Editorial

Das Wohnen befindet sich im stetigen Wandel. Nach zunehmender Individualisierung bringen steigende Mieten, Vereinsamung und immer dichtere Städte die Menschen nun wieder zurück zur Gemeinschaft, zu Nähe und Austausch mit den Nachbarn.

Genossenschaftliche Wohnexperimente spriessen wie Pilze aus dem Boden. Aber nicht jeder fühlt sich wohl in einer partizipativen Lebensform. Individualität ist nach wie vor wichtig. Wobei auch hier flexible, innovative Modelle erwartet werden.

In dieser Ausgabe zeigen wir an zwei jüngst fertiggestellten Wohnbauten, wie unterschiedlich die Lebensentwürfe sein können. Beiden Projekten gemein ist ihre Lage in einem ehemaligen Industriegebiet. Das ist aber auch schon alles.

Auf dem Areal Zwicky Süd in Dübendorf haben Schneider Studer Primas Architekten eine Genossenschaftssiedlung realisiert, die sie nach aussen gegen die umgebenden, lärmenden Verkehrsachsen abschotten müssen. Nach innen jedoch öffnen die Architekten die Gebäude zueinander und verbinden Wohnen, Arbeiten, Kultur und Dienstleistungen – so können neue Nachbarschaften und Lebensmodelle entstehen.

Als völlig gegensätzliches Beispiel haben Herzog & de Meuron in Uster im Zellweger Park eine Trutzburg errichtet. Die Bewohner verfügen nicht einmal über ein gemeinsames Treppenhaus, dafür hat jeder sein eigenes kleines Idyll mit Blick in die grüne Umgebung.

Franziska Quandt

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Mehr als Beten

10 PANORAMA
Auszeichnung für den ­Ingenieurnachwuchs | Treffpunkt Untertag

12 VITRINE
Neues fürs Bad | Produkte für die Bauhülle | Vernetzte Planung

14 BEITRITTE IM 4. QUARTAL 2015
Brücke zu den Ingenieur­berufen | Dichte spart Energie | SIA-Form Fort- und Weiterbildung

18 VERANSTALTUNGEN

THEMA
20 WOHNBAUTEN: ÖFFNUNG ODER ABGRENZUNG

20 WOHNEN AN VERZWICKTER LAGE
Andreas Kohne
Mit der Genossen­schaftssiedlung Zwicky Süd urbanisieren Schneider Studer Primas Architekten ein Stück Agglomeration zwischen Bahnviadukt und Autostrasse.

25 MY HOME IS MA CASTLE
Martin Tschanz
Inmitten von Wiesen, Weihern und alten Fabrikgebäuden im idyllischen Zellweger Park in Uster haben Herzog  & de Meuron ein ­Mehrfamilienhaus realisiert.

AUSKLANG
30 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Wohnen an verzwickter Lage

Zwischen alten Fabrikgebäuden, Autobahn und Bahnviadukt entsteht auf dem Areal der ehemaligen Spinnerei Zwicky ein neues Quartier. Auf dem Baufeld E, genannt Zwicky Süd, konnten Schneider Studer Primas Architekten ihr Projekt «The Mothers of Invention» realisieren.

Im Grenzbereich von Zürich, Wallisellen und Dübendorf liegt am Ufer der Glatt das Zwicky-Areal mit seinen alten Industriebauten, in denen seit 1840 Nähfäden und Webgarne produziert wurden. 2001 wurde die Produktion ins Ausland verlagert – zurück blieben neben prägenden Bauten 24 ha Land. Für das Baufeld E übernahm 2008 die Firma Senn aus St. Gallen zusammen mit der Immobilienberatung Wüest & Partner die Projektentwicklung.

Gleich zu Beginn konnte mit der Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1 ein kompetenter Partner und Nutzer gefunden werden, der gewillt ist, einen Pionierbeitrag zur lebendigen Quartierentwicklung zu leisten. Im Wissen um den nicht einfachen Standort wurden gemeinsam klare Vorstellungen bezüglich Wohnen, Arbeiten, Kultur und Erdgeschossnutzung entwickelt. Das Ziel war ambi­tioniert: Aus der grünen Wiese sollte ein Stück lebendige Stadt entstehen.

