Editorial

Pro Flüchtling 4.5 m² Wohn- und Schlaffläche? Bis vor Kurzem galt das in Deutschland als Minimum. Hierzulande gibt es für Mindest­flächen von Asylunterkünften keine Richtlinien – in der Baupraxis sind die Räume aber ähnlich klein. Verglichen damit ist eine Ge­fängniszelle mit 12 m² Minimalfläche geräumig.

Aber wie gestaltet man Räume für Asylbewerber, deren kulturelle Hintergründe grund­legend unterschiedlich sein können? Die Bauaufgabe wurde lange Zeit vernachlässigt, und Fragen nach dem Wie und Wo blieben unbeantwortet. Immer wieder ist zu hören, Container seien ein Platz für Güter und nicht für Menschen. Doch das Gestaltungs­spek­trum von einem Blechcontainer zu einem Holzmodul lässt kreativen Spielraum. Hier ist die Sensibilität der ­Planenden gefragt – Orte oder Bauweisen, die für einen Gesellschaftskreis passend sind, wirken für einen anderen womöglich stigmatisierend.

Die Raumgrösse macht aber nur einen Teil der Lebensqualität aus – auch Privatsphäre, ein an­gemessenes Wohnklima, ein Ort zum Lernen und die Möglichkeit, mit der Nachbarschaft in Kontakt zu treten, gehören dazu. Bauten in der Peripherie erschweren die Integration.

Es ist ein politisches Problem, wenn von heute auf morgen «Notlösungen» gefunden werden müssen. Hat man zu lang gehofft, alles würde sich von allein erledigen? 57 Millionen Menschen sind ­weltweit auf der Flucht. Man spricht von einer geo­politischen Neuorientierung – vergleichbar mit dem Mauerfall. Sicher ist nur eins: Das Thema Asyl­unterkünfte wird uns noch lang beschäftigen.

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Unter einem Dach

10 PANORAMA
Neues Buch: Hans Bellmann | Architekturschiff 2016 – das mediterrane Erbe

13 VITRINE
Weiterbildung

14 AN DER SEITE DER NUTZER
Bachelor in Gebäudetechnik | Die Energiezukunft der Schweiz besser planen | SIA-Form Fort- und Weiterbildung

19 VERANSTALTUNGEN

THEMA

20 ASYLUNTERKÜNFTE: INTEGRATION IM STÄDTEBAU

20 VON RABOUNI NACH ZÜRICH-WEST
Manuel Herz
Das selbstbestimmte Modell saharauischer Flüchlingslager könnte in Europa zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen.

23 «THEORETISCH IST ES EINFACH»
Danielle Fischer
Der Neften­bacher Gemeinderat Urs Wuffli plädiert für permanente Flüchtlingsunterkünfte.

26 ASYLARCHITEKTUR IM UMBRUCH
Danielle Fischer
Das Baubüro NRS in situ entwickelt Flüchtlingsunterkünfte als tempo­räre Bauten.

AUSKLANG
29 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Von Rabouni nach Zürich-West

Der Architekt Manuel Herz hat saharauische Flüchtlingslager in Algerien besucht. Könnte das selbstbestimmte Modell, nach dem die Lager organisiert sind, zur städtebaulichen und gesellschaftlichen Entwicklung in Europa beitragen?

Temporär und permanent

Seit 40 Jahren leben 160 000 saharauische Flüchtlinge in einer der unwirtlichsten Gegenden der Welt, im Südwesten Algeriens, nahe der Grenze zu ihrer ursprünglichen Heimat, der Westsahara. Durch die marokkanische Einwanderung und Besetzung 1976 aus ihrem Heimatland vertrieben, bestätigen sie auf den ersten Blick die Vorstellungen, die die meisten von Flüchtlingen haben: Jahre des frustrierenden Wartens in einem Niemandsland verbringend, passiv von den Hilfsleistungen humanitärer Organisationen abhängig, können sie sich weder in ihrem Gastland niederlassen und ein neues Leben aufbauen noch – aufgrund der Besetzung – in ihre Heimat zurückkehren.

