Editorial

Fest, elastisch, flexibel, weich, rau, glatt, uni, gemustert, uralt und brandneu – all diese Eigenschaften treffen auf Textilien und ihre ­Herstellungstechniken zu. Seit Jahrhunderten gehören Textilprodukte zum festen Inventar von Innenräumen, als Vorhänge, Kissen, Tapisserien, Polstermöbel, Matratzen oder Kelims. Oft vereinen sie dabei ästhetische und funktio­nale Aspekte: Ein ausgesuchter Teppich wertet den Raum optisch auf, hält aber gleichzeitig ­ die Füsse warm und dämpft den Schall.

Neben ihrer Vielseitigkeit in der Anwendung zeichnen sich Textilien durch ihre Reversibilität aus: Maschen lassen sich bei Bedarf leicht lösen, Gewebe für den Einsatz an anderen Orten transformieren. Das schafft Spielraum für Kreativität und macht Lust, Dinge ohne grossen ­Aufwand auszuprobieren. Kombiniert man Textiltechnik ­­mit «fremden» Materialien oder Technologien ­wie Metallen, LED oder Silikon, potenzieren sich ­die Anwendungsmöglichkeiten.

Wie offen die Techniken sind, zeigen die Ausflüge in andere Disziplinen: Im Strickbau werden ­Holzbalken miteinander verbunden; und dass die architektonische Formensprache auf der textilen «Urkunst» aufbaut, ist spätestens seit Gottfried Semper bekannt. Auch eine der Grundfesten unserer Gesellschaft entstand einst am (industriellen) Webstuhl – was wäre die Welt heute ­ohne die Digitalisierung, entwickelt aus dem Loch­kartenprinzip?

Einen kleinen Ausschnitt aus der textilen Vielfalt möchten wir Ihnen in dieser ­Ausgabe präsentieren.

Tina Cieslik

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Jung und Alt in einem Haus

11 PANORAMA
Brücken aus Stahl | Leuchtende Sport- und Shoppingstätte | Die Welt im USB-Stick

15 VITRINE
Neuheiten für Innenräume

17 SIA
Freigabe von vier Normen | Endspurt Kennzahlenerhebung | Ab jetzt jeden Tag Science-Fiction

21 VERANSTALTUNGEN

THEMA
22 TEXTILE KOMPETENZ

22 WAS TEXTILIEN LEISTEN
Tina Cieslik
Multifunktional: Die neuen Stoffe sind nicht nur schön, sondern auch vielseitig einsetzbar.

25 «MIT UNSEREN STOFFEN KANN MAN GESCHICHTEN BAUEN»
Tina Cieslik
Mode trifft Interieur: Wie, das erklärt der Interior-Kreativchef von Jakob Schlaepfer.

28 VOM STALL INS BETT
Tina Cieslik
Ungeahnt: In Niederbipp erlebt die Rosshaarmatratze eine Renaissance.

AUSKLANG
31 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Was Textilien leisten

Lang als heimelig verpönt, feiern Vorhänge, Kissen und Teppiche seit einigen Jahren ein Comeback in unseren Interieurs. Die neuen Stoffe können oft mehr, als den Raum mit Sinnlichkeit zu füllen.

Die Textilkunst ist weltweit eine der ältesten Kulturtechniken. In der Schweiz nahm und nimmt sie einen bedeutenden Platz ein: Auf dem Höhepunkt 1870 arbeiteten 12 % aller Schweizer Erwerbstätigen in der Textilindustrie, vorwiegend in den beiden Zentren in der Nordwestschweiz um Basel und in der Ostschweiz um St. Gallen.[1] Technische Innovationen wie die industrielle Herstellung von Spitzen – die bekannte St. Galler Spitze – oder die maschinelle Paillettenstickerei legten den Grundstein für ein Gewerbe, das auch heute noch internationales Renommee hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ­wanderte die inländische Textilproduktion zunehmend ins günstigere Ausland ab, vor allem nach Asien. Um sich gegen die Konkurrenz behaupten zu können, spezialisierten sich die noch bestehenden Betriebe – beispielsweise auf technische Textilien für die Medizin-, Outdoor- oder Sicherheitsbranche, aber auch auf hochwertige Luxusstoffe für Haute Couture oder funktionale Gewebe für Inneneinrichtungen.

