei es die Tischtennisplatte gegenüber der Briefkastenwand im Erdgeschoss, Blumentöpfe und Wäscheständer in den Balkonbuchten oder der weiss gekachelte Zugang zur Parkgarage, der umlaufend mit Gedichten von José Agustín Goytisolo (1928–1999) beschrieben ist, einem der bedeutendsten katalanischen Dichter, Freund Ricardo Bofills und enger Mitarbeiter des Büros.

«Walden 7, das ist kein Gebäude, sondern eine Lebenseinstellung», erklärt die Architektin und Komponistin Anna Bofill, Schwester von Ricardo, die eine Maisonettewohnung am Südostrand des Gebäudes mit Blick zum Meer bewohnt.[2] Die Anspielung auf die Gesellschaftsutopien Henry David Thoreaus und Burrhus Frederic Skinners war in der Planungs- und Realisierungszeit zwischen 1970 und 1975 Programm.

Ausgehend von der Hypothese, dass gebauter Raum soziale Verhältnisse direkt beeinflusst, hat Ricardo Bofill in seiner Autobiografie «Architecture d’un Homme» (1978) Walden 7 als ein Avantgardeprojekt bezeichnet, das als psychologisches Experiment Bewusstsein und Lebensweise der Bewohner verändern sollte.[3] Zugleich ist das Projekt als Gegenthese zum modernistischen Wohnungsbau der Nachkriegsmoderne und zur Gesellschaft der Franco-Diktatur zu verstehen.

Die hygienistische Forderung nach Transparenz, Licht, Luft und Sonne verwandelt sich im heissen Spanien in ein verschachteltes und schattiges Labyrinth, das Wohnungseinheiten von 30 m² zu Clustern unterschiedlicher Grösse addiert und entlang diagonaler Achsen im Raum verschiebt. Eine Kreuzung aus Raumtheater und Sozialpalast hatten die Mitarbeiter von Taller de Arquitectura im Sinn, mit dem Ziel, die Kleinfamilie aufzubrechen und stattdessen «selbstständige Individuen» und die Mikrogesellschaft der Bewohner direkt zueinander in Bezug zu setzen.

Urbane Gegenwelten

Mehrere Projekte gingen dem Experiment voraus – etwa das Sozialwohnungsbauquartier Barri Gaudí in Reus (erster Bauabschnitt 1966–1968) oder die ungebaut gebliebene Raumstadt für Madrid (La Ciudad en el Espacio, 1968–1970), deren 1500 Wohnungen als evolutionäres System in Selbstbauweise wachsen sollte. Doch keiner der realisierten Vorläufer reizte die damaligen Grenzen des Mach- und Zumutbaren so aus wie Walden 7. Ein in sich geschlossenes Universum, das sich entschieden von der urbanen Aussenwelt abgrenzt, diese als irreal erscheinen lassen will und in dem die Bewohner mit möglichst wenig Mobiliar und Gegenständen sich in halbdunklen Raumzellen «mit sich selbst konfrontieren» sollten.[4]

Im Grundriss wurde diese Vorgabe insofern umgesetzt, als die Raumeinheiten in etwa gleich gross waren und kein Wohnzimmer in den Mittelpunkt rückten. Stattdessen gruppierte sich ein Raumplan en miniature um ein teppichbelegtes «Conversation-pit»: Auf der einen Seite steht ein Bett, auf der anderen ein Tisch, den eine Leinwand von der dahinter in den Boden eingelassenen Badewanne abtrennt. Sodass «Gäste hier Dias projizieren können, während man ein Bad nimmt». Dies schlug der britische Architekturkritiker Geoffrey Broadbent 1975 in «Architectural Design» vor und umschrieb damit die Bandbreite des freizügigen Lebensexperiments.

Utopie und Realität

Wie weit die Gesellschaftsutopie gehen sollte, zeigt sich ebenfalls am ursprünglichen Vorhaben, hier keine Wohnungen, sondern Anteile am Raumvolumen zu verkaufen, womit jeder Käufer auch Miteigentümer der Gemeinschaftsräume geworden wäre. Dies erwies sich als genauso wenig durchführbar wie die zunächst anvisierten Gemeinschaftsküchen. Realisierbar wurde das Projekt schliesslich durch die Finanzierung einer katalanischen Bank und den Verkauf von Wohnungen durch subventionierte Eigentümerkredite. Doch das Experiment hatte seinen Preis: Die Bewohner waren bald mit Bauschäden konfrontiert, mussten sich mit Rissen im Fussboden, Wasserschäden und herabfallenden Kacheln arrangieren, die jahrelang von Netzen über den Innenhöfen und entlang der Passerellen aufgefangen wurden.

