Editorial

In der Reihe der beliebten Länderhefte richtet die db im Juli 2016 den Blick auf eine – zu Unrecht! – wenig bekannte Architekturszene; sie braucht den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Von »Ostalgie« kann auf gestalterischer Ebene keine Rede sein, und selbst wenn im Wohnungsbau Tendenzen zum Rückzug ins Private sichtbar werden, so gibt es in Polen in den Bereichen Kultur und Wissenschaften doch umso mehr zu entdecken! | Achim Geissinger

Städtebauliche Anschubhilfe

(SUBTITLE) Internationales Kongresszentrum MCK in Kattowitz ­(Katowice)

Über die Jahre wurde ein mitten in der Stadt gelegenes Zechengelände zum Kulturareal umgestaltet. Das Kongresszentrum MCK versucht den Spagat zwischen enormer Baumasse und wie selbstverständlich wirkender Parklandschaft. Begehbare Gründächer und expressive Formen machen den Neuzugang unverwechselbar und zum beliebten Aufenthaltsort. Der Mangel an städtebaulicher Vorplanung ließ sich dadurch aber leider nicht ausgleichen.

In der postindustriellen Stadt Kattowitz in Oberschlesien sind sich die Befürworter und die Gegner des modernen Städtebaus bis heute nicht einig geworden. Die Diskutanten identifizieren sich jeweils mit zwei sehr unterschiedlichen Stadtfragmenten. Der südliche Teil der Innenstadt, der bis zum Ende der 30er Jahre errichtet wurde, weist eine Blockrandbebauung mit einem traditionell angelegten Netz aus intimen Straßen und Plätzen auf, die heute mit gutem Willen problemlos in vollwertige öffentliche Räume umgestaltet werden könnten. Der nördliche Teil der Innenstadt ist in der Zeit entstanden, in der Kattowitz zum repräsentativen Bergbauzentrum des kommunistischen Polen wurde, als konsequente, abstrakte Komposition aus einzelnen freistehenden Großobjekten. Den Schwerpunkt dieses Bereichs, der heute als Zentrum der Stadt gilt, bildet ein großer Kreisverkehr, an dem sich die breite Korfanty-Allee und eine mehrspurige Durchgangsstraße treffen.

Als Point de vue schiebt sich eine expressive Sport- und Konzerthalle in die Perspektive der Allee. Aufgrund ihrer ausdrucksstarken Form von den Bewohnern als Untertasse (Spodek) bezeichnet, steht die Großform beispielhaft für die modernistische Architektur der frühen 70er Jahre (s. auch db 7/2008, S. 14-16).

Der Streit um die städtebauliche Identität der zukünftigen Straßenräume in Kattowitz erreichte 2006 seinen Höhepunkt beim Wettbewerb für den Umbau des Stadtzentrums. Der Siegerentwurf sah rund um die modernistische Korfanty-Allee eine dichtere Bebauung und qualitativ hochwertigen öffentlichen Raum in einem für die Menschen überschaubaren Maßstab vor. Die Idee wurde von den Verfechtern des von Le Corbusier propagierten Architekturstils blockiert. Sie befürchteten die Zerstörung zahlreicher einzigartiger Objekte der modernistischen Ära. Das Ergebnis der Debatte überraschte die Stadtplaner und Architekten aus vielen anderen Städten Polens, die mitunter bereits seit zwei Jahrzehnten die Rückkehr zur traditionellen Städteplanung befürworteten und in die Tat umsetzten.

Die Kattowitzer Behörden haben die Korfanty-Allee deshalb ein Jahrzehnt lang außer Acht gelassen und stattdessen ab 2000 eine alternative Vision der Innenstadt verfolgt.

