Editorial

Warum sollen wir uns heute noch mit «Stadtbaukunst» beschäftigen? Viele verbinden damit eine konservative Haltung aus längst vergangenen Zeiten. Camillo Sitte, Karl Henrici und Theodor Fischer prägten Ende des 19. Jahrhunderts den «künstlerischen Städtebau», nachdem die Stadtgrundrisse zuvor nach geometrisch-formalen Kriterien entworfen worden waren.

Sie dachten die Stadt nun verstärkt als Raum, indem auch Vorhandenes miteinbezogen wurde, Architektur und Städtebau bildeten eine Einheit: eine spannende Auseinandersetzung – umso mehr, weil diese Themen, nach dem Scheitern der städte­baulichen Visionen der Moderne, den Diskurs ab den 1980er-Jahren erneut prägten.

In dieser Ausgabe blicken unsere Autoren in die Geschichte zurück. Ingemar Vollenweider aus Basel und Matthias Castorph aus München sind praktizierende Architekten und lehren Stadtbaukunst an der TU Kaiserslautern. Sie fokussieren Protagonisten aus unterschiedlichen Epochen: Theodor Fischer als Vertreter der klassischen Stadtbaukunst sowie Alison und Peter Smithson, bekannt als Pioniere des englischen Brutalismus, die sich vom Städtebau der Moderne distanzierten und in ihrer späten Schaffensphase, für viele nicht bekannt, eine grosse Sensibilität für Stadt und Atmosphäre zeigten.

So unterschiedlich diese Persönlichkeiten und ihre Kontexte sind, so überraschend sind die Berührungspunkte und Ergebnisse in ihrer räumlichen Auseinandersetzung mit der Stadt: Denn die ­Planungen von Fischer sind zeitgemässer und die Denkformen der Smithsons traditioneller, als man erwarten würde. Beide Per­spektiven sind für uns heute gleichermassen bereichernd.

Susanne Frank

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Modelle für die ­Zwischenstadt

12 PANORAMA
Bunte Geometrien | Projekt gesucht | Die Welt von ­Alexander Girard

18 VITRINE
Neues aus der Baubranche | Weiterbildung

22 SIA
«Gute Rendite und guter Städtebau sind kein Widerspruch» | Kompetenzcluster für die Digitalisierung des Bauens | Anwendungswissen digitales Planen | Energieeffizienz, Planungs­politik, BIM – aber auch ­Architekturgespräch | Austausch mit Sektionen der Romandie

29 VERANSTALTUNGEN

THEMA
30 STADTBAUKUNST

30 STADTBAUKUNST HEUTE?
Matthias Castorph
Theodor Fischer zeigte als Architekt und Stadtplaner in München, wie Stadt als Raum gedacht wird und städte­bauliche Theorien in die Praxis überführt werden.

36 REALISMUS MIT ALLEN SINNEN
Ingemar Vollenweider
Die Architekten Alison und Peter ­Smithson entwickelten eine grosse Sensibilität für räum­liche Zusammenhänge und die Wahrnehmung von Stadt. Ihre Denkformen inspirieren auch heute.

AUSKLANG
42 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Stadtbaukunst heute?

Theodor Fischer prägte als Architekt und Stadtplaner im ausgehenden 19. Jahrhundert das Stadtbild von München massgeblich – und zeigte damit, wie sich städtebauliche Theorien in die Praxis überführen lassen. Auch heute können wir von seiner Herangehensweise lernen.

Wenn heute der Begriff «Stadt­baukunst» im Raum steht, fällt praktizierenden Architekten und Stadtplanern meist relativ wenig dazu ein, was denn ­diese vergangene «Kunst» für das ­heutige Handeln und Entwerfen der Stadt noch beitragen könnte. «Stadtbaukunst» scheint aus der Zeit gefallen zu sein.

Ihr haftet etwas leicht Skurriles an, wenn man sich erinnert, dass am Ende des 19. Jahrhunderts trefflich über «kurz­weilige und langweilige Strassen» gestritten wurde. Sie  scheint, wenn überhaupt, nur noch als histo­risches Phänomen der Stadtbaugeschichte interessant zu sein.

So steht dann «Stadtbaukunst» für einen «malerischen Städtebau», wie ihn der Wiener Camillo Sitte 1889 in seinem Buch «Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen» im Rückgriff auf die mittel­alterlichen Stadtanlagen (vorzugsweise Italiens) postuliert hatte. Heute wird sie meist verstanden als eine versponnene Gegenposition zur Entwicklung einer technisch effizient organisierten und formal-geometrisch geordneten Stadt, wie sie Reinhard Baumeister und Joseph Stübben seinerzeit propagierten.

Wie sollte «Stadtbaukunst» für aktuelle Planungen etwas beitragen, da sie schon längst von der Moderne überholt wurde, die ihr eine Sicht auf die Stadt unterstellte, die die «tatsächlichen» Bedingungen ausblendet und die Stadt lediglich als «Stadtbild» mit der romantischen Vorstellung von «krummen Strassen» künstlerisch betrachtet wissen möchte? Was bleibt nach der polemischen Kritik und Ablehnung durch die Moderne im 20. Jahrhundert, wenn zum Beispiel Sigfried Giedion artikulierte, Sitte sei ein «Troubadour, der mit seinen mittelalterlichen Liedern das Getöse der modernen Industrie übertönen wollte …», oder wenn Le Corbusier die krumme Strasse als «Weg des Esels» denunzierte? Dabei gingen leider auch inter­essante, undogmatische und pragmatische Überlegungen zur Stadt, ihrer Elemente und deren Protagonisten für ­heute fast verloren.