Im Oktober 1988 beschrieb der Kritiker Manfred Sack das Projekt in der Bauwelt als Albtraum einer monumentalen Bauruine. Ein Jahr später ging es nach der Insolvenz des Bauunternehmers in den Besitz der Gemeinde Sant Just Desvern über. Diese übergab die Sanierung einer Public-Private-Partnership-Gesellschaft, löste durch einen Quartierentwicklungsplan die Inselsituation im Industriegebiet auf und bettete Walden 7 in ein neues Wohnquartier ein. Die ursprüngliche Kachelfassade wurde durch farbigen Putz ersetzt, und einige Wohnungen erhielten auf Wunsch der Eigentümer zusätzliche Fenster, von aussen durch vertikale Ziegelmauerwerkstreifen an den Fassadenrhythmus angepasst. Die mit Mauerwerk ausgefachte Pfosten-Riegel-Konstruktion aus Stahlbeton war für solche Umbauten flexibel genug.

Nach zwanzig Jahren kontinuierlicher Aufwertung von Wohnkomfort und Immobilienpreisen hat Walden 7 inzwischen seinen festen Platz in der Baugeschichte Barcelonas und als Wohnort der urbanen Eliten der Stadt. Vertreter der lokalen Politik- und Kulturszene schätzen das Architekturexperiment genauso wie die Kombination aus Zusammenleben und individuellem Lebensstil. Was bleibt, ist die Erinnerung an ein kollektives Experiment, das als Utopie im modernen Sinn neue Gesellschaftsformen ausprobieren wollte und dessen Wohnqualität sich am flexiblen Grundriss und der Gestalt der Zwischen- und Zugangsräume ausmachen lässt – auch wenn der Glaube der Moderne, allein durch gebaute Formen «Gesellschaft» prägen zu können, hier an genauso harte Grenzen prallte wie bei den Avantgarden der 1920er-Jahre.

Der Artikel erschien erstmals im Baumeister Nr. 4 (2014), S. 74–83.


Anmerkungen:
[01] Die Affinität der Mitglieder von Taller de Arquitectura zum Avantgardekino und zu Orson Welles im Besonderen zeigt sich auch anhand der Projektnamen vorhergehender Bauten, z. B. «Xanadu» (La Manzanera, 1966–1968) oder «Kafka’s Castle» (Sitges, 1966–1968).
[02] Gespräch mit der Autorin im Oktober 2011.
[03] Ricardo Bofill: Architecture d’un homme, Paris: Arthaud, S. 56–58.
[04] A. a. O, S. 56 und 63.

TEC21, Fr., 2016.11.25

25. November 2016 Anne Kockelkorn

Die Stadt als Hintergrund

Die Wiederaufbauprojekte am Vieux Port in Marseille legten den Grundstein für den Erfolg Fernand Pouillons als Architekt im Wohnungsbau der Nachkriegsjahre. Im Gesamtwerk Pouillons stehen diese Entwürfe an einem frühen Zeitpunkt.

Alle Themen, die das Œuvre Fernand Pouillons zu einer eigenständigen Position im Kontext der Nachkriegsarchitektur machen, sind im Vieux Port angelegt: sein Verständnis von Raumbildung, von Material und Handwerklichkeit, aber auch von der Entstehung von Architektur als einem kollektiven Prozess. Nicht zuletzt aber natürlich seine Haltung zum Verhältnis von Architektur und städtischem Raum.

Der Vieux Port bildet stadträumlich wie auch ideell das Zentrum von Marseille. Bis heute stellt der Hafen mit seinen urban gefassten Rändern faktisch den grössten Platz der Stadt dar. Die Kriegszerstörungen am Nordufer des Vieux Port waren nicht die Folge einer Bombardierung, sondern einer grossflächigen kontrollierten Sprengung, durchgeführt von der Vichy-Regierung auf Druck der deutschen Wehrmacht.