«The Mothers of Invention»

Vom Projektentwickler Senn und von der Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1 wurde 2009 ein Studienauftrag unter fünf Teams veranstaltet. Schneider Studer Primas Architekten konnten diesen für sich entscheiden und schlugen vor, das Areal stärker in seine Umgebung einzubetten.

Zusammenhängende Grünräume sollen dabei als Naherholungsraum für eine grössere Umgebung dienen und der Fussgänger- und Radweg unter dem Bahnviadukt neu als verbindender, gedeckter Stras­sen­raum zum identitätsstiftenden Objekt im Quartier werden.

Als Bebauung entwickelte das Planungsteam, abgeleitet von den bestehenden Industrie- und Fabrikbauten der ehemaligen Spinnerei Zwicky, drei Bautypen: schmale hohe Scheiben, fette Blocks und tiefe Hallen. Durch die Setzung dieser gegensätzlichen Haustypen etablierten sie eine Offenheit zum Viadukt und Bestand, gleichzeitig überzeugten sie mit einem dichten Konglomerat sowie ausreichend Flexibilität und Entwicklungspotenzial innerhalb des Areals.

Crux mit dem Lärm

Die optimale Verkehrserschliessung macht das Gebiet höchst attraktiv. So führt die Glattalbahn Linie 12 in wenigen Minuten zum Glattzentrum, zum Bahnhof Stettbach oder in einer Viertelstunde zum Bellevue oder Flughafen, und mit dem Auto ist man in zwei Minuten auf der A1. Handkehrum umzingeln Bahn, Autobahn und ihre Zubringer unmittelbar das Areal, und das Verkehrsrauschen ist allgegenwärtig. Bei der Über­arbeitung des Studienauftrags wurde der Lärm denn auch zur grossen Herausforderung.

Basierend auf computergesteuerten Berechnungen der Lärmemissionen mussten auf städtebaulicher Ebene Bauten neu gesetzt werden, um die zulässigen Werte einhalten zu können. Dabei rückten die grossen Blocks nach innen, und die schmalen, teilweise abgewinkelten Scheibenbauten umschliessen das Gelände enger und kamen neu auch entlang des Viadukts zu stehen. Es entstand eine stärkere Abschottung nach aussen, wobei die ursprünglichen räumlichen Bezüge zum Industrieareal weitgehend verloren gingen oder mehrheitlich nur noch auf der Ebene des Erdgeschosses stattfinden.

Robuste Grundstrukturen – verschiedenste Nutzungsmöglichkeiten

Bei den Gebäuden wurde an den drei Grundtypen festgehalten, die sich in ihrer Kombination ideal ergänzen: Die schmalen Scheiben mit langen Terrassen und Laubengängen und fein aufgereihten Studios, Kleinwohnungen und Familienmaisonetten bilden einen Kranz und schützen die Blocks vor Lärm.

Die massigen Blocks mit Klein- und Mittelbetrieben, Ateliers und verschiedensten Wohnungen stehen für Kompaktheit, Energieeffizienz und soziale Dichte. In den Hallen, die das Erdgeschoss beleben, wird produziert, gelagert, ausgestellt, verkauft und teilweise auch gewohnt.

Bereits im Stu­dienauftrag wurde von den Architekten eine kluge ­Konzeption mit einfachen Strukturen für die jewei­li­gen Bautypen vorgeschlagen und nachgewiesen. Im Verlauf der Planung konnte innerhalb dieser Vielfalt den spezifischen Anforderungen, Nutzungswünschen und Preisvorgaben der unterschiedlichen Endnutzer und Bauherrschaften nachgekommen werden, ohne dass sich dabei das Projekt komplett veränderte.

Lichtdurchflutete Scheiben

In den vier schmalen, rund 10 m tiefen Bauten sind durchgehende oder zweiseitig orientierte Wohnungen angelegt. Somit gelingt es, die Individualzimmer von der Lärmseite abzuwenden und die durchgehenden Wohn-Ess-Räume von zwei Seiten mit ausreichend Tageslicht zu versorgen. Im Süden zum Chriesbach liegen die durchgehenden Wohnungen mit einer schotten­artigen Struktur.