Auf einer Fläche von 20 ha in unmittelbarer Nähe zum »Spodek«, an der Stelle des aufgelassenen Bergwerks Katowice, wurde eine sogenannte Kulturzone errichtet. Sie besteht aus drei benachbarten repräsentativen öffentlichen Gebäuden: dem Schlesischen Museum, der Philharmonie des Nationalen Symphonieorchesters des Polnischen Rundfunks und des Internationalen Konferenzzentrums (MCK – Międzynarodowe Centrum Kongresowe w Katowicach). Das mehr oder minder gleichzeitige Entstehen dreier wichtiger Kulturstätten mit attraktiver Architektur führte zur Verdopplung des Reiseverkehrs. Dennoch stieß die Kulturzone auf ernst zu nehmende Kritik vieler Planer und Stadtaktivisten: Der neue Innenstadtabschnitt neben der stark befahrenen Hauptverkehrsstraße beeindruckt zwar durch ikonische Objekte, aber eben nicht durch den öffentlichen Raum dazwischen, dessen Potenzial ungenutzt bleibt. Die alte modernistische Sünde der Separierung von Funktionen wurde hier wiederholt. Auch das Zusammenbinden umliegender Stadtteile oder gar das Einbeziehen der benachbarten Städte, die zusammen mit Kattowitz einen der bevölkerungsreichsten Ballungsräume in Polen bilden, unterblieb. Zwischen den Gebäuden fehlen attraktive Funktionsbereiche, die städtisches Leben hervorbringen könnten. Die sporadische Bespielung der weitläufigen Parkplätze mit pointierten Kunstaktionen, Street Art und alternativer Musik allein wird aus diesen überdimensionierten Räumen noch keine Kulturlandschaft, geschweige denn einen innerstädtischen Ort machen. Es ist der Kulturzone anzumerken, dass sie ohne einen Masterplan, lediglich auf der Grundlage schnell erstellter Raumstudien entstand – eine Art Improvisation, das Ergebnis einzeln ausgeschriebener Architekturwettbewerbe.

Man darf jedoch betonen, dass sich die ausgewählten Architekturbüros durchaus Mühe gaben, auf den jeweils zugewiesenen Parzellen wertvollen öffentlichen Raum zu schaffen. Die Grazer Riegler Riewe Architekten haben das Schlesische Museum (s. db 7-8/2016, S. 40) ganz unter die Erdoberfläche verlegt und auf dem Dach eine öffentliche Terrasse mit Blick auf das Stadtpanorama eingerichtet. Die schlesischen Architekten der Philharmonie haben ein kompaktes Gebäude in der Grundstücksecke entworfen, sodass vor dem Haupteingang ein Platz in einem traditionellen städtischen Maßstab mitsamt Springbrunnen entstehen konnte. Die gesamte Anlage ist von einem attraktiven Garten umgeben.

Rettungsversuch

Das Architekturbüro JEMS aus Warschau hat bei der Planung des dritten Gebäudes einen denkbar breiten Kontext in den Blick genommen. Die Architekten wiesen bereits bei der Vorplanung auf die trennende Wirkung des ehemaligen Bergwerksareals hin. Die historischen Arbeitersiedlungen im Norden wie auch das im 19. Jahrhundert von den Bergwerkseigentümern erbaute Viertel Bogucice liegen isoliert vom Stadtzentrum. Letzteres ist eine vernachlässigte und vergessene, fast magisch zu nennende Welt für sich, mit einer Kirche auf einer Anhöhe und einer herabmäandernden Hauptstraße, die sich im Kulturareal verliert.

Die Architekten waren sich bewusst, dass ihr groß angelegtes Gebäude, das hauptsächlich für internationale Tagungen gedacht ist, für die Stadt zu einem weiteren Klotz am Bein werden könnte, v. a. aufgrund fehlender Angebote für die Bürger. So zerteilten sie den Baukörper durch einen öffentlichen Raum, der unter dem Spodek beginnt und sich in Richtung Bogucice wendet, in zwei Teile. Das auf diese Weise entstandene grüne Tal zieht die Menschen aus dem Stadtzentrum direkt in die Kulturzone und weiter auf das Bauerwartungsland zwischen dem MCK und Bogucice. Dies legt den zukünftigen Planern und privaten Investoren nahe, den öffentlichen Raum in dieser Richtung auszubauen und die getrennten Stadtteile zu verbinden.

