Editorial

Zu international bedeutenden Sportveranstaltungen gehören selbstverständlich – neben der sportlichen Glanzleistung – eindrucksvolle Stadien: Ikonen der Architektur, die dem medialen Anlass seine visuelle Identität verleihen. Für die Fussball-Europameisterschaft 2016 in Frankreich wurden drei neue Stadien errichtet und fünf bestehende umfassend renoviert. Wir stellen in dieser Ausgabe sowohl einen Neubau als auch ein Umbauprojekt vor – und küren damit gleichzeitig das «Olympiastadion» und das «Bird’s Nest» dieser EM.

Am Stadtrand von Bordeaux haben Herzog & de Meuron und Jaillet-Rouby den Bautypus Stadion entfremdet: Mit sakralen Säulengängen statt profaner Mantelnutzung wirkt das Nouveau Stade de Bordeaux wie ein Tempel des Fussballs.

In Marseille hatten SCAU Architectes und Elioth/Egis Concept beim Umbau des legendären Vélodrome weniger Spielraum. Und doch schwebt das neue, wellenförmige Dach scheinbar mühelos über den historischen Tribünen. Dieser Geniestreich ist insbesondere den Bauingenieuren zu verdanken, die eine Montage des weit auskragenden Dachs unter laufendem Spielbetrieb ermöglichten.

Es sei dahingestellt, ob die grossen Versprechen solcher Anlagen nach dem Turnier eingelöst werden: In welchen Zustand werden die im PPP-Verfahren erstellten Stadien in 30 Jahren der öffentlichen Hand übergeben? Werden die Sportstätten auch nach der EM die benachbarten Quartiere beleben und aufwerten? Solche Fragen beantwortet rückblickend unsere Panorama-Serie zu den Schweizer Stadien der EM 2008.

Viola John, Thomas Ekwall

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Das grüne Erbe des Schuh­patrons

12 PANORAMA
Von der Realität eingeholt | Multifunktionales Stadion – nur auf Zeit? | Vom Amtshaus zum Ingenieurbüro

20 VITRINE
Aktuelles aus der Baubranche

23 SIA
Wir bestimmen das Honorarniveau | Das blaue Haus der Kindheit | Blick durch den Berg

29 VERANSTALTUNGEN

THEMA
30 SCHÖNE NEUE STADIEN

30 AM MYTHOS WEITERGEBAUT
Thomas Ekwall
Mit seiner neuen Überdachung entspricht das historische Stade Vélodrome in Marseille den strengen Anforderungen der EM-Ausrichter.

36 FUSSBALL FÜR ÄSTHETEN
Viola John
Das neue Stadion von Bordeaux bricht mit den ästhe­tischen Konventionen dieses Bautypus: weg vom Profanen, hin zum Sakralen.

AUSKLANG
42 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Am Mythos weitergebaut

Für Marseille entwarfen SCAU Architekten mit den Ingenieuren von Elioth/Egis Concept eine 280 m weit gespannte Gitterschale – sie wurde unter laufendem Spielbetrieb des Heimklubs errichtet und überdacht das bestehende Stadion mit wenigen Stützpunkten.

Während andere Städte mit ihren Sta­dien die Innenstadt verlassen und neue Sportpaläste in die Agglomeration verpflanzen, baut Marseille an seiner Geschichte weiter. Die Architekten von SCAU (vgl. Interview S. 35) erweiterten und überdachten das bestehende Vélodrome, das nunmehr mit 67 000 Zuschauerplätzen als zweitgrösstes Stadion Frankreichs – hinter dem Stade de France in Saint-Denis – rangiert (vgl. Kasten S. 41). Weil der Stadt der Umbau zu teuer war und zeitgenössische Stadionbauten sich ohne Mantelnutzungen kaum noch rentieren, ging sie eine Public-Private Partnership (PPP) mit dem Projektentwickler Arema ein, der sich in einem Wettbewerbsverfahren gegen die Teams der Totalunternehmer Eiffage und Vinci durchsetzen konnte. Für 267 Mio. Euro baute Arema das Stadion und das angrenzende Ökoquartier (Abb. S. 33) mit 100 000 m² Nutzfläche an Wohnungen, Büros, Hotels und Geschäften. Im Gegenzug zahlt die Stadt während 30 Jahren 12 Mio. Euro Jahresmiete, bis sie das Stadion übernehmen darf – eine mittlerweile übliche Übereinkunft für solche Grossüberbauungen in Frankreich.