Die Geschichte der Stadtplanung im Marseille der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist vor allem der Versuch einer Neuordnung des Stadtzentrums, die durch den Ausbau des Handelshafens «La Joliette» sowie durch die neuen Verkehrsmittel notwendig geworden zu sein schien. Zugleich ist die Zwischenkriegszeit bis weit in die Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg aber auch eine Epoche des Ringens zwischen den Prinzipien der Ecole des Beaux Arts einerseits und den Methoden des funktionalistischen Städtebaus, wie sie sich in der Charta von Athen 1933 manifestieren, andererseits. Konkret wurden in Marseille in Folge mehrere urbanistische Masterpläne zur Entwicklung der Stadt erarbeitet und auch wieder verworfen, die dieses Ringen deutlich abbilden.

Die Sprengung des Hafennordrands im Kriegsjahr 1943 fiel in die Zeit, in der Eugène Beaudouin direkt durch die Vichy-Regierung als Stadtplaner für Marseille eingesetzt war. Beaudouin, zuvor Partner des Funktionalisten Marcel Lods, plante weitreichende Infrastruktur- und Sanierungsprojekte, die in ihrer Rigidität den autoritären Geist der Zeit widerspiegeln. In diesem Klima – die «Grands Travaux de Marseille» hatten bereits begonnen – scheint die Stadtregierung willfährig bereit gewesen zu sein, die Sprengungen durchzuführen.

Eine gemässigtere Haltung

Mit der Befreiung Frankreichs 1944 beginnt die Kontroverse um den Wiederaufbau des Hafennordrands. Nach einem Wettbewerb 1946 wird Roger Henri Expert «architecte en chef de la reconstruction» und entwickelt ein modernistisches Bebauungskonzept mit einer durchlaufenen Zeile und Turmhäusern. Bereits 1948 wird Expert durch André Leconte ersetzt, der das Projekt zunächst mit grösserer Rückendeckung weiterbearbeitet. Ein politischer Wechsel auf lokaler wie auch nationaler Ebene lässt jedoch auch das Projekt Lecontes unter Beschuss geraten. Fernand Pouillon und André Devin – beide hatten gemeinsam am Wettbewerb 1946 teilgenommen – werden zunächst beauftragt, Varianten für die Fassaden zum Hafen zu entwickeln. Schliesslich übernehmen sie das gesamte Projekt unter der Oberleitung von Auguste Perret als «architecte en chef».

Das Projekt von Pouillon und Devin baut auf der vorangegangenen Planungsarbeit auf, überformt diese jedoch in wesentlichen Punkten: Der ursprünglich durchgehend geplante Baukörper wird in Häuser zerlegt, drei platzartige Aufweitungen sollen die Anbindung des dahinter liegenden Quartiers verbessern. Hafenseitig wird die bewegte Silhouette des Vorgängerprojekts zugunsten einer durchgehenden Traufhöhe beruhigt.

Eine dem ursprünglich geplanten Gebäudeperimeter vorgestellte Fassadenschicht von 4 m Tiefe schafft Loggien für die Wohnungen sowie eine durchlaufende öffentliche Arkade im Erdgeschoss. Der Ausdruck der Gebäudefront zum Hafen wird vereinheitlicht. Die Gebäude wurden als Stahlbetonskelettbauten erstellt, deren Fassaden selbsttragend mit Kalkstein verkleidet wurden. Im Bereich der Loggienschicht experimentierten die Architekten mit einem Verfahren, das einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg Fernand Pouillons als Architekt und später auch als Unternehmer im Wohnungsbau leisten sollte: Selbsttragend gemauerter Naturstein wurde als verlorene Schalung mit bewehrtem Beton hinterfüllt. Der disziplinierte Materialkanon aus Kalkstein, Beton und Keramikelementen prägt die ruhige Erscheinung der Häuser.

Insgesamt kann Pouillon am Vieux Port rund 500 Wohnungen realisieren, dazu nochmals 200 im benachbarten Projekt «La Tourette».

Diese Marseiller Projekte legten den Grundstein für den anschliessenden Erfolg Pouillons im Wohnungsbau. Die Neubebauung am Quai du Port wurde in der Öffentlichkeit stark diskutiert und begründete so den grossen Bekanntheitsgrad von Fernand Pouillon. Die Ablösung Lecontes fand keineswegs nur Zustimmung. Seine Rückendeckung erhielt das Duo Pouillon/Dévin vor allem durch die Verbindung mit Auguste Perret als nominellen Chefarchitekten des Projekts. Galt Perret bereits in der Zwischenkriegszeit weithin als Lichtgestalt, die der französischen Architektur zu einer neuen Klassik verholfen hatte, so nahm er spätestens in der Phase des Wiederaufbaus die Rolle einer zentralen Autorität ein, die das Vertrauen höchster Regierungsvertreter genoss.

