Editorial

Der enorme Zustrom von Schutz suchenden Menschen setzt die Politik in Europa unter Druck. Vorbei sind die Zeiten, in denen man die drängenden Probleme des Wohnungsbaus aussitzen konnte. Laut Pestel-Institut besteht ein Bedarf an 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr bis 2020, darunter 80.000 Sozialwohnungen. Zwei Drittel davon wird man wohl schaffen, der stetig anwachsende Rückstand ist aber kaum mehr aufzuholen. Es bedarf dringend der Revision lieb gewordener Behördenstrukturen und unbeherrschbarer Regelwerke. Einige Wohnungsbaugesellschaften und Architekten haben sich auf den Weg durch den Normen- und Beschränkungsdschungel gemacht und bereits jetzt überzeugende Lösungen gefunden. Nach kritischer Analyse und mit durchdachten Konzepten können Generationen übergreifende, verdichtete, mitunter sogar flexible Wohnformen für jeden Geldbeutel entstehen, wie Sie auf den folgenden Seiten sehen können. Es mangelt also nicht etwa am Gestaltungswillen der Planer und Entwickler – das beweisen allein schon die berühmten Low-Budget-Projekte von Lacaton & Vassal, wie z. B. in der »Cité Manifeste« in Mulhouse – vielmehr bedarf es einer Art Kulturrevolution in der Politik, damit Raum für Neues, für Experimente, für gesellschaftliche Veränderung entstehen kann. | Achim Geissinger

Gruppendynamik

(SUBTITLE) Wohnquartier »Urbanes Wohnen mit der Sonne« in Münster

Der Bau von Sozialwohnungen ist ohne eine Mischung mit teureren Angeboten derzeit nicht wirtschaftlich darstellbar. Die 60 geförderten Einheiten und 32 Eigentumswohnungen im Süden von Münster sind baulich explizit nicht voneinander unterschieden. Sie profitieren trotz vergleichsweise klassischer Merkmale wie Zeilenbau, Massivbauweise und Lochfassade von differenzierten Außenräumen und punkten mit Übersichtlichkeit, Privatheit, aber auch Offenheit und gestalterischem Gespür, sodass eine »Adresse« entstehen konnte.

Es geht ein Zombie um in der Wachstumsstadt Münster. Für die Beobachter der Stadtentwicklung trägt dieser Zombie rote Hosen (Klinker im Parterre) und einen weißen Pullover (Wärmedämmverbundsystem an den oberen Stockwerken). Die Baukultur-Szene befürchtet, das Ziel, 3 000 neue Wohnungen pro Jahr zu errichten, werde zu Billigbauten führen, die höchstens Buntspechte erfreuen. Diese lieben den Fassadensound beim Erhämmern kuschelig gedämmter Bruthöhlen. Selbst das stadteigene Wohnungsunternehmen Wohn+Stadtbau plant trotz des Eigeninteresses gegen Ghettobildung derzeit ein solches Quartier mit billiger Anmutung.

Mit dem Wohnquartier Scheibenstraße von 3pass aus Köln beweist derselbe Bauherr aber: »Wir können auch anders.« Von der städtebaulichen Konzeption, der Freiraum- bis zur Ausführungsqualität setzt das Projekt solide Maßstäbe für das Ziel, den überhitzten Wohnungsmarkt gerade im Segment für Single- und Zweipersonenhaushalte zu entspannen. Für dieses Projekt hat die Wohn+Stadtbau jetzt den Ausloberpreis der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen bekommen. Mit dem anderen Projekt wird sie keinen Blumentopf gewinnen.

Skaterlegende Titus Dittmann betreibt gegenüber der Wohnanlage in einer alten Gewerbehalle seinen »Skaters Palace«. Über den Sport betreibt er u. a. Integrationsarbeit für geflüchtete Jugendliche. Austausch und Zugang zur Gesellschaft befördert auch die Wohnanlage. Sie öffnet sich zu allen Seiten und signalisiert damit: Hier geschieht keine Ausgrenzung. Ein Drittel der Wohnungen ist öffentlich gefördert und damit sozial gebunden. Nach außen ist der Anteil dieser Wohnungen an den viergeschossigen Gebäudeteilen erkennbar, die aufgrund der besseren Flächenausnutzung günstiger realisiert werden konnten. Die Eigentumswohnungen in den kostenintensiveren Dreigeschossern waren bereits kurz nach Fertigstellung im April 2015 vollständig vermarktet. Der Bauherr verkaufte sie innerhalb kürzester Zeit, ganz im Gegensatz zu einem Gated-Community-Projekt eines anderen Bauherrn, das in Münster floppte, bis der Investor es schließlich verramschte.