Es scheint an der Zeit, unter der Oberfläche dieses seltsamen Begriffs zu schürfen und festzu­stellen, was für uns Architekten, Ingenieure und Planende und unser «Handwerk» zur Stadtentwicklung abhanden gekommen ist. Wo sind die Inhalte verschüttet, die dem planerischen Repertoire wieder erschlossen und verfügbar gemacht werden sollten?

Denn Stadtbaukunst ist mehr als ein Camillo Sitte und «malerische Strassen». Auch heute, als räumliche Haltung gegenüber einer ingeniösen und politischen Stadtplanung, könnte sie mehr Anwendung finden, als gemeinhin erinnert wird. Auch wäre es angebracht, dass «Stadtbaukunst» und ihre Vertreter und Ergebnisse nicht nur als architektur­historisches Thema (um das sich vorzugsweise Geisteswissenschaftler kümmern) gesehen werden, sondern als höchst fruchtbares Feld, auch für die zeitgenössische Stadtentwicklung. Wir sollten dieses Terrain zurückgewinnen.

Stadtbaukunst praktisch?

Wenn man die Brille des Historikers ablegt und sich aus freien Stücken mit Stadtbaukunst intensiver und nicht nur aus Sekundärliteratur beschäftigt, so fällt auf, dass etwas ausserhalb des allgemein bekannten theoretischen Fokus der «Stadtbaukunst» die Archi­tektenpersönlichkeit Theodor Fischers steht. Dessen Bauten und vor allem seine städtebaulichen Planungen lohnen den Besuch in München, da sie in situ eine (vom Plan beziehungsweise Foto fast nicht vorstellbare) stadträumliche Qualität entfalten. In ihrer Unaufdring­lichkeit, ihrer zeitlosen Eleganz der städtebaulichen Einheit und trotz ihrer «Selbstverständlichkeit» sind die Strassenzüge und Plätze komplexe räumliche ­Situationen, die auch heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, begeistern und als sichtbare und erfolgreiche Ergebnisse einer richtig verstandenen «Stadtbaukunst» einzuordnen sind.

Theodor Fischer kann daher, auch wenn er heute immer noch etwas in Vergessenheit geraten ist, wohl als der interessanteste und präziseste Vertreter einer frühen, anwendungsbezogenen Stadtbaukunst gelten.

Ein Architekt und Stadtentwerfer, der als Kind seiner Zeit (geprägt von den Thesen Camillo Sittes und Karl Henricis) als Pragmatiker, Denker und Lehrer die komplette Stadtentwicklung Münchens bis zur Millionenstadt im gesamten Massstab räumlich vorbestimmt und geprägt hat. Als Leiter des ab 1893 neu eingerichteten «Stadterweiterungsbureaus» definierte er die massgeblichen Linien und Räume der Stadt München, den Zielen der Ergebnisse des grossen Stadterweiterungswettbewerbs folgend, die bis heute die lebens­werte und manchmal sogar städtische Atmosphäre Münchens bestimmen.

Kern seiner Planungsidee ist dabei die Annahme, dass Stadtplanung und -entwicklung kein zweidimensionales, grafisches oder geometrisches Zeichnen auf dem Plan sind, sondern die planerische, grundsätzliche und undogmatische Entwicklung von städtischen Raumvorstellungen. Diese schaffen die massstäblichen und lebenswerten Orte für die Bewohner, einer einheitlichen Formidee anhängend – wenn also eine Raumvorstellung als grosser, langer Atem vor der Gestaltung der einzelnen Solitäre und Situationen steht. Dies wird besonders relevant, wenn in der Stadtplanung konkret die Frage nach der Qualität des öffentlichen Raums, nach Einheit und nach möglicher Über- und Unterordnung der Stadtbausteine gestellt wird.

Die Handlungsweise Fischers ist auch deshalb (zumindest für München) so relevant, weil sich aktuell Parallelen in der Stadtentwicklung zeigen lassen, die im Kern mit der damaligen Situation Münchens vergleichbar sind: die Probleme eines starken Stadtwachstums durch Zuzug und Bevölkerungswachstum, die Wohnungsfrage (zumindest für Normalverdiener) und die realen Planungszwänge durch überwiegendes Privateigentum an Haus und Grund und die daraus resultierenden Partikularinteressen.

Sechs Vorträge über Stadtbaukunst

«Harter Realismus, Hingabe an das Seiende und Dienst am Wirklichen ist die Aufgabe des Städtebaus.» Mit diesem Satz fasste Theodor Fischer (1926 im «Colleg für Städtebau») seine Haltung zusammen, die sein Handeln bei der Stadterweiterung Münchens und dann in der Ausbildung seiner Studenten als erster Professor für Städtebau an der Technischen Hochschule in München geprägt hatte. Sein undogmatisches und im besten Sinn pragmatisches Verständnis von europäischer Stadt und Städtebau, seine Begeisterung für die Geschichte der Stadt und seine Verweigerung gegenüber formalen Dogmen und simplen Lehrsätzen formuliert er dann 1921 in der übersichtlichen Publikation «Sechs Vorträge über Stadtbaukunst» in direkter und unverblümter Sprache.