JEMS ist eines der beachtenswertesten Planungsbüros in Polen, seine ideologischen Wurzeln reichen bis zum niederländischen Strukturalismus der 60er Jahre zurück. Die zahlreichen Projekte erheben sich über die breite Masse durch die Schaffung eines attraktiven humanistischen Umfelds für die Gebäudenutzer. Beim MCK wendet sich das Büro jedoch weitgehend von einer einheitlichen Gebäudestruktur, wie sie für fast alle seine Bauten kennzeichnend ist, ab und überrascht mit dem grünen Tal wie auch mit der Gebäudeform, die kaum auf die Funktion schließen lässt.

Die Sport- und Konzerthalle Spodek wurde zur wichtigsten Referenz. Beide Gebäude sind durch eine breite Unterführung miteinander verbunden und bilden auch auf betrieblicher Ebene eine Einheit. Die Dimensionen des Neubaus bedeuteten eine Gefahr für den ikonischen Nachbarn, den man auf keinen Fall herabmindern wollte. So gesellte man dem Spodek ein rechteckiges Gebäude bei. Der runde und helle Altbau steht dabei für ein modernistisches Spiel der Körper in der Sonne und die dunkle, aus dem schwarzen Boden emporragende Regelfläche des Neubaus bildet dazu eine Art »natürlichen« Hintergrund. Auch die schwarz lackierte, im Sonnenlicht schimmernde Streckmetall-Fassade nimmt dem Gebäude einiges von seiner Dominanz. Sie ist an den Fenstern und an den Luftauslässen weniger dicht und lässt dadurch ein leichtes Patchwork erkennen, welches unaufdringlich widerspiegelt, was sich im Innern des Gebäudes abspielt.

Das in den schwarzen, minimalistischen Körper eingefurchte grüne Band setzt sich aus dreieckigen Flächen und Treppenläufen zusammen, die zu einem Aussichtspunkt unter dem verspiegelten Dach führen. Man schaut von dort auf eine postindustrielle, im Grunde hässliche, aber doch energiegeladene Stadt, deren Bewohner auch wochentags hierher strömen.

Erst beim Betreten eröffnen sich die enormen Dimensionen des MCK. Das dunkle Foyer ist als Negativform des grünen Tals zu erleben. Wände und Decken wurden mit demselben dunklen Metall überzogen wie die Fassaden. Antoni Domicz, einer der bekanntesten polnischen Architekten schrieb:
»... das Foyer wirkt wie ein Stollen im Bergwerk, der durch den Schein der Grubenlampen ausgeleuchtet wird«.

Die Architekten haben sich im Laufe der Planungsarbeiten von ihren bevorzugten strukturalistischen Regeln immer weiter entfernt, schließlich lassen sich für einen solchen Mehrzweckbau nicht alle Nutzungsvarianten vorhersehen und vorab determinieren. In allzu starren Strukturen hätten sich die Komplexität und die Anforderungen zahlreicher Richtlinien nicht realisieren lassen. Von der Idee des Strukturalismus ist hier nur die Unterteilung in die beiden Funktionseinheiten Konferenz- und Ausstellungsbereich geblieben. Das Innere besteht letztlich aus unterschiedlichen Gebäuden, die in einem rechteckigen Kasten miteinander verbunden wurden. Eine lange, gebogene Innenstraße führt zu allen Bereichen – eine Art »Zwischenraum«, der ähnlich wie in Gebäuden von Herman Hertzberger für das hier pulsierende Leben einen groben Rahmen bildet.