Was die Innenausstattung betrifft, hat sich in den letzten Jahren die Wahrnehmung gewandelt. Nach den plüschigen 1970er-Jahren verschwanden die Textilien aus den Räumen, sowohl den öffentlichen wie auch den privaten. Textilkunst galt als weibliches Bastelhandwerk. Inzwischen haben die Raumtextilien ­die Interieurs zurückerobert, in Form von Teppichen, Kelims, Vorhängen, Polsterstoffen, aber auch architektonischen Elementen wie Soft Cells oder Raumteilern.

Neben der emotionalen Komponente, der Fähigkeit, «dem Raum Poesie zu verleihen»,[2] übernehmen sie oft auch funktionale Aufgaben. Die neueste Generation der Stoffe vereint oft gleich mehrere Eigenschaften: Sie sind schwer entflamm- und biologisch abbaubar, verbessern die Akustik, wirken als Blendschutz, reflektieren einfallende Sonnenwärme und dienen als Lichtquelle.

Nicht synthetisch, aber flammhemmend

Im Objektbereich ist die Verwendung flammhemmender Stoffe wegen der hohen Sicherheitsanforderungen fast zwingend. Synthetische flammhemmende Textilien können statische Elektrizität erzeugen und Staubpartikel sowie Schadstoffe anziehen, zudem absorbieren sie keine Feuchtigkeit. Textilien aus Naturfasern (vgl. Glossar) wie Leinen oder Baumwolle sind feuchtigkeitsregulierend, allergenfrei und antistatisch, aber eben auch leicht brennbar.

Von 2011 bis 2015 hat das Unternehmen Christian Fischbacher aus St. Gallen daher auf Initiative des lombardischen Garnhersteller Coex und der Universität Pavia an einem Stoff aus möglichst umweltfreundlichen Naturmaterialien geforscht, der aber dennoch schwer entflammbar sein sollte (vgl. Glossar). Das Ergebnis ist «ECO FR», ein Stoff aus der Regeneratfaser Viskose und den Naturfasern Leinen und Baumwolle. In Italien hergestellt, gibt es ihn in drei verschiedenen Qualitäten, die sich durch den Anteil des jeweiligen Ausgangsmaterials und damit in Gewicht und Dichte unterscheiden.

«FR» steht für fire retardant, das Produkt hält Temperaturen bis zu 1000 °C stand, ohne zu schmelzen oder zu tropfen. Anschlies­send verkohlt es, bindet Sauerstoff und erstickt dadurch die Flammen, ohne dass schädliche Emissionen entstehen. Dies wird mittels einer molekularen Modifikation der Zellulose bei der eher umweltbelastenden Viskose­herstellung ­(vgl. Glossar) erreicht, sodass der Stoff nicht nachträglich chemisch imprägniert werden muss (waschbar ist er allerdings nicht, was wiederum eine chemische Rei­nigung bedingt).

Dies wirkt sich auch auf die Entsor­­gung aus: Der Stoff soll komplett biologisch abbaubar sein. Ob dies innerhalb der vorgeschriebenen Frist ­von ­30 Tagen gelingt, wird momentan getestet.

Schall, Wärme, Blendung

Ein weiteres Bedürfnis ist die Verbesserung der Akustik[3] und die Regulierung von einfallendem Sonnenlicht, und der Wärme, die dieses mit sich bringt. Schallabsorbierende Textilien verbessern die Raumakustik, indem der kinetische Anteil der Schallenergie innerhalb des Gewebes in Wärme umgewandelt wird, was die Nachhallzeit vermindert.

Für die Regulierung von Licht und Wärme werden in der Regel metallisierte Stoffe eingesetzt, die Ersteres reflektieren.