Diese «sechs Vorträge über Stadtbaukunst» sind die ausformulierte Zusammenfassung, das «Skript» seiner Vorlesungsreihe, die er als Professor für seine Studenten gehalten hatte. Die Vorlesungen wurden von Lichtbildern und Tafelzeichnungen begleitet, für die sich Theodor Fischer handschriftliche Notizen und ­Skizzen gemacht hatte, die er von Jahr zu Jahr immer wieder neu festhielt. Viele dieser Skizzen sind in der Sammlung des Architekturmuseums der Technischen Universität München erhalten. Sie geben einen Einblick in die Stichwortstruktur und sind Dokumente einer vergangenen Lehrkultur.

Er beleuchtet in seinen Vorträgen die Kernfragen und typischen Problemstellungen des Wohnens, des Verkehrs und des Verhältnisses von Stadt und Natur. Bei deren Lösung im Planungsprozess ist für ihn der «Stadtentwerfer» nicht Ausführungsgehilfe von Politikern, Ökonomen und Ingenieuren, sondern die zentrale Figur. Dabei schmälert er nicht die notwendigen Leistungen der anderen und lehnt es ab, über ihren Sachverstand aus rein formal-ästhetischen Gründen hinwegzugehen, ohne jedoch den Kunstanspruch bei der Planung und Realisierung von Stadt aufzugeben. Theodor Fischer hat dabei keine Berührungsängste vor dem direkten Kontakt von Theorie und Praxis und den alltäglichen Fragen der städtebaulichen Normalität. Für seine Lösungsansätze und deren Erläuterung spielt es keine Rolle, ob ein Beispiel als theoretische Ikone aus der Stadtgeschichte von Priene oder der gebauten Realität der schwäbischen Kleinstadt Reutlingen stammt.

Und so beginnt Theodor Fischer seine Vorträge mit einer These: «Über Stadtbaukunst reden heisst für mich nicht etwa, ästhetische Gesetze des Städtebaus aufstellen. Nichts liegt mir ferner, als in den Ton derer einzustimmen, die da zu sagen pflegen: Die Kunst soll, die Kunst muss. Die Kunst soll und muss nichts, ausser was sie aus sich heraus tut und tun muss, was sie im Zwang der Entwicklung schafft, unabhängig vom Willen des einzelnen, ja auch vom Willen vieler. Ob diese Entwicklung freilich Gesetzen folgt, dem nachzuspüren, verlohnt sich; und erkennen wir solche, so wird auch der Ausführende sich ihrer vernünftigerweise erinnern, wenn er nicht Gefahr laufen will, grosse Umwege zu machen oder sich in Sackgassen zu verlieren …».

Ohne Umwege und Sackgassen: Was ist die Stadt?

Vertiefen wir diese Aspekte exemplarisch an zwei konkreten und heute zumindest räumlich noch existierenden Situationen in München (Abb. S. 34–35). Was wir erkennen, ist die im Wesentlichen geschlossene Be­bauung, die Blockstruktur. Es zeigt sich die Geschlossenheit der räumlichen Wirkung, bei der sich der Blick nicht in der Weite verliert, durch leicht geschwungene Strassen und meist stark gekrümmte Einführungen der Zufahrten zu den Plätzen. Die gekurvte Reihe der Häuser ermöglicht die Sichtbarkeit der einzelnen Fassaden, die ein abwechslungsreiches und gleichzeitig geschlossenes Bild für den Fussgänger und «Flaneur» bilden. Nicht «die Achse» schafft Monumentalität, sondern es entsteht Massstab durch Grössenvergleich. Die Häuser und Freiräume werden komplex in Beziehung gesetzt, in der Summe von Fassaden entsteht ein stadträumliches Ensemble – und, wenn man so möchte, im Ergebnis sogar ein «malerisches» Stadtbild.

Hier wird Stadt nach der Formidee, als komplexe Ordnung der einzelnen Elemente sichtbar. Denn für Theodor Fischer ist die Stadt «eine Anhäufung von menschlichen Wohnungen und Einrichtungen mit der Wirkung einer Einheit». In der Konsequenz begreift er daher die Stadtbaukunst als «Ortsbau», da «Ort» entsteht, wenn bei Gruppen von Häusern, durch Überordnung und Unterordnung der Elemente, durch Ähnlichkeit oder Kontrast der Massen, Einheit erzielt wird. Dies bedeutet auch, dass städtischer Raum als Kontinuum verstanden wird, bei der unterschiedliche Situationen und Quartiere, die aneinandergrenzen, keine Aneinanderreihung solitärer Elemente sind, sondern fugenlos ineinander übergehen und sich dabei wandeln können. So ist auch auf dem Plan und in der Realität der Übergang der streng orthogonal gerasterten (damals bereits bestehenden) Ludwigsvorstadt zum weiterführenden «stadtbaukünstlerischen» Städtebau Fischers unmerklich. Die Strassen werden weitergeführt, verändern sich fliessend und vermeiden subtil den abrupten Wechsel zwischen den städtebaulichen Paradigmen des «geometrischen» und des «räumlichen» Städtebaus im Strassenraum – die Gesamtstadt als Einheit des Verschiedenen.

Der Normalblock – Strasse und Verkehr

Bei der Ordnung und Gliederung der öffentlichen Räume stehen also weniger die «grosse Achse» oder der «geometrische Stadtgrundriss» im Mittelpunkt, sondern eine grundlegende Ordnung, denn «alle menschliche Tätigkeit ordnet, gestaltet die unregelmässige Natur regelmässig (ohne mathematische Exaktheit)».