Diese Lesart erfasst jedoch nur eine Seite der Realität. Sieht man sich die sechs saharauischen Flüchtlingslager in der Nähe der algerischen Stadt Tindouf näher an, so entdeckt man Überraschendes: In der ­Lagerhauptstadt Rabouni entstand ein vollständiges Regierungsviertel. Das Parlamentsgebäude, die Ministerien für Bau-, Gesundheitswesen, Kultur oder sogar Verteidigung sind eingeschossig und zum Teil aus Lehmziegeln im Wüstensand errichtet.

Gemeinsam mit dem Nationalarchiv, einem Nationalmuseum und dem zentralen Krankenhaus sowie anderen Institutionen bilden sie den Regierungssitz, in dem sich die Flüchtlinge selbst regieren. Durch Wahlen in den Lagern werden Volksvertreter in die Regierung gesandt. Algerien ermöglicht diese Selbstbestimmung, indem sie ihnen auf dem Lagerterritorium eine weitgehende Autonomie einräumt. Die Saharauis haben ihr eigenes Schulsystem entwickelt, das eine allgemeine Schulbildung für alle Kinder und Jugendlichen garantiert und zu einer der niedrigsten Analphabetenraten des Maghreb geführt hat.

Für ihr eigenverantwortlich aufgebautes Gesundheitssystem wurden Krankenpfleger und Ärzte in Spanien und Kuba ausgebildet. Das ermöglicht eine Lebenserwartung, die hinter den angrenzenden Staaten nicht zurücksteht. Auch wenn die Lager mit ihren Lehmbauten und Zelten sich auf den ersten Blick nur wenig von anderen unterscheiden, sind sie einzigartig in der Form, wie Flüchtlinge – im Exil innerhalb einer Ausnahmesituation – ein relativ eigenbestimmtes Leben führen.

Auf wirtschaftlicher Ebene und hinsichtlich Ernährung stösst diese Autonomie jedoch an Grenzen. In der ­u­nwirtlichen Wüste wächst kaum etwas, sodass die Flüchtlinge auf Lebensmittellieferungen und Spenden angewiesen sind. Dennoch sind die Lager vom Grundgedanken geleitet, vom allerersten Tag eine Qualität der Normalität, Beständigkeit und Emanzipation zu ent­wickeln. Dies immer mit dem Gedanken, alles wieder verlassen zu können, falls sich die Möglichkeit einer Rückkehr bieten sollte. Die Zeit in den Lagern wird auch als Zeit des Lernens betrachtet, in der sich die Flüchtlinge auf die Rückkehr in die Heimat vorbereiten.

Beides: temporär und permanent

Die saharauischen Flüchtlingsfamilien wohnen in Gebäudekomplexen, die sich aus Lehmhütten zusammensetzen, an deren zentralem Platz sich aber meist ein Zelt befindet. Jenseits der klimatischen Vorteile, die das Zelt bietet, und dem Verweis auf die ursprünglich nomadische Tradition der Saharauis signalisiert das Zelt Übergang. Die Flüchtlinge zeigen architektonisch, dass sie sich nicht mit der gegenwärtigen Situation abgefunden haben, sondern eine Rückkehr in ihre Heimat fordern.

Ihre Lehmhütten geben jedoch Anzeichen der Permanenz: Innendekoration aus Stuck oder architektonische Details wie Säulen oder andere Verzierungen zeugen vom Wunsch, sich ein angenehmes Umfeld zu schaffen. Somit zeigen sich an unterschiedlichen Elementen der Gebäuden in den Flüchtlingslagern gleichzeitig bauliche Aspekte des Übergangs und des Dauerhaften. Die Situation verdeutlicht, dass Temporalität und Permanenz keine binären Gegensätze sind – sie verkörpern unter­schied­liche architektonische Methoden, ein politisches Dilemma zu repräsentieren, und schliessen sich nicht gegenseitig aus.

Leitbild: emanzipierte Akteure

Die politischen und demografischen Parameter der Westsahara könnten im Vergleich zur Situation in der Schweiz unterschiedlicher nicht sein. Die homogene Bevölkerungsgruppe der Saharauis in den Lagern wird durch ein politisches Projekt geeint. Auch die klimatischen und dadurch baulichen Gegebenheiten unterscheiden sich grundsätzlich von denen in Europa.