Die eher kleineren (2 ½- und 3 ½-Zimmer-)Wohnungen, die über einen Laubengang effizient erschlossen sind, bestehen aus unterschiedlich breiten Raumschichten, die sich jeweils von Fassade zu Fassade erstrecken, zweiseitig belichtet sind und in ihrer Tiefe ganz unterschiedlich bespielt werden können. ­Gegen die Neugutstrasse und das Bahnviadukt befinden sich die eher grösseren (3 ½- und 4 ½-Zimmer-)Woh­nungen, die direkt über innenliegende Treppenhäuser erschlossen werden.

Bei diesen zweiseitig orientierten Wohnungen liegen sämtliche Individualzimmer zum hofartigen Aussenraum. Je nach Ausrichtung ist der Wohnraum ebenfalls zum Hofraum oder zur lauteren Ostseite hin orientiert. Zusammen mit dem Essbereich und der offenen Küche entsteht ein durchgehender, abgewinkelter Wohn-Ess-Raum, der die beiden Seiten jeweils miteinander verbindet.

Die rötlich eingefärbten Stahlstrukturen der Laubengang- und Balkonkonstruktionen verleihen der Anlage einen industriellen Charakter und werden in Zukunft mit Pflanzen überwachsen sein. An zwei Stellen werden sie zu Brückenterrassen, die zum benachbarten Ge­bäude hinüberspannen und neue Wohnformen und Nachbarschaften evozieren. Eine Idee, die bereits im Studienauftrag vorgeschlagen wurde und letztlich dank der innovativen Weiterverwendung und durch Recyc­ling der ­beiden provisorischen Fussgängerbrücken der Escher-Wyss-Platz-Baustelle im Rahmen der Kosten realisiert werden konnte.

Massige Blocks mit Atrien und Höfen

Die beiden grossen Blocks im Zentrum erinnern spontan mit ihren Abmessungen von rund 30 × 40 m eher an ­effiziente Bürobauten. Die strukturelle Grundkonzeption der Architekten erlaubt, dass in diesen tiefen Häusern Schule, Klein- und Mittelbetriebe sowie Wohnungen möglich sind. Als Reaktion auf die grosse Bautiefe wurden den Bauten jeweils zwei Erschliessungshöfe und ein Lichthof einbeschrieben. Beim südwestlichen Block (Haus 3) der Pensimo wurden die drei Höfe letztendlich zu zwei grösseren zusammengelegt und miteinander verbunden.

Die preisgünstigen und knapp geschnittenen Familienwohnungen sind nach aussen orientiert und entlang der Fassade angeordnet, wobei sich der Wohn-Ess-Raum jeweils zum innenliegenden Hof erstreckt und über diesen zusätzlich belichtet wird.

Demgegenüber wurde beim anderen Block (Haus 5) der Baugenossenschaft Kraftwerk1 an den beiden Erschliessungshöfen und dem Belichtungsatrium festgehalten.

Aus dieser Konstellation lassen sich ganz unterschiedliche und überraschende Wohnungen ableiten, beispielsweise die 170 m² grosse 4 ½-Zimmer-Wohnung, die sich über die gesamte Bautiefe von 31 m erstreckt und über den eher knappen Lichthof belichtet wird, oder die 13 ½-Zimmer-Wohnung, eine Art Mischung aus ­Clusterwohnung und klassischer WG. Dazwischen liegen immer wieder sogenannte Wohnraumerweiterungen, die als Atelier oder Bibliothek nutzbar sind.

Flache Hallen

Der Hallentypus vermittelt zwischen den hohen Bauten und dem Erdgeschoss. Die ein- bis zweigeschossigen Hallen sind als grosse, zusammenhängende Bauten an die Scheiben herangeschoben und dienen als Werkstätten, Manufakturen, Ateliers oder Veloparking und die Dächer als Terrassen.