Ein Dach gegen Erkältungen

Neben den Eingriffen in die bestehende Anlage (Abb. S.33) kann die neue Überdachung als architektonischer Abschluss einer bewegten Geschichte von Umbauten gesehen werden. Ursprünglich für die Fussball-WM 1938 gebaut, war das Vélodrome für 30 000 Plätze dimensioniert, mit zwei Vordächern auf den Langseiten. Als 1985 die Tribünen erweitert wurden, fiel die namengebende Radrennbahn dem zum Opfer.

Beim grossen Umbau für die WM 1998 brach der zuständige Architekt Jean-Pierre Buffi die Symmetrie der Anlage, um diese auf 60 000 Plätze zu erweitern. Er ersetzte und erhöhte den länglichen Jean-Bouin-Flügel, um den zunehmenden Bedarf an VIP-Zonen und Medienräumen unter den Tribünen zu befriedigen, während die kurzen Flügel auf die heutige Höhe aufgestockt wurden.

Doch mit dem Ergebnis gab sich der Heimclub Olympique de Marseille (OM) nicht zufrieden: Nach dem Umbau wehten der Mistral und der Ostwind umso ­stärker durch die Tribü­nen. Der damalige OM-Trainer Roland Courbis nannte das Stadion «l’enrhumeur» (ein Ort, an dem man sich den Schnupfen holt). Erste konkrete Vorschläge für eine Komplettüberdachung wurden 2005 vorgestellt, scheiterten jedoch mangels finanzieller Unterstützung. Dank der Vergabe der EM 2016 an Frankreich konnte diese Vision nun umgesetzt werden.

6000 t auf zwölf Stützen

Das räumliche Fachwerk des Stadiondachs besteht aus 5940 Stäben mit Durchmessern von 30 bis 50 cm. Die Fassadenhaut, die die Oberfläche des Tragwerks überspannt, ist mit Polytetrafluorethylen-(PTFE)-Folien materialisiert, die – im Gegensatz zu den Ethylen-Tetra­fluorethylen-(ETFE)-Folien, die bekanntlich die Fassade der Allianz-Arena in München bestücken – mechanisch statt mit Luftdruck in Form gebracht werden (Abb. S. 32). Das Stahldach ist im Querschnitt als gedrehtes L ausgebildet: Die Fassadenebene, von den Projektautoren «Rock» genannt, folgt als gekrümmtes, 25 m hohes Fachwerk der Form der ondulierten Tribünen. Die Dach­-ebene von variabler Neigung besteht aus 60 radialen Fachwerken, die bis zu 80 m auskragen. Die gesamte 6000 t schwere Konstruktion wird über vier paarweise angeordneten Megastützen mit Durchmessern von 120 cm in den Ecken der Tribünen sowie über acht vertikale Stützen unter dem «Rock» im Aussenbereich abgestützt, ohne dass diese den Blick der Zuschauer auf das Spielfeld beeinträchtigen.

Die Ingenieure setzten die komplexe Geometrie an einem parametrischen Modell um und verknüpften es mit dem statischen Modell, um eine hinsichtlich des Kräfte­verlaufs und der Form optimierte Lösung zu finden.

Der Stahlbau wirkt statisch im Endzustand als Schale ohne Dilatationsfugen. Ein minimaler Abstand von 40 cm zu den Tribünen sichert eine gegenüber dem Bestand statisch unabhängige Konstruktion, auch im Erdbebenfall. Die Schale wirkt grundsätzlich auf zwei Arten: Die Haupttragwirkung entsteht durch Membrankräfte – wegen der unregelmässigen Form bestehen sie aus einem hohen Anteil an Schubkräften, die durch die Verstrebung der Dachebene übernommen werden. Zum anderen sind einhüftige Rahmen, bestehend aus Dach- und Fassadenfachwerken, in der radialen Ebene ausgebildet, die die Lasten auf Biegung tragen. Sie sind vertikal vom «Rock» – der als Durchlaufträger zwischen den vertikalen Stützen verläuft – und horizontal von den geschlossenen Druck- und Zugringen am Rand des Kuppelauges bzw. im «Rock» gehalten. Beide Systeme schliessen die Kräfte derart kurz, dass die Megastützen nur axial beansprucht werden.