Der Langenthaler Textilhersteller Création Baumann befasste sich mit der Vereinigung dieser drei Funktionen. Nach anderthalb Jahren interner Entwicklung lancierte das Unternehmen im April 2016 den transparenten Vorhangstoff «Reflectacoustic»: Er bietet hohen Blend- und Wärmeschutz, gleichzeitig absorbiert er auch den Schall. Der bewertete Schallabsorptionsgrad, geprüft nach ISO 11654, liegt bei αw= 0.6 (vgl. Glossar, «Nachhallzeit»). In das zweiseitige Polyestergewebe aus Trevira CS ist auf der Rückseite ein metallisiertes Foliengarn eingewoben.

Auf diese Weise reflektiert die Geweberückseite das Sonnenlicht und verringert die Wärmeeinstrahlung um 40 %. Besonders ist die Oberfläche der vor Ort in Langenthal hergestellten, waschbaren Textilien: Bestehende reflektierende Stoffe sind in der Regel an der Rückseite mit einer Schicht aus Metallstaub bedampft, sodass sie grau wirken. Bei der Neuentwicklung entschied man sich stattdessen für eine Streifenlösung, transparente Flächen wechseln sich mit metallisierten Rippen ab. Dadurch bleibt der Stoff zum einen lichtdurchlässig, zum anderen besitzt er eine glatte Vorderseite, auch in Weiss.

Licht und Atmosphäre

Die Verbindung von Textilien und Licht gelingt dem Vorhangstoff «eLumino», den Création Baumann 2013 auf den Markt brachte. Die Technik, die LED auf Stoff appliziert, wurde im Rahmen des anderthalbjährigen KTI-Forschungsprojekts «e-Broidery» zusammen mit Partnern wie dem Textilunternehmen Forster Rohner aus St. Gallen und der Hochschule Luzern für Design und Kunst HSLU entwickelt.

Die langjährige Erfahrung und eigene Forschungsarbeiten des Stickereispezialisten Forster Rohner waren dabei entscheidend: Stickerei erlaubt die genaue Platzierung von Elementen auf einem Stoff und ermöglicht so die nötige Präzision zur Übertragung elektronischer Signale. Jede Diode benötigt zwei Leiterbahnen, die als Doppellinie in die Stickerei integriert sind. Die Dioden sind Eigenentwicklungen und erinnern an glänzende Pailletten.

Leiterbahnen und LED erzeugen auf dem Stoff, einer Mischung aus Polyester in Trevira CS und mit Metall beschichteteten Garnen, ein dekoratives Muster mit auf drei Stufen dimmbaren Lichtpunkten. Die Leiterbahnen werden industriell eingestickt, in einem zweiten Schritt werden die Dioden aufgebracht. Die Eigenschaften des Stoffs, seine Weichheit und der Fall bleiben erhalten.

«eLumino» wird mit einem Kabel mit USB-Stecker an die Stromversorgung angeschlossen, kann aber auch mit Akku betrieben werden. Um den Stoff zu waschen oder zu reinigen, kann die Stromzufuhr entfernt werden. Dimmer und An/Aus-Schalter sind in der Seitennaht platziert. Den Stoff gibt es in zwei Dessins und in zwei Stoffqualitäten, einmal als transparenter Voile (47 g/m2), einmal als opakes Gewebe (167 g/m2), in jeweils drei Farben. Inzwischen lief bereits ein neues Forschungsprojekt zum Thema «e-Broidery» an der HSLU, das sich mit chromatischen Lichteffekten auseinandersetzte und im November 2015 abgeschlossen wurde.[4]

Handwerk trifft Hightech

Neben den funktionalen Eigenschaften machen Textilien aber auch einfach Freude. Die Weichheit und Elastizität, die Beweglichkeit und die Faltungen, die vielfältigen Materialien, Muster, Farben und die Abstufungen in der Transparenz bieten visuelle, akustische und haptische Eindrücke. Inwieweit sie sich mit immer mehr Funktionen beladen lassen, werden zukünftige Entwicklungen zeigen. Im Hinblick auf die ökologischen Standards der gesamten Produktionskette gibt es aber schon heute noch Luft nach oben.