Auch wenn sich die Kulturzone in Kattowitz stadtplanerisch als eine verpasste Chance erweisen sollte, werden die darin errichteten Anlagen den industriellen Geist der Region auffangen. Das Internationale Konferenzzentrum an der Stelle des ehemaligen Bergwerks erzählt vom komplizierten Kontext Oberschlesiens. Das Gebäude ist minimalistisch und konsequent, und doch voller Schwung und Leben.

Möge man so in der Zukunft auch den Charakter von ganz Kattowitz beschreiben können!

(Aus dem Polnischen von Proverb oHG)

db, Fr., 2016.07.01

01. Juli 2016 Krzysztof Mycielski

Wohlfühlräume für Nerds

(SUBTITLE) Bürogebäude in Lodz

Mit repetitiven Elementen und Fassaden aus flachen Ziegelsteinen bezieht sich das schmucke Software-Haus auf das industrielle Gefüge der Stadt, nimmt sich aber auch alle Freiheiten, einen offenen und gleichzeitig ikonischen Ort zu schaffen, ohne dabei Funktionalität und Energieeffizienz außer Acht zu lassen.

So geht’s in der IT-Wirtschaft zu. Kaum ist das neue Verwaltungsgebäude des boomenden Software-Entwicklers fertiggestellt, gibt es die Firma schon nicht mehr, resp. ist sie in der des bisherigen Hauptauftraggebers aufgegangen (nicht zum Schaden des Gründers übrigens). Vor dem Sitz der polnischen ERICPOL in Łódź wehen jetzt die Fahnen von Ericsson.

Łódź, die ziemlich in der Mitte Polens gelegene drittgrößte Stadt des Landes, hatte ihre besten Zeiten im 19. Jahrhundert, als sich das »Manchester Polens« zu einem Zentrum der Textilindustrie mit über 500 Fabriken entwickelte. Nach dem Krieg wurden die eindrucksvollen burgenartigen Backsteinfabriken baulich vernachlässigt. Viele standen leer und weitere wurden nach der politischen Wende von 1989 aufgegeben. Noch immer steht man, ähnlich wie in Chemnitz, vor der Herkulesaufgabe, die voluminösen denkmalgeschützten Gemäuer der Reihe nach zu sanieren und neuen Nutzungen zuzuführen.

Einer der profiliertesten Fabrikanten war Karl Wilhelm Scheibler, dessen Neorenaissancevilla an der Hauptachse der Stadt, der historistischen Prachtmeile Piotrkowska, steht. An seinem rückwärtigen Garten angrenzend ein ehemaliges Freibad, auf dessen Areal das Ericpol-Gebäude errichtet wurde. Weitere unmittelbare Nachbarn sind historische Arbeiterwohngebäude des Tymienieckiego Industriequartiers.

Es ist gewiss nicht die Regel, dass ein neues Bürogebäude so achtsam nach den Gegebenheiten der unmittelbaren Umgebung in seine Form gebracht wird. Wo der Baukörper seinen Platz fand, wie er sich gegen die Straße öffnet, wie er gegenüber dem historischen Arbeiterwohnhaus respektvoll zurückweicht, wie er zum Garten hin den Grünraum gleichsam umarmt, wie sich das große Volumen in zwei Trakte teilt, die sich durch Biegung dann doch in einer gemeinsamen Erschließungszone treffen, wie der Bau zwei nach innen wirksame Plazas bildet, all dies ist sorgsam ausgeklügelt, ist eine Qualität für sich und hat wesentlich zum Gewinn des Wettbewerbs beigetragen. Den Bauauftrag bekamen die Architekten von HORIZONE Studio erst, als sie die Einigung mit der Denkmalpflege nachweisen konnten, die bei Bauhöhe, Position, Rückstaffelung und Materialität erheblichen Einfluss geltend machte, aber auch bei unkonventionellen aber qualitätvollen Ideen mitzugehen bereit war.