Das aus einem Wettbewerb hervorgegangene Projekt von 3pass umfasst sieben Baukörper in West-Ost-Ausrichtung. Vier dreigeschossige Volumen auf polygonalen Grundflächen sind zwischen drei auf die westliche und östliche Quartiersseite aufgeteilte viergeschossige Gebäuderiegel eingestellt. Der Wettbewerbsentwurf sah noch eine komplett viergeschossige Bebauung vor. Nach Einwänden gegen die Bebauungsdichte im vorhabenbezogenen Bebauungsplanverfahren und intensiven Modellstudien der Architekten zu Besonnung und Verschattung entstand schließlich die realisierte Differenzierung. Die ‧resultierende GFZ liegt aber immer noch bei stolzen 1,1.

In Nord-Süd-Ausdehnung ergeben sich dazwischen Freiräume, die sich unregelmäßig weiten und verjüngen, und über welche die Baukörper von den Zugängen zur Wohnanlage her erschlossen sind. In der warmen Jahreshälfte dienen diese Räume dem vielfältigen Nachbarschaftsleben. Sie verknüpfen das Quartier mit dem angrenzenden Wegenetz. Dadurch ist der Zugang zum lokalen Busnetz sowie zu verschiedenen Sozialeinrichtungen gegeben. Kindertagesstätte und Services für ältere und behinderte Menschen liegen in fußläufiger Entfernung. Die Nahverkehrsanbindung ermöglichte eine Reduktion der von der Bauordnung verlangten Anzahl an PKW-Stellplätzen im Quartier.

Sowohl die Höhendifferenzierung als auch das Ausscheren der Raumwände aus der Geradlinigkeit spielen mit dem Thema subtiler Abweichungen und lassen im Außenraum keine Monotonie aufkommen. Die im Quartiersinnern von der Parallelen abweichenden Wände erzeugen räumliche Dynamik.

Ein einheitlich gelblicher Klinker verblendet, sorgfältig gefügt, alle sieben Volumen. Selbst bei trüber Witterung sorgt das helle Beige-Gelb der Klinkerfassaden für eine freundlich-warme natürliche Belichtung der zum Freiraum orientierten Wohnungen. Die kompakten Wohnungen wirken erstaunlich großzügig, wozu auch beiträgt, dass Flurzonen auf ein Minimum reduziert sind, wodurch Tageslicht alle Räume durchfluten kann.

Die einheitliche, auf dauerhafte Qualität ausgelegte und entsprechend sorgfältig detaillierte Klinkerfassade signalisiert Gemeinschaft und Zusammenhang der Baukörper. Unterschiedliche Kubaturen und zu allen Seiten der Anlage sich öffnende Freiräume setzen Individualität und Offenheit dagegen. Keines dieser Prinzipien dominiert, sie sind gut austariert. Wenn die Wohnanlage so ein Modell der (Stadt-) Gesellschaft ist, darf man in Münster angesichts der Integrationsaufgaben sagen: »Wir schaffen das.«

Eine Adresse haben

Zur Kostenbegrenzung wurden in den geförderten Gebäuderiegeln bisher keine Aufzüge eingebaut. Der Raum für Über- und Unterfahrt optional nachzurüstender Aufzüge ist aber bereits über und unter dem großzügig bemessenen Treppenauge vorhanden. So konnte der Erschließungsstandard günstig gehalten werden. Dem Wertverfall durch den Ausschluss einer Anpassung an Bedürfnisse alter und behinderter Bewohner wurde damit vorgebeugt. Gleichzeitig ergibt die Dimensionierung der ohne besondere Gestaltungsmerkmale schlicht gehaltenen Treppenräume eine Großzügigkeit, die man in der Erschließung von Sozialwohnungen nicht erwartet. Auch Leistungsbezieher haben hier eine gute Adresse. Hierin, wie auch an der Qualität der Fassade, zeigt sich das Interesse des Bauherrn an seinem Gebäudebestand und der Qualität der Stadt. So macht das Wohnungsunternehmen Wohn+Stadtbau mit diesem Quartier seinem Namen alle Ehre, es baut nicht bloß Wohneinheiten, sondern die Stadt mit. Es setzt damit Maßstäbe und muss sich einmal selbst daran messen lassen. An diesem Projekt messen darf man auch, dass andere Städte das wertvolle Instrument der eigenen Wohnungsbaugesellschaft zur Haushaltssanierung voreilig aus der Hand gegeben haben.