Diese Tendenz sieht Fischer auch im grundlegenden Element der Stadt, dem Baublock. In seiner elementaren rechteckigen Grundform ist er selbstähnlich «dem Ziegel …, dem Zimmer und dem einzelnen Haus», das ihn bildet. Somit ist die Grundform des städtischen Bau­blocks ein Rechteck (idealerweise im Verhältnis 1: 2, ca. 50 × 100 m, basierend auf den passenden Parzellengrössen der Wohnhäuser), das er aus ganz pragmatischen Gründen (um Strassenfläche zu sparen und um eine bessere Aufteilung mit mehr Parzellen pro Block zu bekommen) dem Quadrat vorzieht. Dies ist für ihn der «Normalblock», den er als Abweichung, als Block mit bogenförmigen Kanten in den fliessenden Linien der Strassenzüge verwendet. Wichtig sind ihm dabei das Halten der Ecken im rechten Winkel und das Verziehen der Krümmung innerhalb der Längsseiten des Blocks.

So bleiben die Strassenkreuzungen und Platz­einmündungen verkehrsgerecht und vermeiden die Spitzwinkligkeit der Blockecken, die neben der verkehrlichen Unübersichtlichkeit auch den im Grundriss der Wohnungen kaum lösbaren Eckgrundriss und den Eckeingang bedingen würden.

Dieser (verzogene) Normalblock bildet das Grundmodul, aus dem sich die Stadt entlang von räumlichen Kanten/Strassen additiv fügen lässt. Er ist nicht mehr das Resultat eines divisiven Teilens der Stadt­fläche im geometrisch-grafischen Städtebau seiner ­Zeitgenossen (Baumeister, Stübben), bei der die Diagonale, als betonte Verkehrsachse, in ein quadratisches Blocksystem geschnitten wird und so die Blockflächen zu Restflächen der Teilung im «Dreieck-System» macht, was für Fischer zum «schlechten Block» führt.

Zur Ehrenrettung von Stübben und Baumeister sollte jedoch hinzugefügt werden, dass das Einführen der Diagonalen im Quadratraster aus Verkehrsgründen durchaus sinnvoll sein kann. Es schafft eine Hierarchisierung der Wegebeziehung, da beim reinen Quadratraster die Verbindung zwischen zwei Orten auf verschiedensten Wegen gleich lang bleibt. Erst durch die Diagonale wird eine Abkürzung möglich, die dann den Verkehr an sich zieht und über die Kreuzung der Diagonalen zum Sternplatz führt, auf dem der Verkehr verteilt werden kann. Jedoch kann auch durch die Methode des «verzogenen» Blocks eine Bogenform generiert und damit Verkehrsströme gelenkt werden.

Durch die undogmatische Handlungsweise Fischers, frei von der Rigidität der Symmetrien und zwanghaften Rechteckformen, entsteht ein zwangloser, entspannter Städtebau von grosser Permanenz, der von strassenseitigen Baulinien definiert wird.

Baulinie und Raum/Parzellierung

Aber was unterscheidet denn die geschwungene Stras­sen­führung Fischers von den angeblich rein künst­lerischen Überlegungen Sittes zum «malerischen»
Städtebau? Es ist die Beziehung der Strassenlinie zur vorgefundenen topografischen Situation und Parzellierung. Fischer fordert, den «alten Strassen nach[zu]gehen und alte Beziehungen [zu] respektieren». Das bedeutet, nach Möglichkeit die vorhandenen Feldwege und Stras­sen aufzunehmen, auszubauen und in das neue Stras­sensystem einzubinden. Dies hat wesentliche Vorteile: So bilden vorgefundene Wegebeziehungen (da sie z. B. als Feldwege praktisch und nicht geometrisch angelegt wurden) die bestehende Topografie ab (die Wege orientieren sich am Verlauf der Höhenlinien) und schaffen so eine selbstverständliche Einbettung der neuen Stadt in das Gelände. Ausserdem wechselt, in einem praktisch vollständig und meist kleinteilig parzellierten Land, am Weg die Parzelle, sodass bei einer Verbreiterung der Wege zu Strassen die einzelne Parzelle nicht zerschnitten, sondern nur vom Rand her belastet wird (Strassenmitte = alte Grundstücksgrenze) und dadurch in der Nutzung weniger gestört wird. Dies bedeutet auch, dass durch die Neuanlage nicht ein einzelner Eigentümer, sondern jeweils die Nachbarn gleichmässig an den ­Rändern der Grundstücke belastet werden, was eine wesentlich höhere Akzeptanz des Eingriffs in das Grundstückseigentum erwarten lässt – ein praktischer Kompromiss auf Grundlage bestehender Verhältnisse.

Dieses Vorgehen stellte für München am Ende des 19. Jahrhunderts eine neuartige, ganzheitliche Konzeption dar (in Verbindung mir einem ausgeklügelten Vertragswesen der städtischen Juristen), die eine grossmassstäbliche Durchsetzung der Stadterweiterung erst ermöglichte. Sie stellte einen wesentlichen Aspekt und eine konstruktive Möglichkeit in der Auseinandersetzung mit privaten Grundstücksbesitzern und Terraingesellschaften dar, da der Stadt selbst kaum Eigentum über die Grundstücke (allenfalls Sperrgrundstücke) und keine praktikablen Möglichkeiten zur zwangsweisen Zusammenlegung und Enteignung von Grundstücken zur Verfügung standen. Die Zusammenarbeit von Architekt und Verwaltungsjuristen stellte eine Kompensation der beschränkten Mittel zum Eingriff in das Privat­eigentum der Grundstücksbesitzer dar, bei der praxisorientierte Kompromisse zur «Stadtbaukunst» führten.