Die Hallenwohnungen sind schmale Maisonettewohnungen. Mit einem zwei­ge­schossigen Bereich, entweder an der Fassade oder in der Mitte der Wohnung, wird die grosse Bautiefe von 27 m kompensiert und Licht ins Gebäudeinnere gebracht.

Im Obergeschoss verfügt jede Einheit über einen ­privaten Patio, von wo mit einem Oberlicht wiederum Licht ins Erdgeschoss gebracht wird. So entsteht gewissermassen der Charme eines Reihenhauses in Verbindung mit der Flexibilität von urbanen Lofts.

Mit der Überbauung Zwicky-Süd ist im Schnittpunkt der Peripherien Dübendorf und Wallisellen ein neues Stück Stadt entstanden, das heute nach aussen eher verschlossen und abweisend daherkommt. Im ­Gegensatz zu anderen Wohnsiedlungen findet sich aber im dichten Innern der Bebauung eine Vielzahl von erfrischenden Ansätzen bezüglich der Vorstellung von Stadtleben und des Wohnens und Zusammenlebens.

Zum Schluss bleibt die Frage, zu welcher Stadt dieses neue Quartier längerfristig je gehören wird. Oder bleibt es eine Art Insel oder Oase in der Agglo­me­ra­tion an der Linie der Glattalbahn?

TEC21, Sa., 2016.02.27

27. Februar 2016 Andreas Kohne

My home is my castle

Im Zellweger Park Uster haben Herzog & de Meuron ein innovatives Gebäude mit Mietwohnungen erstellt. Doch nicht alle ­Neuerungen zielen in eine erstrebenswerte Richtung.

Der Zellweger Park in Uster beherbergte einst die Industriehallen der Zellweger Luwa AG. Heute wird das ehemalige Industrieareal zu einem lebendigen Wohn- und Arbeitsquartier umgebaut. Die Grundlage dafür bildet das in einem städtebaulichen Ideenwettbewerb gewählte Projekt von EM2N Architekten mit Schweingruber Zulauf Landschaftsarchitekten. Herzog & de Meuron realisierten auf dem Areal neben dem Herterweiher den Neubau eines Wohnhauses, der mit seiner Gestaltung und seinem Erschliessungskonzept ungewohnte Wege geht.

Das Gebäude, das 4 ½- und 5 ½-Zimmer-Mietwohnungen im mittleren Segment bereitstellt, ist im Park der ehemaligen Industrieweiher eine merkwürdige ­Erschei­nung. Ein im Grunde würfelförmiges Volumen aus rohem ­Beton steht verdreht zur Bebauung der ­Umgebung. Das unterstreicht seine Autonomie und ­bewirkt gleichzeitig, dass es trotz seiner Grösse den Park erstaunlich wenig tangiert. Der wichtige Bezug der Weiher zum Aabach bleibt offen, und der filigrane Wasserpavillon von Roland Rohn behält, geschützt durch eine alte Baum­gruppe, genügend Raum.

Die Betonschale des Neubaus ist stark durchfenstert – ­gerade so, dass die identisch dimensionierten Horizontalen und Vertikalen als Reste der Mantelfläche wahrgenommen werden und nicht als Skelett. An jeder Ecke des Würfels befindet sich ein rundes Anhängsel, das als Eckturm erscheint, obwohl es nicht bis zum ­Boden reicht, sondern nur bis zu den Spitzen der ­Wiese. ­

Unweigerlich wird man an eine ­Festung erinnert, zumal der Eingang an verborgener Stelle liegt, dem ­benachbarten Gewerbebau zugewandt. So ergibt sich ein eher abweisender Ausdruck trotz den riesigen ­Fenstern. Diese erinnern an einen Industriebau und ­damit an die ursprüngliche Nutzung des Areals. Die ­Lattenzäune in den Ecktürmen wirken provisorisch, als hätten sie sich aus einem Schrebergarten hierher verirrt. Gleichzeitig sind sie offensichtlich ein inte­graler ­Bestandteil der Architektur, da sie exakt auf der Höhe der Fensterkämpfer enden, als gesetzeskonforme ­Absturzsicherung.