db, So., 2016.04.03

03. April 2016 Jan Rinke

Einer für alle

(SUBTITLE) Wohnungsbau am Mehrgenerationenplatz Forstenried in München

Eine neue Waldorfschule in München versteht sich als »Mehrgenerationenplatz«, der nicht nur vielfältige Schulgebäude umfasst, sondern auch Geschosswohnungsbau beinhaltet. Mit zahlreichen baulichen und organisatorischen Angeboten zur Ausbildung einer engen Hausgemeinschaft bietet der Neubau beste Voraussetzungen für ein aktives Miteinander verschiedener Bevölkerungsgruppen.

»Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.« Dieses afrikanische Sprichwort nahm die vor sechs Jahren auf einer ehemaligen Brachfläche in München-Forstenried eröffnete Freie Waldorfschule München Südwest zum Leitmotiv sowohl für ihren pädagogischen Ansatz als auch für die städtebauliche Struktur des Schulgeländes. Da sich die Schule derzeit noch in der Aufbauphase befindet, d. h. es gibt noch nicht alle Klassen bis zur Oberstufe, sind von dieser Gesamtstruktur bislang nur Fragmente realisiert: in Grund- und Aufriss unregelmäßig geformte Bauten, die mit überwiegend kräftigen Fassadenfarben und begrünten Dächern in lockerer Beziehung zueinander stehen. Bereits fertiggestellt sind ein kleines Schulgebäude aus dem Gründungsjahr (2010), ein großes Schulgebäude mit Mensa (2014) sowie ein Kinderhaus zur Betreuung von Ein- bis Sechsjährigen (2015). Teil des Ensembles ist aber auch ein neuer, zickzackförmiger, rund 130 m langer Wohnungsbau am westlichen Rand des Areals.

Initiiert wurde dieser ursprünglich von einigen Mitgliedern des Fördervereins Freie Waldorfschule München Südwest. Sie gingen 2010 auf die Wohnungsbaugenossenschaft Wogeno zu, um mit ihr zusammen die Idee eines »Dorfs« umzusetzen, in dem die »Strukturen der Großfamilie wieder ins Zentrum der Gesellschaft« rücken. Aus der daraufhin entstandenen Kooperation ging das Konzept eines »Mehrgenerationenplatzes« hervor, das ein Jahr später mithilfe eines Architektenwettbewerbs für das gesamte Schulgelände in die Realisierungsphase ging. Zu den erklärten Zielen der beiden Auslober zählen u. a. »vielfältige Synergien, Kooperationen und soziale Impulse«, die sich aus der gemeinsamen Nutzung nicht nur der Freiflächen, sondern auch der Mensa, des Theatersaals, der Turnhalle und der Werkstätten ergeben sollen – die letzten drei Nutzungen werden in den im Lauf der nächsten Jahre noch zu errichtenden Gebäuden untergebracht sein.