Diese ästhetisch und räumlich motivierte Vorgehensweise, befreit vom Zwang des Schemas, erleichterte die praktikable Umsetzung im Alltag, auch im Sinn eines «harten Realismus» und einer Auseinandersetzung mit dem «Wirklichen», und spiegelte im Ergebnis mit «krummen und geraden» Strassen sowohl die Eigentumsverhältnisse als auch die Ästhetik Sittes.

Räumliche Zonierung/Staffelbauordnung

Für die räumliche, dreidimensionale Ausformulierung des Stadtraums ist jedoch über die Baulinienfestlegung hinaus noch ein weiteres Werkzeug notwendig. Erst durch die «Staffelbauordnung» mit zugehörigem «Staffelbauplan» vollendete Fischer (1904) die funktionale, räumliche und ästhetische Festlegung des Stadtkörpers. Mit neun (später zehn) festgelegten Bebauungstypo­logien in geschlossener bzw. offener Bebauung wurden die Dichte und Höhe für die einzelnen Strassenzüge im Staffelbauplan parzellenübergreifend definiert. Dieses sehr einfache Werkzeug, gepaart mit seiner präzisen räumlichen Vorstellung, formulierte einen Gesamtstadtkörper, der sich über die prinzipielle Auseinander­setzung mit dem öffentlichen bzw. dem Strassenraum definierte.

Es wurde strassenseitig die Staffel festgelegt, und so konnten nicht nur blockweise, sondern stras­senweise die räumlichen Festlegungen entlang der ­Bau­linien getroffen werden. Dies bot die Möglichkeit, z. B. auch hohe, dichte Strassen an den Stadtrand zu führen (Radialstrassen), von denen niedrigere Strassen (Wohnstrassen) abzweigen. So gliederte sich das Bauliniennetz in Strassen für den Verkehr und Strassen für das Wohnen. Diese Dichtefestlegung war grundsätzlich unabhängig von der Entfernung vom Zentrum. So konnten auch vom Zentrum entfernt dezentrale Plätze mit höherer Umgebungsbebauung angelegt und besondere Orte und Plätze mit entsprechend passender Rahmung der Bebauung einfach definiert werden.

Im Ergebnis spiegelt nun der öffentliche Raum einerseits die zugrunde liegende Parzellierung und Topografie wider, andererseits ist es eine Konzeption des Stadtraums, bei der «Mannigfaltigkeit» und dennoch Einheit durch Unter- und Überordnung («nur einer soll herrschen, nichts ist’s mit der Vielherrschaft») erzeugt wird – Stadt als Formidee mit dem Ziel der Geschlossenheit des ästhetischen Eindrucks. Es entstand also aus den Überlegungen der «Stadtbaukunst» ein auch nach heutiger Sicht «hochmoderner» Städtebau mit konsequenter Trennung von Verkehrs- und Wohnstrassen, einer hochdifferenzierten Zonung und Modellierung des Stadtkörpers mit einer geschlossenen Raumästhetik, die immer noch wirksam ist und die Verfügungsgewalt der privaten Eigentümer begrenzt, da die da­maligen Überlegungen bis heute räumlich prägend für die gesamten Stadtquartiere und damit für die ­Einfügung von Neubauten sind.

Permanenz

«Der Wandel im Wesen der Stadt und der Wandel in der Form, sollte man meinen, ist eins; denn wie anders als durch die Erscheinung drückt sich der Wandel des Wesens aus? Wir sehen aber, dass manchmal die alte Hülle, da sie schwerer ist als geistige Dinge, lange noch aushält, wenn schon der Gehalt ein anderer geworden ist.» So formulierte Theodor Fischer (1927 in «Die Stadt»). Und in dieser alten räumlichen Hülle steht München immer noch.

Trotz der massiven Kriegszerstörungen und dem darauf folgenden Wiederaufbau mit «modernen» Gebäuden, der jedoch im Wesentlichen den Baulinien und der Staffelbauordnung (im Gebrauch bis 1979) ­folgte, erkennt man, dass sich durch Fischers «Stadtbaukunst», die sich selbstbewusst der Realität stellt, eine stadträumliche Qualität und Permanenz entwickelt, wenn Baulinie und resultierender Raum weiter existieren, unabhängig von den einzelnen Gebäuden. Da spielt es für die Einheit der Stadt auch keine wesentliche ­Rolle, dass zumeist mediokre Einzelarchitekturen die Stadtmasse bilden.

Es bleibt noch die Frage nach dem Künstlerischen in der «Formidee», für die «Anhäufung von menschlichen Wohnungen und Einrichtungen mit der Wirkung einer Einheit». Und als knappe Antwort die These Theodor Fischers: «Das Künstlerische kann nicht gewollt werden. Es kommt als Gnade, oder es bleibt aus.» 

TEC21, Fr., 2016.04.08

08. April 2016 Matthias Castorph

Realismus mit allen Sinnen

Die Architekten Alison und Peter Smithson beschäftigten sich mit der sinnlichen Wahrnehmung städtischer Phänomene und setzten sie in Verbindung mit der sozialen Frage des Gebrauchs. Ihre Seh- und Emp!ndungsschule liefert Instrumente und Einsichten, die auch heute relevant sind.

Die Wiederentdeckung des Städtischen ist ein Projekt der «dritten Generation der Moderne», wie sich die englischen Architekten Alison und Peter Smithson selbst definieren. Sie ist, vielleicht überraschend, mit einer Suche nach elementaren Wahrheiten und möglichen Neuinterpretationen verbunden, die sich ihrerseits wiederzuentdecken lohnen. «Italienische Gedanken – Beobachtungen und Reflexionen zur Architektur» erschien 1996 nur auf Deutsch in der Reihe «Bauwelt Fundamente» und fasst die Arbeiten von Alison und Peter Smithson im Rahmen des von Giancarlo de Carlo gegründeten «International Laboratory of Architecture and Urban Design» (ILA & UD) in der Zeit zwischen 1976 und 1991 zusammen.