Architektur als kollektive Leistung

Pouillon pflegte wie Perret ein Selbstbild als «architecte-constructeur». Ganz im Sinn seines vormaligen Professors verfolgte er einen ganzheitlichen Anspruch des Bauens auf den unterschiedlichen Massstabsebenen: Städtebau, Architektur und Konstruktion.

Dank den technischen Optimierungen am Quai du Port und bei «La Tourette» erreichte Pouillon eine signifikante Kosteneinsparung im Vergleich zu konventionellen Geschosswohnungsbauten. Auf der Welle dieses Erfolgs gründete er die «SET» (Société d’Etudes techniques), eine Dachorganisation, die verschiedene Gewerke unter seiner Leitung zusammenfasste. Als eine Art Generalunternehmer konnte er so seine Bauten mit Kosten- und Terminsicherheit anbieten.

Es folgte eine rege Bautätigkeit: erst in Aix-en-Provence, später in Algier und in Paris, wo er qualitativ hochstehende Überbauungen mit schwindelerregenden Wohnungszahlen realisieren konnte. Bei seinen Grossprojekten an der Peripherie von Paris trat Pouillon schliesslich auch als Mitinvestor auf, wodurch er zu Beginn der 1960er-Jahre in Schwierigkeiten geriet, die für ihn mit einem Konkursverfahren und einer Haftstrafe endeten. Die spektakuläre Geschichte seines Gefängnisausbruchs, seines Untertauchens, Sich-Stellens und seines durch die Boulevardpresse intensiv dokumentierten Gerichtsverfahrens sei hier nur am Rand erwähnt.

Erwähnt sei jedoch, dass er seine Haftzeit dazu nutzte, das Buch «Les Pierres sauvages» zu verfassen, das viel über seine Haltung zur Architektur aussagt. Geschrieben aus der Sicht eines Zisterziensermönchs und Baumeisters des 12. Jahrhunderts, dokumentiert es die Begeisterung Pouillons für die konstruktive Präzision und die typologische Strenge der zisterziensischen Klosterbauten. Aber auch ein Verständnis von Architektur als kultureller Kollektivleistung spiegeln die Bauten dieses strengen Ablegers des Benediktinerordens wider: Ihr Modul ist nicht der Backstein, dessen Format darauf angelegt ist, dass ihn ein Handwerker allein vermauern kann, sondern der gewaltige Steinblock, der nur im Kollektiv bewegt werden kann. Dieses Verständnis ist prägend für die Haltung Pouillons: Die Architektur bildet Rahmen und Hintergrund eines kultivierten Zusammenlebens. Das architektonische Objekt wird nie nur als Solitär verstanden.

Gefasster Raum

Die Quaibebauung am Vieux Port zielt stark darauf ab, den Alten Hafen als zusammenhängende urbane Raumfigur erlebbar zu machen, gerade wenn man sie mit den Vorläuferprojekten vergleicht, die als modernistische Kompositionen durch unterschiedliche Bauhöhen eine markante Silhouette bilden wollten. Pouillon sucht mit durchgehender Traufe und repetitiven Fassaden im Gegenteil dazu den Zusammenschluss der Bebauung inklusive der gegenüberliegenden Seite zu einer Fassung des riesigen Freiraums. Dies ist das Kernthema seiner Architektur: Bei der Frage nach dem Verhältnis von Figur und Grund kommt dem gefassten Raum das grössere Gewicht zu als dem architektonischen Objekt.

Auch hier wieder bietet seine Begeisterung für die Bauten der Zisterzienser einen Schlüssel zum Verständnis: Prägendes Motiv dieser Klöster ist die scharf umrissene Raumfigur des Kreuzgangs im Zentrum der Anlage. Besonders deutlich lassen sich diese architektonischen Anliegen am Projekt «La Tourette» ablesen, dem zweiten Bauensemble, das Pouillon zusammen mit René Egger in der Nähe des Vieux Port realisieren konnte. Das Projekt umfasst rund 200 Wohnungen, die in mehreren Baukörpern unterschiedlicher Geschossigkeit um einen rechteckigen Platz gruppiert sind. Die Frage nach dem Zusammenhalt des städtischen Raums über Proportion und Materialisierung ist bei «La Tourette» besonders differenziert beantwortet.