Dennoch zeigen die Lager, dass unser Bild des Flüchtlings als passiver Hilfsempfänger falsch ist. Ohnehin haben diese Menschen allein schon durch die Tatsache, dass sie geflüchtet sind, gezeigt, dass sie Initiative ergreifen. Als Leitbild sollte eher der Flüchtling als emanzipierter Akteur stehen, der Verantwortung für sein eigenes Schicksal übernehmen möchte und kann.

Unsere städtebauliche und architektonische Antwort auf die ankommenden Flüchtlinge sollte – ähnlich wie in der Westsahara – nicht auf Übergang und ­Ausnahme ausgerichtet sein. Wir könnten im Gegenteil die entstehende Situation nutzen, um generell bestehende ­Probleme und Schwächen der Wohnungssituation in Schweizer Städten anzugehen, an deren Spitze der ­Mangel an günstigem und flexiblem Wohnraum steht: Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt.

Einpersonenhaushalte stellen in den meisten Städten die grösste Gruppe dar, Patch­workfami­lien sind heute keine Ausnahmen, während kinderlose Familien fast schon zur Regel geworden sind. Mit dem Altern der Gesellschaft entsteht Bedarf für neue Wohnformen wie WGs für Senioren, und die gestiegene Mobilität führt zu einem schnelleren Woh­nungs­wechsel. In der Architektur zeichnen sich diese gesellschaftlichen Entwicklungen bislang aber nur wenig ab. Die Zuwanderung legt einen ohnehin bestehenden Mangel an flexiblen Wohnformen offen, auf den jetzt reagiert werden muss.

Studierende wie Geflüch­­tete zeichnen sich beispielsweise durch vergleichbare Ansprüche an sozialem Austausch und eine relativ hohe Fluktuation aus. Mit einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt könnten Studierende die Flüchtlinge bei Behördengängen und in der praktischen Integration unterstützen. Das Zusammenbringen von Flüchtlingen und Senioren könnte auch eine mögliche Reaktion auf unsere alternde Gesellschaft sein. Beispielhafte Wohnprojekte existieren in München und in anderen deutschen Städten.

Trendquartier oder Stadtrand

Asylbewerber werden häufig am Stadtrand oder in Dis­tanz zu bestehenden Siedlungen untergebracht. Das Empfangszentrum in Basel, nur wenige Meter entfernt von der Grenze zu Deutschland und direkt neben dem Gefängnis Bässlergut, zeigt paradigmatisch die Stigmatisierung von Asylbewerbern durch Städtebau. Diese Lage repräsentiert die bewusste Strategie, das Gegenteil von Integration zu erzielen. Könnte man nicht genau umgekehrt vorgehen und allgemeinen, günstigen und flexiblen Wohnraum dort schaffen, wo in den nächsten Jahren mit einer positiven Entwicklung zu rechnen ist?

Quartiere wie das Dreispitz-Areal in Basel oder ­Zürich-West haben sich in den letzten Jahren von Industriearealen zu Trendvierteln entwickelt. Wären dort als Erstes integrative Wohnprojekte geschaffen worden, die Flüchtlinge, junge Familien, Senioren und Studenten zusammenbringen, so wären geflüchtete Menschen nicht «Aussätzige» wie am Bässlergut, sondern die ­städtebaulichen Pioniere, die zu den ersten Bewohnern eines aufstrebenden Quartiers gehören.

Dies verdeutlicht, dass wir Wohnen für Asylbewerber und Flüchtlinge nicht als temporäre Aufgabenstellung angehen dürfen, sondern damit langfristig planen sollten. Containersiedlungen, wie insbesondere in Deutschland eingesetzt, gaukeln der Bevölkerung nur vor, dass es sich um eine Übergangslösung handelt. Für relativ viel Geld wird ein unbefriedigender Wohnraum geschaffen, der – mit der Argumentation des Übergangs – Städtebau bewusst ausklammert.