TEC21, Fr., 2016.06.24

Anmerkungen:
[01] «Historisches Lexikon der Schweiz > Textilindustrie,
www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D13957.php, Zugriff am 23.5.2016
[02] Beatrice Hirt, «Textile Innovation als treibende Kraft» in Made by..., Hochschule Luzern Design & Kunst, Nr. 4, Mai 2014
[03] Vgl. auch E-Dossier «Akustik», www.espazium.ch/tec21/dossier/akustik
[04] Vgl. www.hslu.ch/de-ch/hochschule-luzern/­forschung/projekte/detail/?pid=536

Die Textilien sind auch in bewegten Bildern erlebbar.
ECO FR: www.bit.ly/eco_fr
eLumino: www.bit.ly/elumino

24. Juni 2016 Tina Cieslik

«Mit unseren Stoffen kann man Geschichten bauen»

Der St. Galler Textilhersteller Jakob Schlaepfer ist bekannt für seine opulenten Dessins. Die Produkte sieht man auf roten Teppichen ebenso wie auf Sofas. TEC21 sprach mit dem Kreativchef der Interior-Kollektion über Mode, Verrücktheit und die Grenzen der Kreativität.

TEC21: Herr Duss, seit vergangenem September sind Sie für die Interior-Kollektion bei Jakob Schlaepfer zuständig. Wodurch zeichnen sich die Textilien Ihres Unternehmens aus?

Bernhard Duss: Jakob Schlaepfer gibt es ­seit 1904. Wir sind eigentlich ein Kleiderstoffhersteller, arbeiten für Haute Couture und Pret-à-porter Lux und kommen aus der Tradition der St. Galler Stickerei. Ende des 19. Jahrhunderts hat man hier die maschinelle Spitzenherstellung erfunden.

In den 1960er-Jahren haben die damaligen Inhaber Jakob Schlaepfer zu einem Unternehmen für luxuriöse Haute-­Couture-Stoffe entwickelt und vor allem angefangen, Pailletten maschinell zu sticken. Dafür sind wir bis heute bekannt. Wir waren aber schon immer nicht nur ­auf Stickerei fokussiert, decken ein breites Feld ab: ­Wir mischen die Techniken, kombinieren sie neu und entwickeln auch unsere eigenen Maschinen. Bei uns geht es darum, alles zu nutzen, was man für die Textilgestaltung brauchen kann.

TEC21: Neben den Stoffen für die Haute Couture bieten Sie seit 2008 auch eine Interior-Kollektion an. Was sind die Unterschiede zur Mode?

Bernhard Duss: Alle unsere Kreationen haben einen starken Hintergrund in der Mode. Bei uns im Haus gibt es keine Konkurrenz und keine Berührungsängste zwischen den Ressorts, unsere Textildesignerinnen sind jeweils in beiden Bereichen tätig. Dementsprechend gibt es viele Stoffe, die ihren Anfang in der Mode gefunden haben und dann für den Wohnbereich adaptiert wurden – aber auch umgekehrt.

Generell muss es bei den Einrichtungsstoffen etwas robuster sein, wegen der längeren Haltbarkeit. Aber wir machen hier auch verrückte Sachen, alles andere gibt es ja schon zur Genüge. Wenn sich Leute für unsere Stoffe entschliessen, dann suchen sie das Luxuriöse. Unsere Produkte werden oft als Eyecatcher verwendet, in Kombination mit etwas Einfachem. Im Einrichtungsbereich sind wir mit einer Kollektion pro Jahr eher klein. Eine Kollektion beinhaltet etwa zehn Neuheiten, sowohl bei den Stoffen als auch bei den Tapeten.

TEC21: Wo werden die Stoffe hauptsächlich eingesetzt?