Die Küche im Zentrum

Das Wesentliche, das wird offensichtlich, geschieht hier innerhalb der Betonschale. Der Vierspänner besitzt kein zentrales Treppenhaus, dafür vier Flucht­treppen in den aussenliegenden «Ecktürmen». Die ähnlich geschnittenen Wohnungen werden unmittelbar von den beiden zentralen Aufzügen aus erschlossen. An die ­Stelle einer gemeinschaftlichen Treppenhalle tritt als Ankunftsort je ein privates Entree innerhalb der jeweiligen Wohnung. Aus diesem dunklen Bereich im Kern des Hauses gelangt man schrittweise ins ­Helle, eine Bewegung, die auf den Balkonen ihren Abschluss und Höhepunkt findet. Hier tritt man aus dem Würfel in den Park hinaus und gewinnt so einen völlig anderen Bezug zur Umgebung als im Innern.

Ihren Rückhalt finden die Wohnungen in ihrer Küche. Diese bildet das Zentrum, um das herum sich die Räume der Fassade entlang aufreihen. Herzog & de Meuron realisieren hier eine Art Dielentypus und legen dabei die Küche in die Diele. Das ist ungewohnt und mutet doch geradezu archaisch an: Man erinnert sich an Bauernhausküchen, vielleicht sogar an Gottfried Sempers Theorie vom Herd als dem Wesenskern des Hauses. Von einer offenen Küche mag man dabei, zumal in den grösseren Wohnungen, nicht sprechen.

Das ­Kochen wird hier, anders als so oft in jüngster ­Vergangenheit, nicht ausgestellt. Es findet vielmehr einen wohldefinierten räumlichen Rahmen – und ist doch der Angelpunkt der Wohnung.

Die Wohnungen orientiert sich jeweils übereck, wobei die Exposition weitgehend ignoriert wird. Als Folge haben sie, trotz ähnlichem Grundriss, eine höchst unterschiedliche Qualität. Die nördliche dürfte, zumal in den unteren Geschossen, kaum je Sonne erhaschen. Im Osten steht zudem der benach­barte Gewerbebau so nah, dass man sich, mit einer intimen Beziehung von grossem Fenster zu grossem Fenster, eher in einem ­allzu engen Hinterhof wähnt als in einem Park. Der schöne Aussenraum im «Eckturm» vermag dies nicht zu ­kompensieren.

Expressive Fluchttreppen

Die Konsequenz und die enorme Qualität des archi­tektonischen Handwerks, die sich im Bau zeigen, sind bewundernswert. Durchgehende Parkettböden und Betondecken sowie raumhohe Türen binden die Räume trotz Kammerung zu einer Einheit zusammen.

Rollläden betonen, schräg in die Laibungen gelegt, die Tiefe der massiven Betonschale. Die Gestaltung der Details ist von der kunstvollen Führung der Leitungen in der Tiefgarage bis hin zu den Korkstopfen in den Elektroaussparungen der Wohnungsdecken ebenso einfach in ihren Mitteln wie sorgfältig und wirkungsvoll.

Die Aussenräume sind so an den Baukörper angeschlossen, dass sie einen engen Bezug zur zugehörigen Wohnung haben, während die Sicht von und zu den Nachbarn im Haus gut abgeschirmt bleibt. Man tritt hinaus in eine Art privates Gärtchen, aus dem man in die eigene Wohnung zurückblicken kann.

Dieser Effekt wird verstärkt durch die hohen Lattenzäune vor den niedrigen Betonbrüstungen. Diese Intervention des Künstlers Erik Steinbrecher wäre einen eigenen Text wert. Hier sei nur auf die Orientierung der Zäune aufmerksam gemacht.

Während dem Kleingartenbesitzer der Anstand gebietet, die schöne Seite nach aussen zu kehren, richtet sich diese hier nach innen. Als Folge gewinnt man den Eindruck, der Park müsse vor den Hausbewohnern geschützt werden.