Inakzeptable Situationen aufzeigen

Schweizer und europäische Architekten haben das ­Thema Flüchtlinge in den letzten Jahren kaum beachtet. Dies rächt sich jetzt, da unsere Gesellschaft Lösungen finden muss für Fragen, die eine starke räumliche Dimension haben, auf die aber unser Berufszweig keine Ideen parat hat. So überlassen wir dieses Thema etwas hilflos einem kommunalen Verwaltungsapparat, ohne architektonisch oder städtebaulich darauf Einfluss nehmen zu können.

Genauso wichtig wie gute Ideen für Wohnraum für Asylbewerber und Flüchtlinge ist es für uns als Architekten aber auch aufzuzeigen, wie man Menschen nicht unterbringen darf. Gerade weil Architekten mit einer wissenschaftlichen Autorität sprechen können, liegt es in ihrer Verantwortung, Mindeststandards einzufordern und darauf hinzuweisen, dass beispielsweise die ­wochenlange Unterbringung von Asylbewerbern in ­Zivilschutzanlagen oder in direkter Nähe zu Gefängnissen inakzeptabel ist.

TEC21, Sa., 2016.02.13

13. Februar 2016 Manuel Herz

«Theoretisch ist es einfach»

Der Neftenbacher Gemeinderat Urs Wuffli kritisiert die bestehenden Asylunterkünfte. Um in Zukunft genügend und vor allem menschenwürdige Unterkünfte zu gewährleisten, müssten Bauvorschriften gelockert und neue bauliche Lösungen gefunden werden.

TEC21: Herr Wuffli, Sie haben Asylunterkünfte in verschiedenen Gemeinden besucht und dokumentiert. Wie war Ihr Eindruck?
Urs Wuffli: Die Gemeinden sind beim Bau der Unterkünfte von einer temporären Nutzung ausgegangen. Unterdessen haben sich viele Familien vergrössert, in einem Studio für eine Person leben zwei oder mehr Leute. Zum Teil sind die Wohnungen so eng, dass eine schulische Integration bei Kindern fast nicht möglich ist – sie haben zum Beispiel keinen Platz zum Lernen. Eine Familie bewohnt seit sechs Jahren eine Wohnung mit einem Korridor von 50 cm Breite – das ist mühsam im täglichen Gebrauch. Oder eine dreiköpfige Familie hat in ihrer Küche seit sechs Jahren nur eine Kochplatte. In Neftenbach gibt es im Moment noch bessere Lösungen. Aber alle Liegenschaften, die der Gemeinderat freigegeben hat, sind belegt, und Private können wir nicht zwingen, etwas zu vermieten.

TEC21: Wie viele neue Asylunterkünfte braucht es?
Urs Wuffli: Auf Januar 2016 hat der Bund die Aufnahmequote von 0.5 auf 0.7 % pro Tausend Einwohner erhöht. Auf den Kanton Zürich mit 1.45 Mio. Einwohnern fallen so 2900 Plätze. Für Neftenbach sind dies elf neue Leute. Hinzu kommen jene 13, die einen positiven Asylentscheid erhalten haben. Zudem wird oft vergessen, dass Gemeinden sich auch um die Unterkünfte von Leuten im Tief­lohn­segment, Rentnern mit wenig Geld und den Working Poor kümmern muss.

TEC21: Was sieht das Unterbringungskonzept vor?
Urs Wuffli: Wenn die Flüchtlinge von den Kantonen auf die Gemeinden verteilt werden, dann haben sie den Status N (Asylsuchende). Und nachher gibt es einen Asylentscheid, der lautet «vorläufig aufgenommen», oder «anerkannter Flüchtling». Das Konzept sieht vor, dass sie nach der ersten Unterkunft in eine Wohnung ziehen. Theoretisch ist das einfach, aber in der Realität funktioniert es nicht mehr. Wir haben in einem Haus Leute mit Status N, F oder B (vgl. Kasten unten), und wir haben innerhalb bestimmter Mietzins­limiten, bei einem Leerwohnungsbestand von praktisch null, keinen bezahlbaren Wohnraum mehr. Wenn doch einmal eine Wohnung frei wird, dann sind die Widerstände der Besitzer oft gross, diese an Asylsuchende oder Flüchtlinge zu vermieten.