Bernhard Duss: Vorwiegend im Dekobereich. Unser Angebot reicht von Stoffen mit Stickereien über Metallstoffe aus verwebten Drähten zu Besonderheiten wie ­Reflektormotiven auf Seidentaft, die sich je nach Licht und Standpunkt verändern. In der aktuellen Kollek­tion haben wir auch einen Stoff mit einer Gravur auf Reflektormaterial oder transparente Vorhänge aus superleichtem, mit Aluminium oder Messing beschichtetem und zusätzlich bedrucktem Monofil­gewebe. Mit 10 g/m2 ist es das leichteste Gewebe, das es gibt.

Ein Schwerpunkt liegt auf der Paillettenstickerei für Interieurs. Unsere Pailletten sind Eigenentwicklungen. Wir verwenden eine grosse Auswahl an Pailletten, mit unterschiedlichen Farben und Oberflächen, matt, strukturiert oder holografisch glänzend. Mit unseren Stoffen kann man Geschichten bauen.

TEC21: Sie haben vorher die Tapeten erwähnt. Worum geht es da?

Bernhard Duss: Seit 2010 führen unsere eigene Tapetenkollektion, unter anderem inspiriert von den Bildtapeten des 19. Jahrhunderts, die wir neu interpretieren. Dafür arbeiten wir mit drei unterschiedlichen Grundmaterialien: einem matten Vlies, einer gesprenkelten Hologrammfolie und einer stark holografierenden Oberfläche. Alle Muster können wir auf alle Ober­flächen drucken. Daneben entwickeln wir vermehrt projektbezogene Tapeten auf Kundenwunsch, vor allem für den Objektbereich.

TEC21: Die Textilien sind sehr opulent, oft auch verspielt und wirken wie Haute Couture für die Wohnung. Wie gehen sie mit Sicherheitsnormen um, die im Hinblick auf die Kreativität eher bremsend wirken?

Bernhard Duss: Da gibt es eine Grenze. Wir werden immer wieder gefragt, ob es diesen oder jenen Stoff auch flammhemmend in Trevira CS gibt. Wir haben einige wenige im Programm, aber bei vielen unserer Techniken lässt sich das nicht umsetzen. Trotzdem findet man unsere Stoffe auch in öffentlichen Bereichen. Es kommt darauf an, wo und wie sie eingesetzt werden.

TEC21: Inwiefern ist Nachhaltigkeit bei Ihnen ein Thema?

Bernhard Duss: Unser Beitrag besteht in der langen Nutzungsdauer, den kurzen Wegen und der regionalen Wertschöpfung. Aber will man wirklich nachhaltig sein, bekommt man nicht all diese Farb- und Material­explosionen. Die Umweltfreundlichkeit von Textilien aus Recyclingmaterial ist wegen der dabei verbrauchten grauen Energie ohnehin umstritten. Unsere Produkte sind nachhaltig, weil man gezielt kauft und sie lang behält.

TEC21: Gibt es aktuelle Forschungsprojekte?

Bernhard Duss: Momentan haben wir haben ein Forschungsprojekt mit der Hochschule für Kunst und Design Luzern zum Thema «Dreidimensionaler Farbauftrag auf Stoff». Daraus ist unser neuestes Produkt «hyper­tube» entstanden, Stoffe für die aktuelle Haute-Couture-Kollektion: Es handelt sich um Spitzenmotive in Schwarz oder Weiss, die aus Silikon gespritzt werden – eine zeitgenössische Neuinterpretation der St. Galler Spitze.


[Ende Mai hat an der Oberen Zäune 6 in Zürich der Showroom von Jakob Schlaepfer mit Stoffen und Tapeten aus der Interior-Kollektion eröffnet.
Öffnungszeiten: Di–Fr 10–18.30 Uhr, Sa 10–16 Uhr.
Weitere Infos: jakobschlaepfer.com]

TEC21, Fr., 2016.06.24

24. Juni 2016 Tina Cieslik

Vom Stall ins Bett

Rosshaarmatratzen sind ein Traditionsprodukt. Mit der Rückbesinnung auf Authentisches erlebt das Handwerk des letzten Schweizer Matratzenmachers eine Renaissance. Die Technik eignet sich aber auch für andere Anwendungen.