Die Grundrisse zeigen eine »normale« Zweibundanlage, mit einer Erschließung im Zentrum, wo sich die Flügel treffen. Diese Anordnung ermöglicht eine Unterteilung und flexible, kleinteilige Vermietung des Gebäudes, das von der STRABAG als Investorenprojekt für mehr als 700 Arbeitsplätze errichtet wurde.

Im Zentrum sind auch die mit Akustikglas umfangenen Besprechungsräume angeordnet, die den attraktiven Durchblick durch das Gebäude nicht behindern. Beliebte spontane Laptoparbeitsplätze und Pausenorte sind die Dachterrassen mit gläsernen Brüstungen für den ungehinderten Ausblick ins Grüne, hier, keine 150 m von der Hauptgeschäftsstraße entfernt.

Bevor Dominik Darasz, Bartlomiej Kisielewski und Robert Strzeński 2009 in Krakau ihr gemeinsames Büro HORIZONE Studio gründeten, sammelten sie in Büros in Helsingborg, Berlin und Dublin internationale Erfahrungen. So sind sie denn auch mit den Standards vertraut und Einflüsse von David Chipperfield, aber auch von Justus Pysall, bei dem Kisielewski gearbeitet hatte, sind deutlich zu spüren. Ericpol ist der größte Bau, den sie bisher realisieren konnten. Sie gewannen damit auf Anhieb den SARP Year Award für das beste polnische Gebäude 2015 in der Kategorie öffentliche Bauten und Bürobauten, vergleichbar dem deutschen BDA-Preis, sowie eine ehrende Erwähnung beim polnischen Brick Award 2015.

Denn die aufs Feinste gemauerten Fassaden sind mit handgestrichenen, sehr flachen und hellen Ziegeln des Typs »Kolumba« verkleidet, den Peter Zumthor für das Museum Kolumba in Köln entwickelt hatte.

Trotz der langen raumhohen, horizontalen Fenster, deren Pfosten als Glasschwerter ausgeführt sind, um Diagonalblicke nicht zu stören, sowie der schmalen Loggien (zählen als Feuerüberschlagsfläche, sind aber als Austritte und Raucherecken willkommen), erscheinen die Stirnflächen der Gebäudeflügel als massivere Wände. Dagegen sind die Längsfassaden durch eng getaktete Fenster fast aufgelöst. Deren strenge, repetitive Vertikalgliederung soll an die alten Fabrikbauten erinnern. Tiefes Relief und gleichzeitig Schutz vor schräg einfallendem Sonnenlicht erhalten die Fassaden durch die perforierten Lisenen, hinter denen sich Öffnungsflügel verbergen und die mit Frontblenden in den Farben von Ericpol besetzt sind. Der Sonnenverlauf wurde während der Planung eingehend analysiert, sowohl was die Belichtung, als auch was den Energieeintrag betrifft. Süd-, Ost- und Westfassaden wurden mit einer Doppelverglasung aus Sonnenschutzglas ausgerüstet, während die Nordfassade, die im Winter größeren Wärmeverlusten ausgesetzt ist, eine Dreifachverglasung erhielt. Perforierte, sonnen- und windabhängig automatisch gesteuerte Jalousien, kernaktivierte Betondecken und das elektronische, lernfähige Energie- und Betriebsmanagement des Gebäudes entsprechen westlichen Standards.

Verglichen mit anderen polnischen Neubauten fällt aber auch die hohe Qualität der Materialität und der tadellosen Bauausführung auf. Die augenfällige Präzision trägt zur signifikanten Eleganz des Gebäudes bei, die sich ansonsten aus der Baukörpergliederung mit ihren Schwüngen und den aufgefächerten Höfen ergibt.
In den Innenräumen herrscht die Nonchalance der IT-Branche. Sichtbetondecken, weiße Gipskartonwände, Büromöbel ohne Anspruch, jede Menge Bildschirme. Man starrt auf die Screens oder entspannt sich auf dem Sofa oder beim Zimmerbasketball, bis man wieder eine neue Idee hat. Hier und da im Flur eine Tafelwand, die beim informellen Stand-up Meeting mit Funktionsschemata, Formeln und/oder Comics vollgekritzelt wird.