TEC21: Müsste man anstelle temporärer in Zukunft permanente Unterkünfte bauen?
Urs Wuffli: Das wäre ein zukunftsweisender Weg. Das Temporäre funktioniert nicht mehr. Bisher war man der Ansicht, dass Asylanten kurzfristig auch in einfachen Verhältnissen leben können. Aber wir haben Leute, die sind als Flüchtlinge aufgenommen worden, und sie leben seit 15 Jahren in ähnlichen Unterkünften. Man sollte so bauen, dass die Menschen zumutbaren Wohnraum haben, auch wenn sie dort bleiben und Kinder bekommen.

TEC21: Wie müsste ein solcher Neubau konkret aussehen?
Urs Wuffli: Wir studieren in Neftenbach ein Projekt, bei dem die Wohnungen flexibel dem Bedarf angepasst werden können. Es gibt Schaltzimmer, um den Bedürfnissen grösserer und kleinerer Familien gerecht zu werden. Das 3.5-m-Raster der Holzrahmenkonstruktion ist breiter als die Container, die oft zu schmal und zu lang sind. Mit dem Mass lässt sich besser planen. Ein ähnlich gebautes Beispiel in Dietlikon zeigt, dass die Häuser von den Leuten besser akzeptiert werden und man weniger benutzerverursachte Schäden hat.

Wichtig ist aber auch der Kostenrahmen. Wenn man permanent baut, dann muss man die Umweltauflagen erfüllen. Das ist nicht der Fall bei Provisorien für bis zu fünf Jahren. Darum sind Billigcontainer verlockend. Doch letztendlich kommen sie teurer – da sie eine Lebensdauer von nur fünf bis zehn Jahren haben. Es ist aber einfacher, dem Stimmbürger an der Gemeindeversammlung etwas «pro rata» für fünf Jahre zu verkaufen, als ihn von einem Bau zu überzeugen, der 20 Jahre stehen bleibt.
Und nach Ablauf der fünf Jahre stellt man fest, dass das Problem mit der Unterbringung immer noch besteht – und man verlängert nochmals um fünf Jahre. Nach zehn Jahren müssen die Bauten dann dringend saniert werden. Falls die Flüchtlingsströme eines Tages abnehmen, könnte man permanente Unterkünfte an Familien in wirtschaftlich kritischen Verhältnissen und mit vielen Kindern vermieten. Es ist auch enorm schwierig, für sie Wohnraum zu finden.

TEC21: Das von Ihnen geschilderte Projekt würde die Gemeinde Neftenbach selber bauen?
Urs Wuffli: Das ist noch nicht entschieden. Wir überprüfen aber, ob ein Investor für uns bauen kann. Obschon solche Bauten nicht viel Rendite abwerfen, kann man damit auch Einnahmen generieren. Natürlich muss man zuerst investieren, aber in den nächsten zehn Jahren werden die Kosten den Gemeinden vom Kanton zurückerstattet. Das kann interessant sein für private Investoren und die Gemeinden entlasten.

TEC21: Planen Sie einen Holzbau, um von der Container­architektur weg zu kommen?
Urs Wuffli: Wir werden das Projekt so materialneutral wie möglich angehen und Varianten durchspielen. Ich bin dafür, dass man permanente Gebäude erstellt. Trotzdem lässt sich der Stimmbürger einfacher überzeugen, wenn man Holzmodule wieder abbauen und versetzen kann.

TEC21: Wie sehen die zeitlichen Rahmenbedingungen für so einen Bau aus?
Urs Wuffli: In der Schweiz haben wir – anders als in Deutschland – mit Gemeindeversammlung, Bau­ausschreibung, Baurekurs lange Prozesse. Wir haben zu wenig Zeit. Gerade haben wir eine ehemaligen Früchtehalle umgenutzt. Baubeginn war der 18. Dezember, und bezogen wurden die Räume am 12. Januar. Wir haben Zimmer und Duschen eingebaut, Laminat verlegt, die Heizung und Elektroanlagen umgebaut und komplett neu möbliert.