Bauablauf parallel zum Spielkalender

Eine grosse Herausforderung des Projekts bestand darin, dass die Spielpläne der Ligue 1 zwischen 2013 und 2015 parallel zu den Bauarbeiten verliefen: Alle 14 Tage sollte das Stadion für die Heimspiele von OM bis zu 42 000 Zuschauern Platz bieten, und jedes Mal mussten die Stahlkonstruktion provisorisch gesichert und der statische Nachweis des Bauzustands (vgl. «Bis zu 20 % überdimensioniert», S. 34) von einer Sicherheitskommission bewilligt werden. Insgesamt wurde die Baustelle 80-mal unterbrochen.

Zu den logistischen Schwierigkeiten kam eine statische Problematik hinzu: Die Haupttragwirkung der Schale konnte im Bauzustand nicht aktiviert ­werden, da das unfertige Kuppelauge keinen geschlossenen Druckring ausbildete. Die erste Montageetappe über der Tribüne Ganay erfolgte zwar während der Sommerpause und konnte einfach gelöst werden, indem die provisorische Abstützung der einhüftigen Rahmen ­an den Spielfeldrand versetzt wurde. Im laufenden ­Betrieb durften jedoch keine provisorischen Spriesse ins Blickfeld der Zuschauer hineinragen. Die elegante Lösung der Bau­ingenieure bestand darin, während ­dieser Bauphase die Kopfpunkte der Megastützen ­mit einem Gerüstturm zu versehen und mittels Zug­bän­dern miteinander zu verbinden. Somit entstand in ­der Schale ein Druckbogen von 280 m Spannweite, der ­die provisorische Abstützung mit Spriessen ersetzte und die Sicht der Zuschauer nicht beeinträchtigte ­(Abb. S. 32 unten).

Der gesamte Stahlbau ist gegen Korrosion ­feuerverzinkt, weshalb keine Schweissungen oder Zuschnitte auf der Baustelle zulässig waren. Die feuerverzinkten Einheiten wurden von der Stahlhütte der Firma Horta Coslada in La Coruña hergestellt und nach Marseille verschifft. Auf der Baustelle fügte die Baufirma die Einheiten zu 200 t schweren Modulen à zwei bis drei Radialträger mit vorgespannten Schrauben zusammen. Der Einhub erfolgte anschliessend im Tandem zweier 1250-t-Raupenkräne mit 70-m-Ausleger, während die Verbindungen mit den Gerüsttürmen und den stehenden Fachwerken des «Rocks» durch die Monteure erfolgten. Diese heikle Montage eines Moduls dauerte zwei Tage und musste bei Windgeschwindigkeiten über 25 km/h eingestellt werden.

Materialsparende Gitterschale

Dank dem umfangreichen Umbau gehört das Vélodrome nun zu den «Elite»-Stadien im Uefa-Ranking. Eine vielschichtige Bauaufgabe wurde mit klaren architektonischen und statischen Konzepten umgesetzt.

Entscheidend für den Gewinn des anfangs erwähnten Totalunternehmerwettbewerbs war die Wirtschaftlichkeit des Schalentragwerks: Im Vergleich dazu wäre die konventionelle Überdachung mit Balkenrost eines Mitbewerbers nur mit 30 % höherem Stahlvolumen zu bewältigen gewesen. Gewiss stieg die Komplexität der Geometrie, der Statik und der Herstellung des Stadiondachs, doch die klugen Entscheide der Planer und die CAD-Werkzeuge von heute machen solche Projekte möglich und in diesem Fall wünschenswert.