Die Herrschaften, die ansonsten die Flurwände »bevölkern«, haben alle irgendetwas mit der IT-Historie zu tun oder sind geradewegs gängigen Computerspielen entsprungen. Kunststudenten haben Gelegenheit bekommen, ihre Vorstellungen zum vorgegebenen Thema an die Wände zu pinseln.

Teeküchen sind in grellen Farben gehalten. In den Treppenhäusern zeigt sich wieder die gestalterische Kraft der Architekten: Mit einfachen Materialien, Beton, Stahl und jeweils einer kräftigen Farbe auf der Treppenwange sowie raffinierter Lichtführung werden aus den als Rettungswegen notwendigen Erschließungselementen fast elegant zu nennende Treppenräume, die zu begehen eine angenehme Alternative zur Aufzugsfahrt sind.

Es ist ohnehin die Stärke des Gebäudes, den Nutzern vielfache Alternativen zur Verfügung zu stellen und die Durchblicke und Ausblicke ins Haus zu holen, um den hier tätigen kreativen Nerds optimale Bedingungen zu bieten, die diese mangels Interesse von selbst nie einfordern würden, die sie aber in ihrer Arbeit mit Wohlgefühl unmerklich unterstützen. Und dies ganz beiläufig, mit Stil und Eleganz, sodass das Gebäude auch als Sitz einer großen Anwaltssozietät Staat machen könnte. Denn wer kann schon wissen, wie es Ericsson in drei Jahren ergehen wird.

db, Fr., 2016.07.01

01. Juli 2016 Falk Jaeger

Monumentale Markierung

(SUBTITLE) »Posener Tor« – Interaktives Zentrum der Geschichte der Dominsel in Posen (Poznań)

Die Ausstellung im Innern des Besucherzentrums erzählt von der Gründungsgeschichte des katholischen Polen. Das Gebäude selbst inszeniert vorwiegend den Blick auf das Hauptausstellungsstück, den Dom auf der gegenüberliegenden Flussseite. Mit seiner ambitioniert ausgeführten, extrem reduzierten Formensprache bildet es einen wohl ­gesetzten Kontrapunkt zu den historischen Bauten verschiedener Epochen rundherum.

Die Ausstellung im Innern des Besucherzentrums erzählt von der Gründungsgeschichte des katholischen Polen. Das Gebäude selbst inszeniert vorwiegend den Blick auf das Hauptausstellungsstück, den Dom auf der gegenüberliegenden Flussseite. Mit seiner ambitioniert ausgeführten, extrem reduzierten Formensprache bildet es einen wohl gesetzten Kontrapunkt zu den historischen Bauten verschiedener Epochen rundherum.

Die Posener Altstadt wird an ihrem östlichen Rand vom Flüsschen Warthe umflossen, das mit einigen Nebenarmen in früherer Zeit ein ideales Vorgelände für ausgedehnte Festungsanlagen abgab. Aber auch der Dom, die Hauptkirche des Erzbistums Posen und bedeutendes Baudenkmal der Stadt, befindet sich hier auf einer schmalen Insel, dem Ostrów Tumski. Seit dem 19. Jahrhundert wird die Dominsel von den Backsteinmauern der preußischen Zitadelle umfasst, der auf dem unlängst noch wilden östlichen Ufer nun seit Kurzem ein rätselhaftes Bauwerk gegenübersteht: Ein abstrakt kantiger Quader aus hellem Sichtbeton, 30 m im Quadrat und 15 m hoch, die wasser- wie die landseitige Rückfront vollkommen fensterlos, nach Süden ein scharf eingeschnittenes Lichtband (für den dahinter liegenden Seminarraum), die Nordfassade à la mode mit Schießscharten-Fenstern unregelmäßig gesprenkelt. Weit aus jeder Symmetrie gerückt, »stört« eine gläserne Fuge den ansonsten vollkommen ebenmäßigen Block, der sich mit verwegener Geste weit über die Deichkante hinauslehnt, der Insel entgegen, mit der er dann tatsächlich durch einen filigranen verglasten Steg verbunden ist. Unter dem waghalsigen Überhang laden breite Treppen und ein mit Granitplatten befestigter Vorplatz zu allerhand Open-Air-Aktivitäten ein. Die mit großem Geschick komponierte Verschränkung von erratischem Baukörper und milder Uferlandschaft lässt den unvorbereiteten Besucher erst einmal an ein skulpturales Großkunstwerk mit Land-Art-Ambitionen denken.