TEC21: In Zürich sind an der Röslistrasse 120 Männer unterirdisch in einer Zivilschutzanlage untergebracht.
Urs Wuffli: In diesem Fall muss man überirdische Tagesstrukturen anbieten. Wenn Leute an Leib und Leben bedroht sind, dann müssen wir ihnen ein Dach über dem Kopf geben, das ist klar. Wir können ihnen aber, schon von der Kapazität her, nicht versprechen, dass sie eine perfekte Wohnung erhalten.

TEC21: Was müsste sich an den Entscheidungsprozessen ändern, damit es schneller geht?
Urs Wuffli: Es braucht verschiedene Lockerungen. So zum Beispiel Sonderbauvorschriften ausserhalb der Bauzone – weil man dort für höchstens fünf Jahre einen nicht zonenkonformen Bau erstellen darf. Wenn der Kanton die Kontingente allenfalls noch erhöht und wir nicht ausserhalb der Bauzonen oder erleichtert in einer Gewerbezone bauen dürfen, wird es schwierig. Für die Umnutzung gilt dasselbe. Wenn man einen Industriepark umnutzen will, dann muss das zuerst publiziert werden, und meist werden Rekursmittel ergriffen. Ausnahmebewilligungen sind möglich, aber auch gegen die kann man Rekurs einreichen.

TEC21: Ist mehr Flexibilität gefragt?
Urs Wuffli: Wir sind ein Land, das mit seinen geordneten Abläufen gefordert, wenn nicht gar überfordert ist. Flexibiliät ist nicht unbedingt das, was uns auszeichnet, da können wir von anderen Ländern lernen. Dazu kommt, dass die meisten Leute gar keinen Kontakt zu Flüchtlingen haben, das schürt Vorurteile. Dennoch sind die meisten Flüchtlinge froh, wenn man sie in Ruhe lässt.

TEC21: Das heisst, die vielbeschworene Nutzerdurchmischung ist keine gute Idee?
Urs Wuffli: Nutzerdurchmischung ist denkbar. Aber wenn man in einen 08/15-Block Asylfamilien platziert, ist das problematisch. Ihre Gastfreundschaft ist eine andere als die unsere. Sie besuchen sich gegenseitig oft, und ihr Tagesrhythmus entspricht nicht dem des Schweizers, der morgens um sechs Uhr aufsteht. Sie sitzen abends lang zusammen. Und Leute aus anderen Kulturen sind oft lauter als Schweizer. Das birgt Konfliktpotenzial … Ob man eine Kinderkrippe da reintun will, das ist eine politische Frage. Ich glaube, das geht nicht. Da sagen manche Leute, ich schicke mein Kind nicht zu so ausländischen Männern.

TEC21, Sa., 2016.02.13

13. Februar 2016 Danielle Fischer

Asylarchitektur im Umbruch

Unterkünfte für Flüchtlinge sind ein brisantes Thema. Viele Gemeinden brauchen in diesen Wochen schnell temporäre Lösungen. Bei all der Eile ist es aber wichtig, bauliche Langzeitstrategien zu finden. Das Baubüro NRS in situ befasst sich seit 2010 mit der Aufgabe.

Umgerüstete Zivilschutzanlagen im Untergrund, Hüttendörfer in Hallen, Militärzelte auf Kasernenplätzen oder leer stehende Kommunalbauten an gesichtslosen Einfahrtsstrassen sind Orte, an denen Asylsuchende in der Schweiz untergebracht werden. Diese Unterkünfte sollen nur einen zeitlichen Aufschub bieten, bis passendere Lösungen gefunden sind. In Wirklichkeit jedoch bleiben viele Asylsuchende länger als geplant darin.

Unterbringungsmöglichkeiten bieten auch in aller Eile erstellte Containersiedlungen. Meist sind die Einheiten pragmatisch aufeinander gestapelt, zu Zeilen zusammengefasst und befinden sich ausserhalb vom Dorf- oder Stadtzentrum. Nicht zuletzt weil Containerbauten wenig Gestaltungsspielraum lassen, sind sie architektonisch und städtebaulich nicht besonders prestigeträchtig. Es verwundert also nicht, dass die Aufgabe bis anhin unter Architekten keinen grossen Stellenwert hatte und entsprechend wenig gestalterische Denkarbeit dafür aufgewendet wurde.