Wegenetz aus Treppen und Laubengängen

Der nach Plänen der siegreichen Architekten von bogevischs buero errichtete, größtenteils fünfgeschossige Wohnungsbau (Schulgebäude und Kinderhaus wurden von anderen Architekten realisiert) vermittelt zwischen der Waldorfschule und den westlich benachbarten Wohn- und Bürogebäuden an der Limmatstraße. Während sich die privaten Balkone und Terrassen dorthin orientieren, ist das Gebäude auf der Ostseite nicht zuletzt wegen der offenen Laubengangerschließung eng mit dem Schulgelände verknüpft. Die an drei Treppenhäusern angebundenen Laubengänge können von den Bewohnern der 70 Wohnungen frei »durchwandert« werden. Um zufällige Begegnungen und gemeinsame Aktivitäten im Haus zu fördern, verfügen sie über vereinzelt vor Fenstern aufgestellte Sitzbänke sowie Balkonerweiterungen, die sich z. B. als zusätzlicher Freisitz eignen. Wesentlich mehr Spielräume bieten in diesem Zusammenhang die beiden Dachterrassen, die sich – eingebunden in ein Wegenetz aus Treppen und Laubengängen – wie die Sonnendecks auf einem Kreuzfahrtschiff großflächig nach beiden Seiten und zum Himmel öffnen. Dies gilt insbesondere für die südliche Dachterrasse im 3. OG, an der einer der beiden Gemeinschaftsräume mit Küche sowie ein Gästeapartment liegen. Die enorme Größe der Terrasse, die beiden offenen Treppen zum 4. OG bzw. zur Dachfläche sowie die beidseitig aufragenden Stirnwände des 3. und 4. Wohngeschosses schaffen einen angenehm kleinmaßstäblichen Bereich mit fast dörflicher Atmosphäre. Davon dass die Terrasse tatsächlich viel genutzt wird, zeugen neben Grillutensilien aufgestellte Tische, Bänke und Hochbeete. Gemeinschaftliche Angebote wie diese lassen es verschmerzen, dass die zum Laubengang orientierten Küchen, Wohn- und Schlafräume dank der großen Fenster gut belichtet, aber eben auch gut einsehbar sind. Viele Bewohner betrachten dies als Chance zum offenen Miteinander, während sich andere mit blickdichten Vorhängen und Jalousien eher abschotten.

Vielfältige Gemeinschaft

Ein weiterer Gemeinschaftsraum, der zudem über einen Waschsalon und eine Mobilitätsstation verfügt (hier lassen sich Car- und E-Bike-Sharing-Angebote nutzen), befindet sich zwischen mittlerem Treppenhaus und dem zweigeschossig hohen Durchgang zwischen Limmatstraße und Schulgelände. Einen wesentlichen Beitrag zum Entstehen der heutigen Hausgemeinschaft leistete der Entschluss, die Bewohner gleich nach Vergabe der Wohnungen in den Planungsprozess einzubinden. Selbst wenn es dabei weniger um Grundsätzliches als vielmehr um Ausbaudetails ging, war es im Sinne des Zusammenhalts doch wichtig, die überaus heterogene Bewohnerschaft an einen Tisch zu bringen. Einerseits wohnen dort Lehrer und Schüler der Waldorfschule, die den Mehrgenerationen-Gedanken bewusst leben wollen. Auf der anderen Seite wurde fast die Hälfte der Wohnungen im Rahmen der einkommensorientierten Förderung (EOF, Amt für Wohnen und Migration) bzw. nach dem »München Modell« (Sozialreferat) vergeben. Hinzu kommen eine »familienorientierte traumapädagogische Wohngruppe« für acht Kinder und Jugendliche ab sechs Jahren, acht Apartments für einzelbetreutes Wohnen sowie eine betreute Wohngemeinschaft für insgesamt acht sehbehinderte Menschen.

Konstruktion und Ausbau

Um dieser Vielfalt entsprechend Raum geben zu können, entschlossen sich die Architekten für eine tragende Struktur aus Betonschotten. Diese Bauweise sorgt zwar für klar definierte, unverrückbare Wohnungsbreiten, ermöglicht zugleich aber eine völlig flexible Grundrissaufteilung, bei der übereinanderliegende Abwasserschächte die einzigen Fixpunkte darstellen. Und so gibt es Single-Wohnungen oder zweigeschossige Maisonette-Wohnungen zwischen zwei Betonschotten ebenso wie große Familienwohnungen, die sich über drei Schottenfelder erstrecken. Die Außenwände bestehen zum großen Teil aus nichttragenden Holzrahmenelementen, die mitsamt Fenstern und vorvergrauter Holzfassade aus Weißtanne vorgefertigt wurden – woraus sich relativ kurze Montagezeiten und Kostenvorteile ergaben. Positiv auf die Gesamtkostenbilanz wirkte sich auch aus, dass im gesamten Bauvorhaben, neben Terrassen- und Balkontüren, nur zwei Fensterformate zum Einsatz kamen – teils mit Schwing-, teils mit Drehflügeln. Aufgrund solcher seriellen Lösungen und dank des einfachen konstruktiven Prinzips, zu der auch die aus Fertigteilen vor die Außenwand gestellte Betonkonstruktion der Balkone zählt, war es den Architekten an anderer Stelle möglich, hohe Standards zu verwirklichen: z. B. Holzfenster und Eichenparkett in allen Wohnungen, unabhängig von Größe, Förderungsmodell und Nutzer. Am Ende lagen die Baukosten des im KfW-55-Standard errichteten Wohnungsbaus nach Angaben der Architekten im Münchener Durchschnitt.