Den eigentlichen Höhepunkt erreicht das Gebäude in den Wendeltreppen. Massiv in Beton gegossen, von Kernbohrungen durchdrungen, mit dünnen Blechen und silbern glänzenden Elektroinstallationen ergänzt, gewinnen diese begehbaren Plastiken eine expressive Kraft – nicht trotz, sondern gerade dank der groben Machart.1 Dabei spielen die Plastizität der Treppe im Innern und der starre Raster der äusseren Schale wirkungsvoll zusammen.

Es drängt sich jedoch die Frage nach der Angemessenheit auf. Ist es sinnvoll, den räumlichen Höhepunkt und den grossen baulichen und ökonomischen Aufwand in die Fluchttreppen zu legen, die im Sinn des Brandschutzes «überbreit und repräsentativ» ausgeführt sind2, obwohl sie gänzlich aus dem Funktionszusammenhang des Hauses ausgegliedert bleiben?

Splendid Isolation

Damit kommen wir zum Wesenskern des Gebäudes zurück. Von der Stellung und Ausgestaltung des Baukörpers über die Art der Erschliessung und die zentripetale Organisation der Wohnungen bis hin zur Anlage der Aussenräume erweist es sich als konsequent durchdachte Maschine der Dissoziation.

Insbesondere die Erschliessung ist als effektives Instrument der Vereinzelung ausgestaltet. Der Aufzug als Nicht-Ort, der das Individuum auf sich selbst zurückwirft und ähnlich einer Dunkelblende die Kontinuität unterbricht, ist ein bekannter Topos.

Besonders in Filmen wird er immer wieder aufgegriffen, und die fast ebenso verbreiteten Wunsch- oder Angstfantasien zu Übergriffen in der blockierten Kabine, durch die sich die Lücke in Raum und Zeit unerwartet ausdehnt, sind nur die Kehrseite dieser Medaille.

Gewiss: In diesem Gebäude gibt es ergänzend zum Aufzug eine Eingangshalle, die mit Kunst aus der Sammlung Bechtler und einer Sitzbank ausgestattet ist. Aber liegt der eigentliche Zugang nicht eher im Untergrund, in der hochwertig gestalteten Tiefgarage? Oder da, wo das Auto wie durch Zauberhand vom Erdboden verschwindet, nachdem sich in der Stirnseite eines vermeintlichen Schuppens für kurze Zeit eine Tapetentüre geöffnet hatte, weit weg vom Gebäude? Diese Camouflage ist eines James Bond (oder eines Ernst Stavro Blofeld) würdig.

Das Gebäude steht isoliert in seiner Umgebung, als Objekt, vergleichbar dem Würfel von Sol LeWitt auf der anderen Seite der Teiche. So fügt es sich gut in die Sammlung von Kunstwerken ein, mit denen der Zell­weger Park bestückt ist. Als Architektur jedoch passt es weniger gut in seinen Kontext. Als Wohnungsbau mit familiengerechten Mietwohnungen ist es auch ­Gestaltung des Alltags und setzt ein starkes Statement für die Individualisierung und gegen die Kultur der Nachbarschaft und des Zusammenlebens. Da aber Urbanität Bezugnahme und Zusammenleben bedeutet, ist es letztlich auch ein Statement gegen die Stadt – da mag das Volumen noch so gut in seine Umgebung eingefügt sein.

Dies passt schlecht zur sozial verantwortlichen Haltung, die die Bauherrschaft immer wieder zum Ausdruck bringt, und es passt schlecht zum Zellweger Park, der sich gerade durch seine Öffnung und einen viel­fältigen Zusammenschluss mit der Stadt auszeichnet.3 Die anderen Bauten, die bisher auf der Basis des städte­baulichen Plans von EM2N gebaut worden sind, haben diese Idee aufgegriffen. Mit halböffentlichen Räumen gestalten sie die Übergänge zwischen Gebäude und Park.

Die Zeile von Morger Dettli tut dies mit einem offenen Erdgeschoss, die Anlage von Gigon/Guyer mit einem Hof.4 Das Gebäude von Herzog & de Meuron dagegen genügt sich selbst in «Splendid Isolation», als wollte es nichts mit seiner Umgebung zu tun haben – es sei denn, um von ihr zu profitieren.

TEC21, Sa., 2016.02.27

27. Februar 2016 Martin Tschanz

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