Thomas Ekwall, Redaktor Bauingenieurwesen


Bis zu 20% überdimensioniert

Die Stahlbauteile des Tragwerks sind in manchen Bereichen verstärkt worden, um den Bauzustand zu berücksichtigen: Solange das Kuppelauge keinen Druckring ausbilden konnte, war das Dach für Abhebekräfte infolge Windböen anfällig, die nicht selten 120 km/h erreichen.

Die Intensität der Windlasten und die dynamischen Einwirkungen konnten wegen der komplexen Dachform nur unzureichend mit Normwerten abgedeckt werden; das Centre Scientifique et Technique du Bâtiment (CSTB) unternahm daher Windkanalversuche an physischen Modellen. In der Entwurfsphase wurden die vom Bauunternehmer geschätzten vier entscheidenden Bauphasen im Massstab 1 : 250 modelliert und unterschiedlichen Wind­richtungen ausgesetzt, um eine erste Annäherung des Winddrucks und -sogs auf der Hülle abzulesen und in das statische Modell einzuspeisen. Zur Modellierung gehörte auch die unmittelbare Umgebung, um den verstärkenden Venturi-Effekt der Nachbarbauten zu berücksichtigen. Die zweite Messkampagne fand in der Ausführungsplanung statt, als die endgültigen Bauphasen bekannt waren.

Insgesamt 15 Versuche bis hin zum Massstab 1 : 80 wurden durchgeführt. Dabei gewannen die Ingenieure wichtige Hinweise bezüglich der Randeinwirkungen, des Über- und Unterdrucks auf der Hülle sowie der dynamischen Einwirkungen wie Schwingungen.

Synergien im Energiekreislauf

Unter dem Vélodrome befindet sich die grösste Abwasserreinigungsanlage Europas. Diese wurde in den Energiekreislauf des Stadions eingebunden: Das behandelte Wasser hat konstante Temperaturen zwischen 12 und 16 °C, die sich für Kühlung im Sommer und Heizung im Winter eignen. Der Kalorienaustauch erfolgt mittels reversibler Wärmepumpen.

Diese Lösung ist günstiger als eine konventionelle Geothermie und reduziert den Primärenergieverbrauch um 50 % gegenüber einer Gaslösung.


«Wir stehen zu diesem plastischen Tanz»

TEC21: Im Gegensatz zu den am Stadtrand von Bordeaux, Nizza, Lille und Lyon erstellten EM-Stadien haben Sie ein bestehendes Stadion erweitert. Wie sind Sie als Architekten an die Aufgabe herangegangen?
Maxime Barbier: Die Stadt Marseille identifiziert sich sehr stark mit ihrem Fussballverein. Das Stadion wurde schon mehrmals umgebaut, doch seine Architektur war nie ­auf Augenhöhe mit der sportlichen Erfolgsbilanz des Vereins. Wir wollten ein Bauwerk auf der Höhe des Mythos Vélodrome erschaffen.

TEC21: Inwiefern trägt Ihr Entwurf dazu bei?
Barbier: Er ist eine Antwort auf gesteigerte Nutzungsanforderungen. Insbesondere wollten die Stadt und ihr Bürgermeister die Zuschauer vor Wind und Wetter schützen. Die Stimmung innerhalb des Stadions sollte optisch und akustisch stärker auf das Spiel fokussiert sein und nicht von Ausblicken auf die Stadt gestört werden. Wir haben das Spielfeld mit einem Kreis von 198 m Durchmesser umgeschrieben – um der Vorstellung eines Brennpunkts näherzukommen.

TEC21: Wird dieser Fokus nach innen nicht auch als Abgrenzung von der Stadt verstanden?
Luc Delamain: Der Bezug zur Stadt wird neu interpretiert. Dank dem Lichtspiel durch die transluzente Fassadenhaut sind die Spiele von OM von aussen gut sichtbar. Diese durchlässige Hülle verbessert den akustischen Komfort, ohne die Stimmung des Stadions zu dämpfen. Wir wollten kein hermetisches Stadion wie zum Beispiel in Lille.