Energiekonzept und Synergien

Der Einsatz nachwachsender Rohstoffe spielt nicht nur in der Fassade, sondern auch beim Energiekonzept eine wesentliche Rolle. So befindet sich im UG des Wohnungsbaus ein mit Holzpellets betriebenes Blockheizkraftwerk mit 40 kW elektrischer Leistung, mit dem sowohl die Wohnungen als auch die Schule mit Warmwasser, Heizwärme und Strom versorgt werden – Betreiber ist ein eigens gemeinsam von der Wohnungsbaugenossenschaft und der Waldorfschule gegründetes Unternehmen. Hinzu kommt eine Photovoltaikanlage auf dem Dach des nördlichen Gebäudeteils, die u. a. zum Aufladen der Elektroautos bzw. E-Bikes in der Tiefgarage beiträgt. Die Tatsache, dass dort überdies Fahrzeuge eines Carsharing-Anbieters zur Verfügung stehen, ermöglichte die Anwendung eines reduzierten Stellplatzschlüssels, sodass weniger Stellplätze gebaut werden mussten als baurechtlich gefordert – was wiederum zu Kosteneinsparungen führte.

Inwieweit die Rechnung des gemeinsamen Energiekonzepts und die gegenseitige Nutzung von Wohn- und Schulräumen aufgeht, wird sich in den nächsten Jahren nach Fertigstellung des Schulcampus’ zeigen. Schon heute sind allerdings zwei Dinge sichtbar. Zum einen bilden der eher rationale, fast monochrom graubraune Wohnungsbau (Akzente setzen grüne Blumenkästen, Sitzbänke und Treppenhauswände) und die eher frei geformten und farblich gestalteten Schulgebäude – trotz ihrer unterschiedlichen architektonischen Haltung – eine harmonische Einheit. Zum anderen machen rege genutzte Balkone, Laubengänge, Dachterrassen und Gemeinschafträume deutlich, dass die kommunikativen Angebote tatsächlich wahrgenommen werden.

db, So., 2016.04.03

03. April 2016 Roland Pawlitschko

Lichtblick

(SUBTITLE) Wohnungen und Wohngruppe der Lebenshilfe in Ingolstadt

Gelungenes Finale eines im Rahmen des Nachwuchswettbewerbs Europan 6 entstandenen Wohnungsbauprojekts in Ingolstadt: Unter der Ägide eines anspruchsvollen Bauherrn sind angemessene Räume für Familien wie auch für betreute Behinderte entstanden, mit geschützten Gärten und breiten Balkonen. Der markante Baukörper spielt innen wie außen mit den Themen Offenheit und Schutz.

Das Auge sehnt sich nach unverstelltem Horizont, nach saftigem Grün, nach einer Kneipe. Dass der Nordwesten Ingolstadts nichts dergleichen bietet, wäre vielleicht zu verschmerzen, schiene wenigstens die Sonne. Aber es ist grau, kalt und windig an diesem verregneten Wintertag. Nirgendwo im Freien geht einem an solch einem Tag das Herz auf, aber an einem Ort wie am äußeren Ende der Richard-Wagner-Straße geht es einem richtig dreckig. Lässt es sich hier leben? Wird man hier froh? Unablässig wird das Auge abgestoßen. Jenseits des Verkehrslärms der vierspurigen Straße beherrschen die grauen Hallen des Audi-Güterverkehrszentrums das Bild, im Westen versperrt ein banales Einkaufszentrum die Sicht, im Osten erstreckt sich das übel beleumundete Piusviertel mit seinen farblosen Wohntürmen. Und die Siedlung an der Permoserstraße, die sich im Süden an das Elend anschließt? Diese Geschichte spielt nicht im Paradies. Von Traumlage kann keine Rede sein. Umso bemerkenswerter ist es, was Politiker, Stadtplaner, Bauherren und Architekten aus der misslichen Situation gemacht haben.