Sie eröffnen eine Sichtweise, die wahrscheinlich weniger bekannt ist als die Statements der Smithsons in Form von Ausstellungen und Texten aus der heroischen Phase vor 1970. Sie werden 2001 ergänzt durch «Italienische Gedanken, weitergedacht» und entstehen in einem Zeitraum, in dem die Smithsons neben den Gebäuden für den Universitätscampus von Bath nur noch wenig bauen. Ihre brutalistische Wohnüberbauung «Robin Hood Gardens» im Londoner East End gilt schon kurz nach Fertigstellung 1972 als sozial gescheitert. Aktuell wird über deren bereits 2008 beschlossenen Abriss gestritten. Wie dieser gesellschaftliche Misserfolg das Denken der Smithsons in der Folge beeinflusst, ist an anderer Stelle zu untersuchen. An dessen innerer Konsequenz ändert sich jedenfalls nichts, wie die tabellarische Übersicht belegt, die dem ersten Band der «Italienischen Gedanken» vorangestellt ist und den Zusammenhang zwischen den akademischen Arbeiten am ILA & UD und dem schmalen gebauten Werk in dieser Zeit darstellt.

Ihr Interesse für kleine Situationen, Tore und Portale, Schranktüren, Spuren in der Landschaft oder den Himmel über Rimini steht natürlich in der Kontinuität ihrer Entdeckung der Ästhetik des Gewöhnlichen und des sogenannten «As-Found-Prinzips», das die Smithsons in den 1950er-Jahren früh berühmt gemacht hat: «As found is a small affair: it’s about being careful.»[1] Allerdings macht es einen Unterschied, ob dieses sorgsame Interesse für das «Andere» am mythischen Anfang einer Karriere steht, ohne Aufträge und gebautes Werk, oder in einer Phase, in der man erwarten würde, dass sich nach ersten Erfolgen ein immer grösseres Œuvre entfaltet.

Je nach Blickwinkel erscheint diese leidenschaftliche Beschäftigung als eigenständig oder verschroben, mutig oder tragisch. In jedem Fall steht sie quer zu vielem, was das architektonische Metier und die Produktion von Stadt aktuell prägt.

Konglomerate Ordnung

Die «Italienischen Gedanken» sind nicht systematisch geordnet. Wie in den Wunderkammern der Spätrenaissance und des Barock stehen Grosses und Kleines, Allgemeines und Spezifisches scheinbar zufällig nebeneinander. Die Herausgeber Hermann Koch und Karl Unglaub sprechen im Vorwort von ihren Bemühungen, «die ungewöhnlichen fragmentarischen Wortschöpfungen und Satzbauten der Autoren ins Deutsche zu übertragen».[2] Die Pulsgeber der brutalistischen Avantgarde sind Engländer mit einem Hang zu eigenwilligen Sprach- und Denkmodellen und unhierarchischen Ordnungssystemen. Ein solches System, die «konglomerate Ordnung», nimmt dann im ersten Band einigen Raum ein, bildet einen inhaltlichen Schwerpunkt, wenn man einen ausmachen will. «Ein Gewebe der konglomeraten Ordnung nimmt alle Sinne in Anspruch», steht einleitend. Als Referenz dient den Smithsons der Getreidespeicher «La Grancia di Cuna» im Contado von Siena, den sie als ein Konglomerat von Hallen, Rampen und Türmen beschreiben, mit labyrinthischen Qualitäten und geheimen Orten, in dem man aber immer ein natürliches Gefühl der Sicherheit und Orientierung verspüre. Diese «Natürlichkeit» und die Erfahrung, «dass ein Gewebe ‹geordnet› ist, auch wenn wir den Ort nicht auf den ersten Blick verstehen oder das Gebäude kennen»[3], ist wohl der elementare Wesenszug, den die Smithsons mit einer strategischen Perspektive auf den Begriff zu bringen versuchen. Mit einem deutlichen Shift gegenüber ihrer strukturalistischen Auffassung der 1950er-Jahre, die sehr konzeptionell aus der Gegenposition zum CIAM und der funktionsgetrennten Stadt entwickelt war, betonen sie jetzt die sinnliche und räumliche Wahrnehmung von Stadt und Architektur. Im Rückblick relativieren sie, zwar nur sehr sanft, ihren idealistischen, allzu symbolistischen Ansatz: «Sicherlich waren unsere frühesten Arbeiten in den Fünfzigerjahren – die ‹Golden Lane streets-in-the-air› und unser Beitrag zum ‹Hauptstadt-Berlin-Wettbewerb› – bewusst Gewebe in Form überlagerter Netze, die miteinander verbundene Räume bildeten, um irgendwie das Netzwerk der Gesellschaft auszudrücken.»[4] Dagegen ist der «Kanon der konglomeraten Ordnung», den sie in den «Italienischen Gedanken» aufstellen, einem Realismus verpflichtet, der sehr konkrete, fast naturalistische Züge trägt. War die Umdrehung des Denkens vom Objekt zum Raum zuvor eine Bewegung im Kopf, die bei den besagten Projekten dazu führt, dass neu die Räume und Wege, sprich die Erschliessungssysteme objekthaft aufgefasst und als Netzstrukturen entworfen werden, ohne eine Antwort für die Räume, die wiederum dazwischen entstehen, geben zu können, so wird das Räumliche jetzt primär als erlebbares Phänomen formuliert.