In der Tat sind Anliegen und Funktion des Bauwerks nur anhand dieser geradezu monumentalen Markierung des Orts zu erklären. Da der Posener Dom als Ursprungsort der Christianisierung Polens gilt, beschloss die Stadtverwaltung, dessen wechselvolle Geschichte seit Gründung des ersten polnischen Bistums im Jahr 968 zu erzählen, damit sich Besuchern vor Betreten des Inselareals dessen tiefe Bedeutung für die gesamte Nation, wie für den polnischen Katholizismus im Besonderen, auch gebührend erschließt.

Zu dem Zweck wurde ein »Interaktives Museum zur Geschichte der Dominsel (ICHOT – Interaktywne Centrum Historii Ostrowa Tumskiego) gegründet und 2009 ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben, den das bis dahin noch nicht allzu namhafte Krakauer Büro Ad Artis gewann.

Gelenkter Blick

Der Siegerentwurf entwickelte für die schwierige, weil präzedenzlose Aufgabe eine überraschend einleuchtende Gestalt: Da das neue Bauwerk ausschließlich dazu dient, die Aufmerksamkeit auf ein anderes, den historischen Dom, zu lenken, verdankt sich die markante Gebäudeform einem einzigen Thema – jener gläsernen Fuge, die den Quader in schiefem Winkel durchschneidet, und zwar exakt als Verlängerung der Mittelachse des Doms. In gewisser Weise fungiert das ICHOT als ein riesiges optisches Instrument, das man durchschreitet, um aus der Tiefe einer engen Schlucht (aus seidenglatt poliertem Sichtbeton) stets nur einen einzigen Ausblick zu finden – die markanten Türme des Doms. Selbst im Verlauf des Ausstellungsparcours werden die Besucher mehrmals über gläserne Brücken zwischen beiden Gebäudeteilen hin und her geführt, damit der Anlass der gebotenen Historienerzählung – das ehrwürdige Gotteshaus – nie aus dem Bewusstsein schwindet.

Um nach der kulturgeschichtlichen Unterweisung das wirkliche Baudenkmal zu erreichen, soll man anschließend dem schmalen Fußgängersteg folgen. Der langt in preußisch rechtem Winkel geradewegs hinüber zum anderen Ufer. Die spärlichen Überreste der »Domschleuse« dort gehörten einst zur zweitgrößten Zitadelle Europas, für die aufwendig restaurierten Backsteingewölbe hat sich jedoch keine adäquate Nutzungsidee finden lassen. Touristische Serviceräume sind hier wichtig und wurden mit hohem Designstandard installiert; die etwas beliebig betriebene Bildergalerie drumherum wirkt noch eher als Provisorium.

Der Besucherweg im neuen Gebäude ist strikt vorgegeben: Aus dem Foyerbereich mit Kasse, Technikausgabe, Andenkenshop und kleiner Cafélounge wird man über schmale Stahltreppen in die beiden oberen Etagen gelenkt. Dort bekommt man mit Filmen, Diaprojektionen und anderen »interaktiv« anzusteuernden Formaten die Geschichte des Orts in chronologischen Etappen präsentiert. Die Ausstellungsebenen sind absolute Black Boxes, doch in den z. T. natürlich belichteten Nebenfunktionsräumen fasziniert die enorme Sorgfalt bei den Details und der handwerklichen Ausführung. Die ausschließlich auf »rohe« Materialien wie Beton, Stahl und schwere Holzdielen setzende Architektur gewinnt dadurch eine sehr zeitgemäße, aber auch leicht elitäre Eleganz.