TEC21: Wieso haben Sie sich für das Fassadenmaterial PTFE entschieden?
Delamain: Es war in erster Linie ein Wagnis, die ganze Überdachung nur an vier Punkten zu halten! Von Anfang an haben wir uns die Frage des Gewichts gestellt. Die leichten PTFE-Membranen minimieren das Konstruktionsgewicht und gewährleisten Witterungsschutz und Dauerhaftigkeit. Wegen des Gewichts haben wir auch eine Stahlkonstruk­tion gewählt, das auch noch für kurze Bauzeiten gesorgt hat. Das Dach­konzept haben wir mehrmals und mit verschiedenen Ingenieuren schrittweise optimiert, ein echtes Abenteuer!

TEC21: Die Spiele nehmen nur 1 % der Nutzungsdauer ein, was war Ihre Strategie für die restlichen 99 %?
Delamain: Natürlich muss ein Stadion mehrere Nutzungen anbieten können, um sich zu rentieren, wobei es hier in erster Linie das Stadion des Fussballvereins bleibt. Das Stadion bildet vor allem den Schlussstein eines neuen Quartiers, das den Stadtteil aus der Isolation befreit.

TEC21: Wie nehmen Sie das umgebaute Stadion im Stadtbild wahr?
Delamain: Auf den Hügeln um Marseille und vom Meer aus wirkt das Stadion als Identitätsträger der Stadt. Der Blick vom Schiff ist wesentlich: Man sieht eine weisse Muschel, die aus der umgebenden Stadt heraus­gehoben wird. Wir stehen zu dieser Wellenbewegung, dem plastischen Tanz, der für Marseille charakteristisch ist.

TEC21: Die ursprüngliche Funktion des Vélodrome ist längst vergangen, ist es nicht auch eine formelle Vereinnahmung?
Delamain: Doch! Wir erkennen darin auch die Hochs und Tiefs der unsprünglichen Rennbahn.


[Die Architekten Maxime Barbier und Luc Delamain sind Teilinhaber des Architekturbüros SCAU. Das Interview führte Thomas Ekwall.]

TEC21, Fr., 2016.06.10

10. Juni 2016 Thomas Ekwall

Fussball für Ästheten

Wer heuer zur Europameisterschaft nach Bordeaux anreist, kann die Spiele in dem eigens für diesen Anlass errichteten Stadion von Herzog & de Meuron verfolgen. Von aussen erinnert das monumentale Bauwerk an einen Tempel.

Als die Entscheidung fiel, Bordeaux zu einem der Austragungsorte der Europameisterschaft 2016 zu machen, nahmen die Veranstalter dies zum Anlass, vor den Toren der Stadt ein modernes Stadion zu errichten. Das alte Stadion Chaban-Delmas im Herzen der Stadt sollte nicht für die EM ausgebaut, sondern stattdessen teilweise umgenutzt werden und damit zur Aufwertung des innerstädtischen Quartiers beitragen.

Mit dem Bau des Nouveau Stade de Bordeaux wurden Herzog & de Meuron beauftragt. Ihre Neuinterpretation eines Fussballstadions überrascht in erster Linie durch dessen unkonventionelles Aussehen. Waren die Basler Architekten bislang für futuristische Stadion­entwürfe mit dynamischen Formen bekannt (Olympia­stadion in Peking, Allianz-Arena in München), sticht dieser Stadion­bau durch seine reduzierte Architektursprache heraus. Von aussen weckt das Gebäude Assoziationen an Tempel- oder Museumsbauten.

Minimalistische Architektur

Das Bauwerk beschränkt sich auf drei architektonische Hauptelemente: zum einen die monumentale Treppenanlage, die den Sockel des Bauwerks bildet. In diesem Sockelbereich sind die VIP-Lounges, Medienbereiche und Spielerräume untergebracht. Darauf folgt als zweites Element die schalenförmige, abgestufte Zuschauertribüne, die direkt in die Dachkonstruktion übergeht. Dazwischen verläuft als drittes Element ein weisses Band, das sich an zahlreichen Säulen vorbeiwindet und die Versorgungseinrichtungen enthält. Die Säulen erfüllen unterschiedliche Funktionen: Manche sind auf Druck beansprucht und stützen die Tribünen, während andere das Stadiondach über Zugkräfte im Boden verankern. Auch die Entwässerung des Dachs erfolgt innen­liegend über die Säulen.