Knapp zehn Jahre ist es her, da liess der Oberaargauer Polsterer Heinz Roth einen Versuchsballon steigen: Er lancierte die Website www.rosshaarmatratzen.ch, um herauszufinden, ob diese traditionelle Art der Matratze in der Schweiz auf Interesse stösst. Bereits sein Vater und sein Grossvater hatten in ihrer Sattlerei seit 1906 Matratzen auf diese Weise hergestellt, Roth war von dem Produkt überzeugt und wollte das Handwerk wiederbeleben. Die Nachfrage war so gross, dass er sich nun ausschliesslich der Herstellung von Rosshaarmatratzen widmet. Aus der Nische wurde ein Geschäft.

Blond ist weicher

Jahrhundertelang schliefen die Menschen auf Säcken, die mit Heu, Stroh oder Schilf oder – luxuriöser – mit Wolle oder Gänsefedern gefüllt waren. Mit den zurückkehrenden Kreuzrittern gelangten im 13. Jahr­hundert dann die Vorstufen der heutigen Matratzen nach Europa – der Name kommt von «matrah», arabisch für Bodenkissen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts schlief nur der Adel auf Rosshaar­matratzen, erst die In­dustrialisierung machte Matratzen mit anderen Füllungen für alle Schichten erschwinglich.

Die Herstellung von Kunststoffen nach dem Zweiten Weltkrieg führte schliesslich zur Verbreitung der Schaumstoffmatratzen. Rosshaarmatratzen überzeugen aber nach wie vor mit ihren positiven Eigenschaften: Sie sind hygroskopisch und temperaturregulierend. Jedes einzelne Schweifhaar funktioniert wie ein dünnes Röhrchen, das Feuchtigkeit aufsaugt und weiterleitet. Durch das trockene Klima gelten Rosshaarfüllungen als milbenarm, zudem sollen sie Belastungen durch Elektrosmog und Erdstrahlen vermindern helfen.

Eine handgefertigte Matratze mit Rosshaarfüllung ist zwar teurer in der Herstellung, kann aber bei guter Pflege und einer Auffrischung der Füllung (auflockern, entstauben) alle 10 bis 15 Jahre bis zu 50 Jahre in Gebrauch sein. Ein Grund dafür sind die wenigen, aber hochwertigen Materialien. Die Bezugsstoffe, die Roth verwendet – Leinen, Halbleinen und Baumwolldamast – stammen aus Belgien und Frankreich. Sie werden speziell für Matratzen hergestellt und sind so dicht gewebt, dass die Füllung nicht hindurchstechen kann.

Zwischen Bezug und Füllung liegt deshalb zusätzlich ein Wollvlies aus Ostschweizer Schurwolle. Die Füllung aus Rosshaar bezieht Heinz Roth aus dem Toggenburg, bei der schweizweit einzigen Rosshaarspinnerei. Für die Matratzen werden lediglich Schweifhaare von Pferden benutzt (die Produktbezeichnung «Rosshaar» kann auch Ochsenschwanzhaare beinhalten). Diese gibt es in unterschiedlichen Qualitäten. Heinz Roth bevorzugt für seine Matratzen Schweifhaare in Schwarz – wegen der höheren Elastizität; blonde Haare sind weicher.

In der Spinnerei wird das Haar zunächst in Seifenlauge gewaschen, dann in Heissluftöfen getrocknet, gehechelt,[1] gekämmt und dann in einem Autoklav[2] unter Vakuumdampf sterilisiert und zu gedrehten Strängen, dem Krollhaar, gedreht. Die Drehung ist wichtig für die Sprungkraft, so werden aus den einzelnen Haare kleine elastische Federn.
Gezupft, garniert, gebüschelt

Jede Matratze, die Heinz Roth herstellt, ist eine Bestellung. In der Regel sind es Standardmasse, man kann aber auch individuelle Grössen ordern, sofern sie die Maximalbreite von 1.60 m nicht übertreffen. Diese ist zum einen durch die Stoffbreite vorgegeben, zum anderen sind breitere Grössen schwierig in der Herstellung. Dazu kommt das Gewicht: Eine Matratze mit dem Massen 90 × 200 cm wiegt 17 bis 20 Kilogramm.