Die 2,5 km westlich der Altstadt gelegene Siedlung hat eine Größe von 4 ha. Im Rahmen des Entwicklungsprogramms »Offensive Zukunft Bayern« entstanden hier seit den späten 90er Jahren geförderte Wohnanlagen ganz unterschiedlichen Formats.

In jedem der vier Bauabschnitte wurde anderen Materialien, Bauweisen, Ausdrucksformen der Vorzug gegeben, weshalb das Quartier insgesamt einen etwas zerrissenen Eindruck macht. Auf eine behutsame Gestaltung des öffentlichen Raums, die Einheit hätte stiften können, wurde weitgehend verzichtet. Daher sind es nicht großzügige Grünflächen und schöne Wege, die zwischen den disparaten Gebäudegruppen vermitteln, sondern Autostellplätze, verwinkelte Pfade und zerrupfte Restflächen. Einen Lichtblick gibt es jedoch. Und das sind die vier Wohngebäude, die das Quartier im Norden und Westen einfassen und stadträumlich definieren. Der erste im Rahmen des Nachwuchswettbewerbs Europan 6 realisierte Bau, ein langer Terrassenhaus-Riegel, erstreckt sich entlang der Hauptverkehrsader.

Sein 2010 fertiggestelltes Pendant schließt sich westlich an. Das dritte Bauwerk, ein Quader mit markanter Auskragung im Süden, markiert am Schnittpunkt von Richard-Wagner- und Permoserstraße den Eingang zum Siedlungsfeld. Nahezu im rechten Winkel dazu vervollständigt das 2015 als letzter Baustein fertiggestellte Wohngebäude das Ensemble. Als Teil eines über fast eineinhalb Jahrzehnte gewachsenen Ganzen nimmt der Neubau in vielerlei Hinsicht Bezug zu den Vorgängerbauten auf. Doch behauptet er sich mit seinen charakteristischen Merkmalen auch als Solitär. Entstanden ist er, wie die anderen drei Europan-Projekte, nach Plänen des Münchner Büros BLAUWERK unter der Bauherrschaft der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft Ingolstadt (GWG).

Sichtbeton versus Faserzement

Der viergeschossige Stahlbetonbau bietet Platz für 17 Wohneinheiten sowie einen zusammenhängenden Wohntrakt mit sechs Apartments für behinderte Menschen. In den unteren beiden Geschossen haben die Planer Maisonettwohnungen unterschiedlicher Größe platziert; das Spektrum reicht von der 3-Zimmer-Wohnung mit 76 m² bis zur 5-Zimmer-Wohnung mit 104 m². Die oberen beiden Geschosse beherbergen 2- bzw. 3-Zimmer-Wohnungen zwischen 58 und 82 m². Die Erschließung der OGs erfolgt über Laubengänge, die über markant ausgeformte Treppenhäuser an den Stirnseiten des Gebäudes erreichbar sind. An der Südfront formieren sich die Kante des vorkragenden Flachdachs sowie die vorspringenden Sichtbeton-Brüstungen von Treppenhaus und Laubengängen zu einem skulpturalen Fassadenbild von großer Kraft und Eigenständigkeit. Diese Wirkung wird von vorgeblendeten Glasscheiben, die das Treppenhaus schützen, eher verstärkt als beeinträchtigt. V. a. aus Lärmschutzgründen wurde das nördliche Treppenhaus mit einer Sichtbetonwand weitgehend geschlossen.

Mit seinen markanten Betonteilen setzt sich das Gebäude an der Permoserstraße von den Vorgängerbauten ab. Eine gestalterische Verbindung schafft das Material: Vorgehängte, hinterlüftete Faserzementplatten prägen mit ihrem dunklen Fugennetz die Fassaden aller vier Baukörper. Doch während die Terrassenhäuser sich im einheitlich weißen Eternitkleid präsentieren, steht das klinisch saubere Material beim Neubau in einem gewöhnungsbedürftigen Kontrast zum rohen Beton. Gewählt hat man es nicht zuletzt aus Gründen der Nachhaltigkeit: »Die Platten sind robust und lassen sich bei Beschädigung leicht auswechseln, was beim dauerhaften Unterhalt der Immobilie eine nicht unerhebliche Rolle spielt«, sagt der Architekt Tom Repper.