Doch es gibt Ausnahmen. Pascal Angehrn, Sebastian Güttinger und Marc Angst mit ihrem Team vom Baubüro NRS in situ befassen sich seit 2010 mit Asyl­unterkünften: «Wir sind Idealisten aus den Bereichen Industriedesign, Stadt- und Landschaftsplanung sowie Architektur, die mit engen Vorgaben hinsichtlich Kosten, Qualität und Terminen das Bestmögliche für Menschen in Not erreichen möchten», sagt Pascal Angehrn.

Drei Nutzergruppen, eine Brache

Die Büroräume von NRS in situ liegen im Basislager an der Aargauerstrasse in Zürich Altstetten; unmittelbar daneben steht auf dem gleichen Grundstück eine Asylunterkunft. Beide Bereiche sind dreistöckige Containersiedlungen – die eine für rund 200 Leute aus dem Kunst-, Kultur- oder Gewerbebereich, die andere für 120 Asylsuchende. Auf der gegenüberliegenden Seite platzierte die Stadt 2013 ausserdem die umstrittenen Strichboxen. Alle drei Anlagen hat NRS in situ geplant und ausgeführt.

Nachdem die Verträge im Zürcher Binz-Quartier ausgelaufen waren, wurden die Ateliercontainer 2012 nach Altstetten transportiert. Die Stadt Zürich ver­pachtet Swiss Life, der Eigentümerin des Basislagers, das Areal an der Aargauerstrasse bis ins Jahr 2027 – danach soll hier ein Tramdepot entstehen. Das Grundstück diente früher als Abfalldeponie. Später befanden sich eine Autolackiererei und Schrebergärten auf der ins Altlastenverzeichnis eingetragenen Brache.

Die periphere Lage zwischen Autobahnzufahrt und Gleisfeldern scheint typisch für eine Asylunter­kunft – und doch unterscheidet sie sich von anderen. Leute aus den Ateliers gehen an den Asylcontainern vorbei und durch die Gartenwirtschaft «zum Transit», die sich unmittelbar gegenüber befindet. So kommen Asylsuchende und Gäste miteinander in Kontakt. Die Bauten sind einzeln oder gruppenweise angeordnet, und aus dem gestampften Kiesboden wachsen Grasbüschel. Vor den Eingangstüren einiger Stahl­container stehen schwere Gefässe, Prototypen für Kunstwerke oder verblasste Möbel.

Betriebsstudien vor Ort

Von ihrem Arbeitsplatz in der ersten Etage können Pascal Angehrn und sein Team mitverfolgen, wie sich das Areal entwickelt und wie es genutzt wird. Sie erfahren, wo es Pro­bleme gibt und was verbessert werden kann. Der direkte Kontakt mit der Asylorganisation Zürich (AOZ), die die Flüchtlingsunterkünfte leitet, ­erlaubt es, das Baukonzept für die Zukunft weiterzuentwickeln. Materialisierung, Raum- und Fenstergrössen, Rückzugsorte und Stehtoiletten können verbessert werden. So wurden aufgrund von Gesprächen mit der AOZ die Module von fünf Schlafzimmern, wie sie an der Aargauer­strasse vorkommen, bei später gebauten Unterkünften zugunsten eines Schaltzimmers auf drei modifiziert. Auch die Gemeinschaftsräume wurden zu­guns­ten des Schaltzimmers verkleinert.

Eine grössere Anzahl von Menschen verschiedener Nationalitäten und Kulturen in einer Wohneinheit zu platzieren erwies sich als problematisch. Künftig sollen die Projekte kleinteiliger werden, ähnlich wie Wohngemeinschaften für Studierende. Der aus zwei Flügeln bestehende Haupttrakt an der Aargauerstrasse ist aus 70 Raummodulen zusammengesetzt, die in zwölf Wohneinheiten gegliedert sind. Jede Einheit enthält vier bis fünf Schlafzimmer sowie eine Küchen- und Sanitäranlage. Bei einer Zweierbelegung wohnen acht bis zehn Personen darin. Ein zusätzlicher Pavillon bietet 26 Personen Wohnraum. Da die Bauten aus Kostengründen ohne Aushub auf einem Betonplattenfundament stehen, mussten die alten Bäume nicht gefällt werden. Den Bestand zu erhalten ist oft besser und kostengünstiger als etwas neu anzulegen.