Für Betrachter von außen schwerer zu erkennen sind die extravaganten konstruktiven Lösungen, die die expressive Gebäudeskulptur erst ermöglichten: Als Gegengewicht für den 12 m auskragenden Geschossüberstand, der obendrein noch dem Fußgängersteg als Auflager dient, wurde landseitig eine ebenso weit ausladende Tiefgarage an den Hauptbaukörper statisch »angehängt«. Auch sind ja die sanften Ufer der Warthe in Wirklichkeit Deiche, die die Stadt vor Hochwasser schützen sollen; wer auf solchem Deich baut, muss seine Tiefgeschosse mit entsprechendem Aufwand gegen immer wieder drohenden Andrang schwerer Fluten sichern.

Vom Schlösserstreit zum Computerspiel

In Poznań, das allein in den letzten 300 Jahren mehrmals die staatliche Zugehörigkeit wechselte, scheint der Bedarf an historischer Selbstvergewisserung besonders groß. Offenbar reichte es nicht, dass die Stadtregierung, gegen allen Spott der landesweiten Öffentlichkeit, eine nachempfundene Replik des im 18. Jahrhundert zerstörten polnischen Königschlosses errichten ließ, nur damit diese romantische Ritterburg das gleichrangige deutsche Erbe in der Stadt – Franz Schwechtens neoromanisches Kaiserschloss für Wilhelm II. (1905–13) – an Wucht und Höhe im Stadtbild überragt. Der Aufwand, mit dem jetzt die Posener Dominsel als Ort nationaler Bedeutsamkeit in Szene gesetzt wird, überschreitet alle Usancen touristischen Stadtmarketings. Das didaktische Programm, das den Besuchern in professionell geführten Gruppen oder individuell per Audioequipment (auch in diversen Fremdsprachen) vermittelt wird, wahrt bei seiner beseelten Suche nach den Wurzeln stolzen Polentums nicht immer die nötige Distanz zum Folklorekitsch. Das liegt wohl nahe, wenn ein museales Institut ohne ein einziges Realexponat zu reiner Ideologieproduktion berufen ist – ein Umstand, für den dann gern die perfekten Handwerker von Tempora verpflichtet werden. Die belgischen Displaydesigner kamen im museumsfreudigen Polen schon öfter zum Zuge. Mit ihren elektronisch entfesselten Illusionsspektakeln sehen sie ihre Hauptzielgruppe wohl hauptsächlich in der Generation Computerspiel. Der Autor dieser Zeilen jedenfalls hat beim hektischen Hantieren an seiner kleinen Audio-Steuereinheit irgendwann entnervt aufgegeben.

Als Trost gegen solche inhaltlichen Enttäuschungen wäre zu empfehlen, die »Porta Posnania« nicht Richtung Insel, sondern durch den ostwärtigen Eingang zu verlassen: Dort lässt sich das Aufblühen von Śródka erkunden. Die Bewohner und Gewerbetreibenden dieses kleinen, arg vernachlässigten Vorstadtviertels scheinen die eigentlichen Nutznießer der ICHOT-Gründung zu sein. Rings um krumme Gassen wurden Fassaden renoviert, bei Sonnenschein stellen Cafés und Kunstläden Stühle und Menütafeln nach draußen. Von solch ziemlich eindeutigen Signalen fühlen sich dann auch Kulturreisende ohne Smartphone-Training wieder willkommen geheißen.

db, Fr., 2016.07.01

01. Juli 2016 Wolfgang Kil

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