«Ein Gebäude der konglomeraten Ordnung hat räumliche Präsenz – überwältigender als die Präsenz des Objekts. Es ist nicht im entferntesten auf ein einfaches geometrisches Schema reduzierbar oder durch zweidimensionale Bilder vermittelbar.»[5] Die Vorstellung, dass sich ein Gebäude der konglomeraten Ordnung seinem Wesen nach mit allem verbindet, was es umgibt – «mit anderen Gebäuden, Menschen, dem Himmel, Bergen, Vögeln, Flugzeugen»[6] –, kommt in ihren Gebäuden auf dem Campus der Universität Bath zum Ausdruck, die aktiv das Wege- und Beziehungsnetz der öffentlichen Orte, auch Parkplätze und Bushaltestellen, miteinbeziehen. Im Gebäude «6 East» der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen ist das komplexe Raumprogramm in Zonen unterschiedlicher Dichtegrade angeordnet, die eine natürliche, instinktive Benutzung und Bewegung durch das Gebäude unterstützen sollen. Nach aussen kommuniziert das Haus über Rampen, Loggien und differenziert ausgebildete Fensteröffnungen mit der unmittelbaren und ferneren Umgebung des Campus.

Dieses strukturelle Prinzip wird auf den Massstab der Stadt erweitert und als «das islamische konglomerate Erbe» an der Altstadt von Sevilla anschaulich gemacht. Idealistischer Städtebau der Inszenierung versus realistischem Städtebau, der durch den Gebrauch und die Topografie des Orts geprägt ist: «Die Wege und Strassen der Renaissance sind Theater. Mittelalterliche Wege und Strassen sind Tatsachen.»[7] Die Voraussetzungen dafür, dass ein Stadtraum absorptionsfähig ist, werden umrissen. Die reduzierte Geschwindigkeit des Verkehrs, die nicht aufgrund von Gesetzen, sondern aus Gewohnheit Vertrauen in das soziale und physische Gewebe der Stadt schafft, ist ebenso benannt wie die Unregelmässigkeit des Raums, der dadurch «unsichtbar» endet, in andere Raumzonen übergeht und immer ein Überangebot an Leere und Kapazität evoziert. Die Verunklärung von Grenzen soll zugleich die Zerstreuung von Geräuschen unterstützen und ein Gefühl von Kontinuität und Zugehörigkeit vermitteln, das in der «Erweiterung der Behausung» im Rhythmus des jahrzeitlichen Wechsels seine funktionale Entsprechung findet.

Die steile These, unerschütterliches Vertrauen in die eigene Gemeinschaft sei Voraussetzung dafür, dass die Bewohner fähig sind, das Fremde zu absorbieren, im Sinn einer eher «gleichgültigen Neugierde», scheint heute neue Brisanz zu gewinnen. Die Auseinandersetzung mit der «Absorptionsfähigkeit des Zwischenraums» weist auf den Schwerpunkt der weitergedachten «Italienischen Gedanken» des zweiten Bands hin – oder wie es die Autoren selbst in der Einführung formulieren: auf den Zwischenraum als Kernthema jedes gebauten Eingriffs.

Zwischenraum

Aus heutiger Sicht und mit schnellem Blick wirken viele der Beobachtungen und Einsichten des zweiten Bands etwas abgehoben. Das mag auch mit den gezeigten Projekten zusammenhängen. Kleinste Interventionen, denen grosse Wirkungen unterstellt werden, formal im wahrsten Sinn etwas schräg, wenn immer wieder die diagonale Linie in gerüsthaften Konstruktionen oder in Stab- und Fachwerken auftaucht und offenbar als Merkmal und Zeichen eines neuen Stils verstanden sein will. Lässt man sich davon nicht ablenken, wird allerdings ein hochverfeinertes Sensorium für räumliche und atmosphärische Zusammenhänge sichtbar.

Die Richtung ihres Denkens weg von der osmotischen Struktur von Gebäuden hin zur bindenden Kraft des Zwischenraums führt zunächst zu Verbindungselementen wie Pfaden, Autobahnen oder Flussläufen, also – wenig erstaunlich für die Smithsons – zur Infrastruktur der Zirkulation, von dort zu «Uferreaktionen» oder «Massnahmen zur Bodenverbesserung». Über die Wahrnehmung des Himmelsausschnitts als Gestaltungsmittel führt sie auch zur Beschäftigung mit der Stadtsilhouette, zum Charakter von Strassenräumen und zur Gliederung von Baukörpern und Fassaden als Betonung einer topografischen Situation. Im Rückblick dient das berühmte Foto der Smithsons von 1956 mit Mitgliedern der Independent Group, dem Künstler Eduardo Paolozzi und dem Fotografen Nigel Henderson, mit denen zusammen sie auf Stühlen mitten in der Strasse sitzen, der Reflexion über die Proportion und Lichtqualität dieser Strasse: «Hier, in der Limerstone Street, hat der Himmel eine besondere Qualität. Es hat etwas mit der Form des Strassenraums zu tun, mit dessen Definition durch kurze, gerade Gesimslinien und mit der Qualität des Lichts. Man fühlt diese Qualität jedesmal, wenn man durch die Strasse geht. Hier nimmt man den Himmel wegen des flachen Horizonts und der Offenheit der Strasse wahr – und weil er durch ganz einfache Häuser und Schornsteine geformt wird.»7