Auch die Verbindung mit der Umgebung ist wichtig für die Integration. Die meisten Leute, die in einem Quartier leben, kommen gar nie persönlich mit Flüchtlingen in Kontakt. Dadurch wachsen Vorurteile. Dabei sind die Synergien, die zwischen den Nutzergruppen entstehen, meist positiv – wenn sie auch zurückhaltend erscheinen. Die Durchmischung der Flüchtlinge und der Kreativen weist durchaus Schnittstellen auf. An den Tischen in der «Wirtschaft zum Transit» machen Kinder, wenn es dort keine Gäste hat, ihre Hausaufgaben, oder es finden Malkurse statt. Und auch wenn unter den Gästen kaum Asylsuchende sind, so haben einige hier später eine Anstellung gefunden.

Raumprogramme hinterfragen

Der Bau einer Asylanlage erfordert von den Planern geschickte Verhandlungen mit Auftrag­gebern, Gemeinden, Kantonen, Investoren und Politikern. Problematisch wird es, wenn sich Auftraggeber nicht auf einen gemeinsamen Planungsprozess einlassen, sondern auf die Umsetzung eines unsinnigen Programms bestehen. In solchen Fällen hinterfragt NRS in situ teils vorgegebene Standorte, Raumprogramme und Anforderungsprofile und arbeitet auf Eigeninitiative Vorschläge aus. Das kann an der Gemeindeversammlung auf Unverständnis stossen.

Das Planungsbüro hat Elemente und Module in Holz, Metall oder Beton umgesetzt. Holz wird immer häufiger verwendet, weil es wohnlicher wirkt als Stahl. Um rentabel zu sein, erfordern temporäre Bauten eine andere Kostenrechnung, indem man eine Nachnutzung mit einkalkuliert. Unabhängig vom Material ist dies aus einem weiteren Grund sinnvoll: Die Erschliessung kann nicht gezügelt werden, und damit entsteht ein Verlust von rund 40 % der Erstellungskosten. Auch das erfordert Überzeugungsarbeit bei den Bauträgern. Baulich müssen die Container gängige Auflagen hinsichtlich Brandschutz und Energie erfüllen. Hinzu kommt, dass von der Projektierung bis zur Fertigstellung oft nicht mehr als zehn Monate bleiben.

Gesellschaftlich relevant

Angesichts der politischen Situation im Nahen Osten, am Hindukusch und in Afrika werden Menschen auch künftig nach Europa und in die Schweiz flüchten. Sie bilden eine heterogene Gruppe, über deren Position in unserer Gesellschaft wir nachdenken müssen. Gerade wenn Menschen aus meist anderen Kulturkreisen für Jahrzehnte bei uns Fuss fassen sollen, kommt ihrer Wohnsituation eine Schlüsselrolle zu.

Architekten sind gefordert, offene Potenziale wie Brachen, Umnutzungen oder Leerbestände in Innenstädten und Dörfern in ihre Planung mit einzubeziehen. Es geht darum, wohnlichen, flexibel nutzbaren und auch kostengünstigen Wohnraum zu schaffen, der über seine Vernetzung mit der Umgebung Integration ermöglicht. Da die Unterkünfte erfahrungsgemäss schnell verfügbar sein müssen, sollten auch unkonventionelle Ideen realisierbar sein. Das setzt voraus, dass sie bei Bedarf jenseits von starrem Regelwerk und Normen entstehen, und dafür muss die Politik demokratische und bauliche Prozesse beschleunigen.

Die Antwort auf die Frage, wie Menschen nach ihrer Flucht bei uns wohnen, weitet sich in Zukunft hoffentlich von der allzu oft üblichen Praxis der «Gated Communities» an der Peripherie auf das Zu­sammenleben in Wohnquartieren und an öffentlichen Orten aus. Nur so kann der zweiseitige Prozess der Integration ein gesellschaftliches Entwicklungspotenzial entfalten.

TEC21, Sa., 2016.02.13

13. Februar 2016 Danielle Fischer

4 | 3 | 2 | 1