Auch hier kommt durchwegs Kalkstein zum Einsatz, auch wieder die ökonomische Verwendung des Natursteins als verlorene Schalung einer Stahlbetonkonstruktion. Anders als bei der repetitiven Bebauung am Quai du Port ist das Verhältnis von Einheitlichkeit und Diversität besonders differenziert ausbalanciert. Vielleicht spürt man, dass auf diesem Projekt weniger der Druck des öffentlichen Diskurses lastete als auf der Bebauung direkt am Vieux Port. Die souveräne Nonchalance, mit der Pouillon die Erfahrungen der Moderne mit Aspekten traditioneller Architektur verbindet, erreicht bei «La Tourette» ein Niveau, das seinesgleichen sucht. Diese Souveränität spiegelt sich in der Behandlung des Gesamtvolumens und in der Detaillierung wider, wo die unaufgeregte Disziplin der Bauten es nicht ausschliesst, zugleich moderne Skulptur zu integrieren wie auch handwerkliche Details von verspielt-rustikaler Anmutung.

Um nochmals auf Pouillons Verständnis vom Aussenraum, vom Figur-Grund-Verhältnis zurückzukommen, möchte ich an dieser Stelle einen vergleichenden Blick auf ein späteres Projekt ausserhalb von Marseille werfen: auf das Projekt «Deux Cents Colonnes» innerhalb der Gesamtüberbauung «Climat de France» in Algier. Hier wurden von Pouillon über 400 Sozialwohnungen in einer Platzfigur zusammengefasst, die sich explizit am Maidan der persischen Stadt Isfahan orientiert. Dieses Projekt kann als Schlüssel zum Verständnis des räumlichen Ideals bei Pouillon gesehen werden: In radikalerer Form finden wir hier die städtebauliche Figur von «La Tourette» wieder, aber auch das Motiv des Kreuzgangs sowie nicht zuletzt seine Lesart des Alten Hafens von Marseille als gefasstem städtischem Platz.

Der umbaute Aussenraum als urbaner Hintergrund von kultivierter Selbstverständlichkeit – das ist die spezifische Qualität der Bauten Fernand Pouillons.


Weiterführende Literatur:
Jean-Lucien Bonillo: «Fernand Pouillon, architecte méditerranéen», Edition Ibernon, Marseille 2001.
Stadtbauwelt 1998/24, René Bourruey: «Geschichten vom Städtebau in Marseille 1931–1949».
Vittorio Magnano Lampugnani: «Die Stadt im 20. Jahrhundert: Rationalistischer Klassizismus – A. Perret und F. Pouillon als Stadtbauer», Wagenbach, Berlin 2010.
Bernard Félix Dubor: «Fernand Pouillon», Electa, Paris 1986.

TEC21, Fr., 2016.11.25

25. November 2016 Dominik Fiederling

Nach innen gerichtet, von aussen bestimmt

Als Insel und Hafenstadt konzentriert sich Sète auf sich selbst und reagiert über die Hafenaktivitäten zugleich empfindlich auf äussere Veränderungen. In der aktuellen Wirtschaftskrise schreibt der öffentliche Diskurs dem «Anderen» deshalb eine zentrale Rolle zu.

Die Mittelmeerstadt Sète entstand Ende des 17. Jahrhunderts infolge einer Hafengründung. Den Ort kennzeichnet eine besondere Lage: Während der Küstenbereich des Golfe du Lion aus einer flachen, sumpfigen Lagunenlandschaft besteht, liegt die Stadt am Fuss des knapp 200 m hohen Mont Saint-Clair, der im Norden an den Etang de Thau grenzt und im Süden ans Meer. Verbindungen zum Festland beschränken sich auf zwei entfernte Stellen: Seit jeher versteht sich die Hafenstadt als Insel.