Die Verknüpfung eines legendären Moments der britischen Avantgarde mit der empathischen Beschreibung eines traditionellen Strassenraums deutet die Spannweite des Denkens an und das architektonische Kontinuum, in dem die Smithsons sich ganz «unmodern» bewegen. Das funktioniert auch in die andere Richtung: «Bath – Walks within the Walls» erscheint 1971. Gleichzeitig mit der Fertigstellung von «Robin Hood Gardens», der Inkunabel des Brutalismus, gehen die Smithsons auf träumerische Rundgänge auf der Suche nach dem Wesen einer alten Stadt. Ihre Faszination für deren Permanenz verblüfft, sie interpretieren diese allerdings nicht nur formal, sondern auch als soziales Programm: «The reverie that Bath can induce is an important part of the lesson ... unique in the depth of its commitment to the romantic-classical dream ... remarkable cohesion ... a form-language understood by all, contributed by all. That the rules were understood by all meant they were extended far beyond the text-books.»[9] Konvention wird zur Basis für die schöpferische Auseinandersetzung mit der Stadt und die Ausbildung charakteristischer Orte.

Lessons to learn?

Die Smithsons bieten einen Realismus im Umgang mit der Stadt, der an der sinnlichen Wahrnehmung städtischer Phänomene und Muster ansetzt und sie in Verbindung bringt mit der sozialen Frage des Gebrauchs. Dafür entwickeln sie Kategorien, die nicht systematisch geordnet sind, aber zu einer konsistenten Haltung führen. Ihre Seh- und Empfindungsschule, die vom Alltag und dem Gewöhnlichen ausgeht und sich im Lauf der Jahre immer stärker architektonisch verfeinert, sowie ihre Thesen zu einer absorptionsfähigen Stadtstruktur gehören in einer Zeit, in der wir Debatten über Dichtestress führen und eher ohnmächtig vor der Frage stehen, wie wir unsere Stadt, die Agglomeration, weiterbauen sollen, ins Curriculum jeder zeitgemässen Architekturlehre, gewissermassen als Vorkurs oder Propädeutikum für die Auseinandersetzung mit Stadt, Landschaft und Architektur. Diese Programmatik bereitet aber auch einen Paradigmenwechsel vor, der für die Smithsons zu jenem Zeitpunkt längst im Gang ist: «Die nächste Architektursammlung unserer Zeit wird völlig anders sein, da sie nicht ‹Gebäude› dokumentieren wird, sondern ‹gebaute› Situationen.»[10] Als Primat vom öffentlichen Raum auszugehen, relativiert die objekthafte Thematisierung von Architektur. Die Häuser gehen Beziehungen ein, und die Stadt wird zur kollektiven Leistung.

Heute entsteht Stadt immer noch objektgesteuert, im besten Fall durch die Aufteilung grösserer Baublöcke unter verschiedenen Architekten. Lebendigkeit durch Markenvielfalt bleibt meist die einzige Zielsetzung. Über die Frage, welche spezifischen Orte und Raumcharaktere dabei entstehen könnten und welche Konsequenzen sich daraus für die Benutzung, die Struktur und die Erscheinung von Architektur ableiten müssten, wird selten diskutiert. Was früher durch Konvention und Begrenzung der Mittel selbstverständlich war, ist vielleicht heute in neuen Modellen von Diskurs und Kooperation zu verhandeln, die genau so mühsam wie spannend wären, weil damit viel mehr zu erreichen ist als ein weiteres schönes Objekt (vgl. TEC21 46/2015, «Städtebau als Gemeinschaftswerk»). Tibor Joanelly hat im «werk» 6-2015 in einem Essay mit dem Titel «Play it right» eine Strömung aktueller Schweizer Architektur ausgemacht, die einem neuen Realismus verpflichtet Häuser baut, die allerdings unterschiedliche, persönliche Sichtweisen auf die Wirklichkeit thematisieren. Entstehen würden dabei Häuser, die man gebrauchen und sinnlich erleben kann, weil sie ganz bestimmte Atmosphären erzeugen und davon getragen sind. Dieser architektonische Anspruch bietet die Ausgangslage, um von einzelnen Häusern auf Situationen und Ensembles erweitert zu werden, sprich, den Realismus der Architektur mit der Realität der Orte zusammenzubringen. Die Annäherungen von Alison und Peter Smithson zeigen ein doppeltes Wagnis: diese Orte sinnlich «wahr zu nehmen», möglichst umfassend, und dafür Worte zu finden, aus denen Denkformen des Städtischen werden.

Zeit, die «Italienischen Gedanken» weiterzudenken.


Anmerkungen:
[01] Peter Smithson, in «As Found – The Discovery of the Ordinary», ed. by C. Lichtenstein, T. Schregenberger, 2001, S. 198
[02] A. & P. Smithson, Italienische Gedanken, Bauwelt Fundamente 111, 1996, S. 7
[03] Ebd., S. 110
[04] Ebd., S. 126
[05] Ebd., S. 116
[06] Ebd., S. 140
[07] A. & P. Smithson, Italienische Gedanken, weitergedacht, Bauwelt Fundamente 122, 2001, S. 28
[08] Ebd., S. 66
[09] A. & P. Smithson, «Bath – Walks within the Walls», Adams and Dart, 1971 zitiert in «Without Rhetoric, An Architectural Aesthetic 1955–1972», 1974, S. 66 ff.
[10] A. & P. Smithson, «The Heroic Period of Architecture», 198

TEC21, Fr., 2016.04.08

08. April 2016 Ingemar Vollenweider

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