Sparzwang und Qualitätsanspruch

Alles spielt eine Rolle beim gemeinnützigen Wohnungsbau. Der enge, von zahllosen gesetzlichen Normen definierte Kostenrahmen beeinflusst jede Materialentscheidung, jedes konstruktive Detail, jede gestalterische Lösung. Qualitätvolle Architektur entsteht unter diesen Bedingungen nur, wenn die Planer zugleich kompromissbereit und kreativ agieren. Was dabei herauskommen kann, zeigt das Beispiel der vertikal verspringenden Fenster an der Westflanke des Gebäudes. Aus Kostengründen kamen preiswerte Kunststoffrahmen zum Einsatz, die jedoch größtenteils durch vorstehende Faserzementplatten und abschließende Aluminiumwinkel verdeckt werden. Was auch immer man über das Kaschieren von Schwächen denkt: Hier stärkt die Maßnahme das Erscheinungsbild ganz eindeutig.

Nicht immer müssen die zwischen Sparzwang und Qualitätsanspruch zu suchenden Lösungen bis an die Oberfläche durchdringen. Ein Beispiel ist der ökonomische Umgang mit Baumaterialien wie etwa dem Armierungsstahl. Um die Kosten niedrig zu halten, wurden nicht-tragende Innenwände ohne Bewehrung ausgeführt; Risse nimmt man in Kauf, zumal sie von einer einfachen Gipskartonbeplankung verdeckt bleiben, die ihrerseits wiederum nicht verputzt, sondern nur verspachtelt wurde. Außerdem kamen kostengünstige Filigrandecken zum Einsatz.

Solche Grundentscheidungen wurden selbstverständlich nicht allein von den Planern getroffen, sondern in Abstimmung mit einem sehr erfahrenen Bauherrn, der laut Tom Repper auch schon mal bereit ist, von strengen Normen abzuweichen, wenn sie sich nicht am praktischen Nutzen orientieren. Der Boden der Laubengänge ist ein Beispiel: »Eigentlich ist dort ein schallentkoppelnder Belag zwingend vorgesehen, doch man entschied sich dagegen, weil die Maßnahme keine spürbare Verbesserung bringt.«

Räume zum Wohlfühlen

Erlebbare Wohnqualität zu schaffen, war das Hauptziel aller Bemühungen. Um es zu erreichen, galt es Schwerpunkte zu setzen. So hat man sich auf eine funktionale Ausstattung der Bäder beschränkt und dafür in allen Räumen hochwertiges Mosaikparkett verlegt. Einen hervorragenden Eindruck machen auch die beplankten Balkone in den OGs, die Holztreppen in den Maisonettewohnungen, die mit Holz bekleideten Fensterlaibungen und viele Ausstattungsdetails mehr. Neben den gediegenen Materialien überzeugen auch die Räume als solche. Alle Wohneinheiten verfügen über durchgesteckte, zweiseitig belichtete Zentralbereiche. In den meisten Wohnungen ermöglichen raumhohe Schiebetüren das Zusammenschalten von Räumen. Die Maisonetten wirken nicht zuletzt dank der Galerie im Eingangsbereich und des rückwärtigen, geschützten Privatgartens großzügig. Die Einheiten in den oberen Geschossen öffnen sich auf breite Ostbalkone, die den Wohnraum nach draußen verlängern. Last but not least stimmt die Qualität auch in energetischer Hinsicht. Die meisten der mit Fernwärme geheizten Räume sind mit Zu- und Abluftanlagen zur Wärmerückgewinnung ausgestattet. Das Gebäude ist ein KfW-Effizienzhaus 70.

Und was sagen die Mieter? Der Familienvater aus der 3-Zimmer-Wohnung im OG und die Bewohnerin der 77-m²-Maisonette sind sich einig: Alles bestens, man wohnt sehr gerne hier. Zum Wohlbefinden trägt sicherlich der günstige Mietzins von 7,5 Euro/m² bei. Doch auch die architektonischen Qualitäten wissen die Mieter zu schätzen. Und noch etwas gefällt ihnen: In vier Jahren wird Ingolstadt auf dem 30 ha großen Gelände zwischen dem Westpark-Einkaufszentrum und den Audi-Hallen eine Landesgartenschau ausrichten. In Sichtweite der Siedlung an der Permoserstraße entsteht dann ein großer, schöner Park. Wenn das kein Lichtblick ist.

db, So., 2016.04.03

03. April 2016 Klaus Meyer

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