Stolz erzählen sich ihre Bewohner den Gründungsmythos: Ruhmreich sind Hafen und Stadt dem Willen des Sonnenkönigs geschuldet, da Ludwig XIV. – auf der Suche nach einem Standort für einen Mittelmeerhafen zum Schutz der königlichen Flotte und zur Ankurbelung des Aussenhandels im darbenden Frankreich – 1666 den Bau eines Hafens am Kap von Sète beschloss. Diese erste auswärts getroffene Entscheidung wird als glückliche Fügung begriffen: Der Kanal, der durchs Stadtzentrum führt, den Etang de Thau mit dem Meer verbindet und den Canal du Midi ins Meer münden lässt, heisst noch heute Canal Royal.

Tatsächlich ist die gesamte Entwicklung der Stadt von äusseren Kräften geprägt. Mehrere Festungsbauten entstanden als Reaktion auf eine Hafenein­nahme durch die Engländer 1710, und nachdem die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs Hafeninfrastruktur und Teile der Stadt zerstört hatten, wurden im Norden der Insel neue Wohngebiete erschlossen. Diese Entwicklung setzte sich in der ­Nachkriegszeit fort mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, dem Geburtenzuwachs sowie der Zuwan­derung aus dem unabhängig gewordenen Algerien. Die jüngsten Stadterweiterungen im Westen der Stadt schliesslich hängen mit der Zunahme touristischer Zweitwohnsitze und dem Zuzug von Rentnern aus dem Norden zusammen.

Die Abhängigkeiten des Hafens

Äusseren Einflüssen ausgesetzt und von ihnen geprägt ist die Stadt auch wegen ihres Hafens. Einen ersten grossen Aufschwung verdankte er in den 1860er-Jahren dem Handel mit Wein: Ein Fünftel des französischen Weinexports wurde über Sète abgewickelt, und der Handelshafen zählte zu den grössten Frankreichs. ­ Zudem förderte der Weinhandel den Holzimport zur Produktion von Holzfässern; die weiten Flächen, auf denen Fässer am Quai umgeladen wurden, prägten das Stadtbild jahrzehntelang. Die zu­nehmende Konkurrenz «von aussen» – ausländische Weine und die Reblauskrise seit den 1870er-Jahren – hatten jedoch dazu geführt, dass sich Sète innert kürzester Zeit von einem Export- zu einem Importhafen umdefinieren musste; mit dem Aufkommen von Tankschiffen in den 1930er-Jahren wurde die Fassherstellung obsolet.

Die unmittelbare Abhängigkeit der Hafenstadt von Wirtschaftslagen, technischen Neuerungen oder ökologischen Veränderungen prägt die Befindlichkeit der Bevölkerung stark. Im Zusammenhang mit der Schweiz zeigt dies auch folgende Anekdote: Als während des Ersten Weltkriegs kurzzeitig ein Teil des Schweizer Aussenhandels über Sète erfolgte, hoffte man in Sète, dass die Schweiz der Hafenstadt auch nach dem Krieg dauerhaft zu wirtschaftlichem Aufschwung verhelfen würde. Obwohl sich dieser Wunsch nicht erfüllte (ein lokaler Beobachter führte dies auf die selbstgefällige Einstellung und fehlende Bereitschaft der Hafenleitung zurück), berichten die Stadtbewohner noch hundert Jahre später stolz, ihre Stadt sei als «der Hafen der Schweiz» berühmt.

Einen zweiten Boom erlebte Sète in der Nachkriegszeit, als es zu einem bedeutenden Petrolhafen anwuchs und sich – bis zu ihrer Schliessung im Zug der europäischen Desindustrialisierung – Raffinerien und chemische Industrien niederliessen. Die damalige Zeit ist von Visionen und selbstbewussten Entscheidungen geprägt.

Als Anfang der 1960er-Jahre der frisch gewählte Präsident Charles de Gaulle mit der «Mission Racine» die touristische Erschliessung des Languedoc in Angriff nahm, verweigerte der Bürgermeister von Sète die Teilnahme am grossräumigen Entwicklungsprogramm (aus dem als prominentestes Beispiel der Ferienort La Grande Motte hervorging). Sète mit seinem florierenden Handels- und Industriehafen definierte sich nicht als Badeort, sondern entwickelte sich damals von innen: Brücken und Markthallen wurden erneuert, und 1968–1973 entstand auf einer künstlich im Etang de Thau geschaffenen Insel die Grosswohnsiedlung Ile de Thau für 6000 Bewohnerinnen und Bewohner. 1979 war Sète der neuntgrösste Hafen Europas.