Über die weitläufige Treppenanlage gelangt man von aussen zunächst in einen offenen Bereich oberhalb des Sockels. Dieser Empfangsbereich dient als räum­licher Vermittler zwischen aussen und innen. Imbissstände sind im an den Säulen entlang mäandrierenden weissen Band untergebracht. Überdacht wird dieser Bereich von den Tribünen. Der lange Umgang des Empfangsbereichs erschliesst an allen vier Seiten des Bauwerks die Zugänge zu den Zuschauertribünen.

Gute Sicht aufs Spielgeschehen

Der Zuschauerraum im Innern des Bauwerks ist stützenfrei ausgeführt und bietet von jedem der 42 000 Sitzplätze der Tribüne aus eine ungehinderte Sicht auf das Spielfeld. Ermöglicht wird dies durch die rückseitige Auskragung des Tribünendachs und die Ableitung der Kräfte über die zahlreichen Stützen im Empfangsbereich (Abb. S. 39).

Die Tribünen bestehen aus zwei übereinanderliegenden Stufen mit Sitzreihen, die jeweils in vier Sektoren unterteilt und durch die leicht transparent wirkende Dachkonstruktion vor Witterungseinflüssen geschützt sind. Die unteren Reihen der Tribüne sind weniger als zehn Meter von den Spielern entfernt, und die direkt am Spielfeldrand befindlichen unteren Randbarrieren ermöglichen mit einer Höhe von einem ­Me­ter eine optimale Sicht auf das Spielfeld. Die vor den Sitzreihen, auf Höhe des Empfangsbereichs, liegenden oberen Barrieren sind höher und daher aus Glas, um die Sicht nicht zu beeinträchtigen. Durch das schmale Klappdesign der Tribünensitze fallen die Abstände ­zwischen den einzelnen Sitzreihen vergleichsweise grosszügig aus – so sollen die Zuschauer den Weg ins Stadion hinein und wieder hinaus schnell und sicher zurücklegen können.

Bauvorgang und neuer Name

Errichtet wurde das Stadion in acht Phasen, in der Zeit von 2012 bis 2015. Die Grundsteinlegung fand am 15. April 2013 statt. Nachdem der Bauplatz vorbereitet war (Phase 1), folgten zunächst die Erdarbeiten und Fun­damente (Phase 2). Es wurden insgesamt 945 Pfähle ­mit einer durchschnittlichen Tiefe von 22 m gesetzt. ­Anschliessend wurden die tragenden Konstruktionselemente (Phase 3) und das Metallständerwerk mit den Tribünen errichtet (Phase 4). Hierzu wurden sieben feste Turmkräne aufgebaut und ein Betonwerk eingerichtet, um direkt vor Ort Betonelemente und -platten erstellen zu können. Die niedrigen Stützen auf der Ost- und Westseite wurden hauptsächlich aus Stahlbeton gefertigt, während auf der Nord- und Südseite vorrangig Metallständer zum Einsatz kamen. Über 3600 Stufenelemente wurden vor Ort hergestellt und insgesamt 24 km Tribünen platziert. Danach wurde die Dachkonstruktion errichtet (Phase 5). Hierfür wurden die einzelnen Stahlfachwerkelemente montiert und mit einer Metalldachhaut versehen. Anschliessend begannen die technischen Ausbauarbeiten (Phase 6), wobei neben Innenraumbekleidungen und Fussböden auch Videoüberwachung, Zutrittskontrolle, Beleuchtung, Soundsystem und Grossbildschirm installiert wurden.

Nachdem das Gebäude fertiggestelt war, ging es an die Gestaltung des 4 ha grossen Aussenraums mit Pflanzen, Gehwegen, Stras­senmöbeln und Beleuchtung (Phase 7). Abschliessend wurden Rasen und Bestuhlung realisiert und die finale Testphase eingeleitet, während der auch Sicherheitsaspekte im laufenden Betrieb optimiert wurden (Phase 8). Der Hybridrasen ist halb synthetisch, halb natürlich, und sein Substrat besteht aus Korkkügelchen, Synthetikfasern und Quarzsand. Durch die Synthetikfasern wird die Rasenfläche besonders widerstandsfähig.