Zunächst wird der Bezugsstoff zugeschnitten, dann das Wollvlies aufgelegt. Um das Rosshaar als Füllung verwenden zu können, müssen die Stränge aufgezwirbelt werden. Heinz Roth benutzt dafür eine Zupfmaschine aus den 1950er-Jahren. Diese Geräte werden schon lang nicht mehr hergestellt, daher besitzt er noch weitere fünf davon – wann immer eine Sattlerei schliesst und die Maschinen aussortiert, ist Heinz Roth zur Stelle.

Das so aufgezupfte Rosshaar – für eine Matratze mit den Massen 90 × 200 cm benötigt man etwa 13 kg – wird nun in mehreren Lagen in einem ausgeklügelten System aufgebracht. In der Mitte, der Zone der stärksten Belastung, ist die Füllung mit etwa 50 cm am höchsten. Hier lassen sich auch Kunden­wünsche berücksichtigen, für schwere Personen kann mehr Füllung eingelegt werden, um die Matratze stabil zu halten. Über die Füllung kommt erneut ein Wollvlies, darüber wird der Stoff geschlagen, gespannt und ­zusammengeheftet.

Mit einer dicken, sichelförmigen Nadel und einem Nylonfaden näht Heinz Roth die Bezüge mit 1000 Stichen zusammen. Der Matratzenstich, den er verwendet, ermöglicht eine unsichtbare Naht – und wird im Übrigen auch von Ärzten beim Vernähen von Wunden geschätzt. Es folgt die Kantengarnierung: Was aussieht wie ein überdimensioniertes Kissen, wird mit zwei umlaufenden seitlichen Kanten, den Bourrelets, im Garnierstich in Form gebracht. Daneben existiert auch die Façon­einfassung ohne Kanten.

Sie wird für mit Wolle gefüllte und dadurch weichere Matratzen benutzt, ist für das elastische Rosshaar jedoch zu wenig stabil. Um die Füllung innerhalb der Matratze zu fixieren, werden nun die charakteristischen Abheftbüschel, Boufettes genannt, angebracht. Nach durchschnittlich zwölf Arbeitsstunden ist die Matratze fertig zum Einsatz.

Napoleon und Chäserrugg

Die Mehrheit von Heinz Roths Kunden wünscht eine neue handgefertigte Matratze. Immer öfter aber lassen auch Besitzer von Rosshaarmatratzen anderer Hersteller ihre Bettunterlage bei ihm auffrischen. Und von Zeit zu Zeit wird er zum Restaurator: So erneuerte er vor kurzem die 50 Jahre alte Matratze für ein napoleonisches Bettgestell – komplett mit integrierten Sprungfedern.

Neben der klassischen Matratze lassen sich Materialien und Technik aber auch für andere Anwendungen einsetzen: So tauchten Roths Werke, mit Stickereien der Luzerner Künstlerin Daniela Schönbächler veredelt, auch schon als Kunst-im-Bau-Sitzinstallation in der umgebauten Poststation von La Rösa im Puschlav auf. Und die Architekten von Herzog & de Meuron verwendeten eigens angefertigte Kissen als Rückenpolster im Restaurant der im Juni 2015 wieder eröffneten Bergstation Chäserrugg im Toggenburg (vgl. «Auf dem Gipfel des Ursprungs», TEC21 25/2016).


Anmerkungen:
[01] Beim Hecheln werden die Fasern mit einer Art Kamm parallel ausgerichtet und von Kurzfasern gereinigt.
[02] Autoklav: eine Art industrieller Schnellkochtopf, bei dem der Inhalt unter Überdruck sterilisiert wurde.

TEC21, Fr., 2016.06.24

24. Juni 2016 Tina Cieslik

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