Inselmentalität als Konstante

Inzwischen sind die damaligen Neubauten sanierungsbedürftig und einstige Zukunftsvisionen bitter enttäuscht. Besucht man die Hafenstadt heute, so fallen bei den Hafenanlagen im Stadtzentrum zwei entgegengesetzte Gestaltungs- und Nutzungskonzepte auf, die sich zugleich aufeinander beziehen wie gegenseitig ausschliessen. Sie lassen sich mit dem Antagonismus «alt/neu» respektive «Bewahrung/Erneuerung» beschreiben und bemühen beidseitig verführerische Bilder. Der erste der beiden Diskurse ist nach innen und zurück gerichtet; er konzentriert sich auf die Fischerstadt. Tatsächlich hat der Fischfang in Sète lange Tradition; seit den 1960er-Jahren entwickelte er sich zudem zu einem wichtigen Industriezweig.

Ein drastischer Rückgang der Fangmengen in den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat den einst grössten Fischereihafen der französischen Mittelmeerküste empfindlich getroffen. Umso vehementer verteidigen die verbleibenden Fischer ihre Präsenz im Stadtbild: Grosse, teils jahrzehntealte Boote legen im Canal Royal an; auf den gepflasterten Quais sind Fischernetze und Ölfässer deponiert. Vor der zentral gelegenen Fischversteigerungshalle ist der Asphalt seit Jahren stark beschädigt; die Händler, die dort täglich mit ihren Gabelstaplern Paletten von Fisch umladen, scheinen sich daran aber nicht zu stören – im Gegenteil. Wenn im Gespräch viel geschimpft wird, so vorab über jene, die die Fischerei, so der Grundtenor, aus dem Hafen verdrängen: Gemeint sind die Anhänger der «plaisance», des Jachthafens.

Von ihm geht der zweite Diskurs aus. Er ist nach aussen und nach vorn gerichtet und hat den Freizeithafen im Blick. Viel Geld ist in den letzten Jahren in seine Erweiterung geflossen, von der man sich neue Einkommensquellen verspricht. Erneut sind es «die Anderen», Fremden, Reichen, die man sich herbeiwünscht, um die lokale Wirtschaft anzukurbeln. Dabei grenzen sich die neu gestalteten Räume des Jachthafens ästhetisch von den «alten» ab: Breite, leere Quais mit glatten Bodenbelägen und Palmen zeichnen das Bild eines luxuriös geprägten Südens und sollen zum Flanieren und visuellen Konsumieren einladen – sofern nicht hohe Zäune und Überwachungskameras Öffentlichkeit von vornherein ausschliessen.

Beide Diskurse sind bezeichnend für die geschwächte Position einer Insel in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und ohne klare Zukunftsvisionen. Während die einen aus Angst vor Identitätsverlust mit einer Rückbesinnung auf «gute alte Zeiten» reagieren und Fremdem mit Argwohn begegnen, erbitten sich die anderen äus­sere Hilfe. Wahrscheinlicher ist, dass die Hafenstadt einen dritten Weg einschlagen muss, um an Selbstbewusstsein und Stärke zu gewinnen: sich nach aussen öffnen und den Inselstatus mental aufgeben.


Weiterführende Literatur:
«La Suisse en Languedoc. Cette port Suisse». Konferenzschrift, Sète/Montpellier 1919.
Mario Comby, «Le port de Cette», in: Annales de Géographie Bd. 30, Nr. 168, 1921, S. 416–427.
Max Daumas, «L’essor du port de Sète», in: L’infor­mation géographique Bd. 24, Nr. 4, 1960, S. 148–156.
Jean Sagnes (Hrsg.), Histoire de Sète, Pays et villes de France. Editions Privat, Toulouse 1987.
Bernadette Fülscher, Yacine Meghzili, «Séduction et exclusion. Le double (en)jeu des espaces publics de la ville portuaire Sète», unveröffentlichtes Vortrags­manuskript, 2014. Der Vortrag an einer Tagung der Ecole Nationale d’Architecture et d’Urbanisme de Tunis und des Netzwerks International Ambiances gründet auf einer Studie der beiden Autoren. Ihr ist auch dieser Beitrag zu verdanken.

TEC21, Fr., 2016.11.25

25. November 2016 Bernadette Fülscher

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