Die Namensrechte für das Nouveau Stade de Bordeaux wurden an einen Sponsor verkauft. Seit September 2015 trägt das Stadion nun offiziell den Namen «Matmut Atlantique».

Que les jeux commencent!

Das Stadion ist für eine maximale Nutzungsflexibilität ausgelegt, um neben Sportveranstaltungen auch Konzerten eine Bühne zu bieten. Seit der Eröffnung im Mai 2015 wird es immer wieder für Events genutzt.

Inwieweit die flexible Nutzungsmöglichkeit der Sportstätte allerdings auch in den kommenden Jahren nach der Europameisterschaft Besucher anlocken und der Stadt Bordeaux zu Glanz verhelfen wird, bleibt abzuwarten.

Sehenswert ist das Stadion mit dem unkonventionellen Aussehen auf jeden Fall, und für die EM 2016 heisst es jetzt erst einmal: Lasset die Spiele beginnen!

[Dr. Viola John, Redaktorin Konstruktion/nachhaltiges Bauen]


Punktuelle Nachhaltigkeit

In puncto Nachhaltigkeit hat das Stadion von Bordeaux bereits für Negativschlagzeilen gesorgt. Es wurde in einem Naturschutzgebiet errichtet, sodass mehr als 10 ha Fläche mit besonders hohem ökologischem Wert für Flora und Fauna dem Bau weichen mussten.

Zudem wurden hauptsächlich Materialien verwendet, die in ihrer Herstel­lung sehr energieintensiv sind: 644 Metallsäulen, 12000 Tonnen an Metallbedachung und 41000 m³ Stahlbeton.

Zwar mussten auch Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt werden, um die französischen Bestimmungen zu nachhaltiger Entwicklung umzusetzen, allerdings wurden hierfür lediglich einzelne, isolierte Strategien für die Energiegewinnung, das Wasser- und Abfallmanagement sowie zur Mobilität verfolgt.

Energie: Als regenerative Energiequelle zur partiellen Deckung des Strombedarfs dient eine Photovoltaik­anlage über dem Parkplatzbereich mit 800 Parkplätzen vor dem Stadion.

Wasser: Statt Trinkwasser wird zur Spielfeldbewässerung und für die sanitären Einrichtungen zum Teil Wasser aus vor Ort installierten Regenwassersammelanlagen verwendet. Die vier Regenwassertanks haben eine Kapazität von insgesamt 800 m³.

Mobilität: Für eine gute Erreichbarkeit des Stadions mit öffentlichen Verkehrsmitteln wurde das Strassenbahn­netz von Bordeaux ausgebaut.

Da solche punktuellen Massnahmen nicht ausreichen, um einem Gebäude das Prädikat «nachhaltig» zu ­verleihen, wird das Stadion in dieser Hinsicht wohl auch weiterhin Gegenstand kontroverser Diskussionen bleiben.

Kapazität kostet

Anlässlich der Fussball-Europameisterschaft wurden drei Stadien neu errichtet, fünf umgebaut und das Stade de France von 1998 im Originalzustand belassen. Umbauten erhöhen die Kapazität nur bedingt (St-Etienne, Lens) und werden mit der Tiefe des Eingriffs überproportional teurer: Für den Umbau in Marseille hätte man ein neues Stadion errichten können! Der finanzielle Aspekt ist jedoch nur ein Teil der Gleichung, viel mehr zählt die positive Auswirkung solcher Anlagen auf die Stadt und ihre Identität. (te)


«Man merkt gar nicht, dass es ein Fussballstadion ist»

TEC21: Herr Wyler, als Fussballkommentator des SRF kennen Sie die EM-Stadien in Frankreich gut und waren auch schon im neuen Stadion in Bordeaux. Welche Anforderungen muss ein EM-Stadion Ihrer Ansicht nach unbedingt erfüllen, und inwieweit ist dies beim Stadion in Bordeaux geglückt?
Dani Wyler: Entscheidend aus Sicht des Kommentators sind eine gute Erreichbarkeit, gute Infrastruktur und gute Beschilderung, damit man nicht nur die Kommentarposition, sondern auch die verschiedenen Räumlichkeiten für Interviews schnell finden kann – und natürlich eine optimale Sicht auf das Spielfeld.
Das Stadion entspricht mit 42 000 Personen Fassungsvermögen sicherlich den Anforderungen an eine Europameisterschaft. Es ist sehr gut an den öffentlichen Verkehr und auch an den Privatverkehr angebunden. Die Sicht ist optimal. Auch für den Kommentator ist das ein Erlebnis. Das einzige Problem: Weil ich zunächst den Medien-Eingang nicht gefunden habe, musste ich um das ganze Stadion herumlaufen.

TEC21: Wie war denn Ihr erster Eindruck, als Sie vor dem neuen Stadion standen?
Wyler: Auf den ersten Blick, aus einigem Abstand, habe ich gedacht: Das kann doch nicht das Fussballstadion sein! Es sieht eigentlich eher wie ein Modern-Art-Museum aus. Ein viereckiger Kasten mit Säulen. Und auch als ich direkt davor stand, merkte ich erst an den Beschriftungen, dass es sich um das Stadion handelte.

TEC21: Die Architekten haben sich darum bemüht, fliessende Räume und Sichtbezüge zwischen Aussen- und Innenraum herzustellen. Ist ihnen dies gelungen? Beschreiben Sie uns doch bitte einmal die räumliche Wirkung beim Betreten des Stadions.
Wyler: Was mir aufgefallen ist: Aussen und Innen sind zwei Welten. Von aussen ist das Stadion nicht als solches erkennbar, und von innen ist es ein Fussballstadion der etwas anderen Art: Es sieht aus wie eine Computeranimation, alles wirkt ein bisschen steril. Auch in den Pressebereichen im Sockel des Stadions. Man merkt, es ist noch alles neu, und da wurde noch nicht richtig gelebt.
Gerade dieser starke Kontrast zwischen aussen und innen hat bei mir den grössten Eindruck hinterlassen. Es deutet von aussen nichts auf ein Fussballstadion hin. Von daher ist den Architekten wirklich etwas Neues gelungen, was ich bisher so nicht gesehen habe. Und ich habe schon viele Stadien auf der ganzen Welt gesehen, alte, neue, auch wirklich moderne Stadien.

TEC21: Wie gut funktioniert die Architektur, wenn das Stadion bespielt wird? Und wie erlebbar ist die räumliche Wirkung noch, wenn Zehntausende von Zuschauern sich durch den Empfangsbereich und auf die Tribünen drängen?
Wyler: Es gibt gute Stimmung im Innern, und das ist für mich als Kommentator entscheidend. Die Zuschauerrampen gehen auf allen vier Seiten relativ steil hoch. Dadurch wird der Zuschauerbereich sehr kompakt, und die Zuschauer sind nah an den Spielern.

TEC21: Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial? Oder was sind Aspekte, in denen Sie andere EM-Stadien eher überzeugt haben?
Wyler: Die Nostalgie. Ich habe gern Stadien, die eine Geschichte haben, und dieses Stadion hat noch keine. Aber das ist natürlich die Sicht eines Fussballfans.

TEC21: Stichwort Nostalgie: Bei vielen EM-Stadien wurde ja auf eine Instandset­zung des Bestands statt eines Neubaus gesetzt. Wäre dies Ihrer Meinung nach eine Möglichkeit für Bordeaux gewesen? Welche Vorteile hat der Neubau gegenüber einer Sanierung des alten Stadions (Chaban-Delmas) in Ihren Augen gebracht?
Wyler: Ich war vor 25 Jahren im alten Stadion in Bordeaux, einem ganz klassischen Fussballstadion, und ich glaube nicht, dass es den heutigen Sicherheitsanforderungen genügt hätte. Es braucht heute spezielle Korridore, denn Medien und Spieler müssen von den Zuschauern absolut abgeschirmt werden. Das wäre in dem alten Stadion vermutlich nicht möglich gewesen.


[Dani Wyler kommentiert seit 1988 für das Schweizer Radio und Fernsehen nationale und internationale Matches. Das Interview führte Viola John.]

TEC21, Fr., 2016.06.10

10. Juni 2016 Viola John

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