Editorial

Das Thema Verdichtung stellt unsere Stadt- und Raumplanung aktuell vor grosse Herausforderungen. Mehr noch als die Städte selbst betrifft dies die räumliche Entwicklung über ihre Grenzen hinaus in den Stadtlandschaften der Agglomeration. Warum sieht es dort so aus, wie es aussieht? Welche Einflüsse sind entscheidend? Und vor allem: Wie kann man die Entwicklung steuern?

Mit Verantwortlichen aus Architektur und Planung diskutieren wir über Aufgaben, Probleme und Lösungsmöglichkeiten in der Planungspraxis – und berühren dabei die Schnittstellen zwischen Architekten, Städtebauern und Raumplanern, die auf jeweils unterschiedlichen Massstabsebenen arbeiten. Politische und gesellschaftliche Fragen prägen die Prozesse der Stadtplanung auch heute massgeblich.

Umso wichtiger erscheint es, diese Zusammenhänge auch in einem grösseren Kontext zu ­beleuchten: Mit einem Blick in die Historie und einer scharfen Analyse sowohl der städtebau­lichen als auch der gesellschaftlichen Entwicklungen zeigt der Architekt, Ökonom und Philosoph Georg Franck in seinem Essay Perspektiven auf und bezieht hierbei auch die Lehre ein.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist eine wichtige Voraussetzung, um die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen. Ob dies gelingt, entscheidet sich jedoch auf der gesellschaftlichen Ebene: Lösungen zeichnen sich ab, wenn wir Stadtplanung als gemeinschaftliche Aufgabe verstehen und angehen.

Susanne Frank

Inhalt

7 WETTBEWERBE
Architektur als soziale Skulptur

10 PANORAMA
Vom Elytron zum Messestand | Fokus Geschwindigkeit

14 VITRINE
Neue Räume 2015 | Bau   Energie Messe 2015

17 STABILITÄTSNACHWEIS NACH THEORIE 2. ORDNUNG
Normen zu Beton und Raumnutzungs­daten | Honorare: Wie weiter nach der Charta-Aktion?

23 VERANSTALTUNGEN

24 «STADTPLANUNG IST HOCHPOLITISCH»
Susanne Frank
Verantwortliche aus Architektur, Städtebau und Raumplanung berichten aus der Praxis und diskutieren über aktuelle Fragen, Probleme und Perspektiven in der Stadtplanung.

28 STÄDTEBAU ALS GEMEINSCHAFTSWERK
Georg Franck
Der Zerfall des Städtebaus hat unsere räumliche Umwelt nachhaltig geprägt. Begreift man Städtebau als Gemeinschaftsleistung, so zeigen sich Lösungen aus dem Dilemma.

35 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

«Stadtplanung ist hochpolitisch»

Welche Einflüsse sind entscheidend in der Stadtplanung? Und woran scheitert der Städtebau in der Agglomeration? Drei Experten diskutieren über aktuelle Fragen in der städtebaulichen Entwicklung
und die grossen Herausforderungen in der Planungspraxis.

TEC21: Die Grenzen zwischen Städtebau und Raumplanung scheinen fliessend. Im interdisziplinären Kontext fällt auf, dass die Begriffe wenig differenziert verwendet werden. Wie würden Sie Städtebau und Raumplanung charakterisieren? Was sind für Sie die wesentlichen Unterschiede?
Marcel Meili: Für mich ist der Unterschied der, dass Städtebau einen Projektcharakter hat im weitesten Sinne; während Raumplanung die Rahmenbedingungen festlegt über grosse Räume, gesetzliche, aber auch strategische, etwa Erschliessung und Nutzungsverteilung. Städtebau basiert auf einer entwerferischen Dimension, indem auch architek­tonische Begriffe wie Körperlichkeit, Raumpropor­tionen, Gebäudehöhen, Massstäblichkeit, Nutzungsverteilungen, Typologien usw. eine Rolle spielen.
Das war schon bei grossen Städtebauern wie etwa Sitte, Fischer oder Cerda so, meist auch bei Le Corbusier. Das Vokabular der Raumplanung ist etwas vollkommen anderes als im Städtebau.
Patrick Gmür: Der Unterschied betrifft die Massstabsebene. Im Städtebau geht es um Baukörper, Volumen und die Räume dazwischen sowie die damit verbundenen architektonischen Fragen. In diesem Sinn ist der Städtebau dreidimensional, wohingegen die Raumplanung, die strategisch und behördenverbindlich ist und gesetzliche Vorgaben formuliert, eher zweidimensional zu begreifen ist. Ihre Instrumente bilden die Grundlagen, auf deren Basis man sich mit den konkreten städtebaulichen Fragen auseinandersetzt. Die Raumplanung besitzt eine gewisse Unschärfe, während der Städtebau genaue räumliche Vorstellungen entwickelt. Bezieht man diese auf die einzelne Parzelle, kommen die jeweiligen Besitzverhältnisse ins Spiel – und ab diesem Punkt wird es unglaublich präzise, mit maximaler Aus­nutzung, Grenzabständen, Gebäudehöhen usw.
Wilhelm Natrup: In der Raumplanung differenziere ich unterschiedliche Ebenen: die örtliche Raumplanung, meistens nennt man das Stadtplanung, und die überörtliche Raumplanung. Mit der Raumplanung sind die Prozesse und Instrumente verbunden, die notwendig sind, um in der demokratischen Entscheidung die verschiedenen Interessen gegen­einander abzuwägen und die städtebaulichen Vor­stellungen umzusetzen. Darum ist Raumplanung Entscheidvorbereitung im politischen Prozess, Städtebau hingegen ist die Disziplin der baulich-räumlichen Gestaltung. Das darf man aus meiner Sicht nicht immer vermischen. Raumplanung und Städtebau ergänzen sich, sie sind keine Gegensätze.

Es gibt die Ebene der Architektur, die sich auf ein Projekt und eine spezifische Parzelle bezieht, und es gibt die Ebene der Raumplanung, die die räumliche Entwicklung im grossen Kontext koordiniert. Doch die Ebene dazwischen, Städtebau im Sinn von Architektur auf einer grösseren Massstabsebene, stellt eine ganz andere Herausforderung dar. Denken die Architekten über die einzelne Parzelle hinaus in diesem Massstab?
Gmür: Wir hatten heute, zusammen mit auswärtigen Fachexperten, im Amt für Städtebau eine Sitzung. Dort haben wir die Architekturbüros ausgewählt, die sich für Verdichtungsstudien im Zusammenhang mit dem kommunalen Richtplan beworben hatten. Aus den vielen und sehr breiten Bewerbungen schliesse ich, dass das Interesse für diese grössere Massstabsebene durchaus da ist und der Wille, ein ganzes Quartier städtebaulich und räumlich weiterzuentwickeln, vorhanden ist. Darüber haben wir uns sehr gefreut!
Meili: Ja, dieses Bewusstsein gibt es. In diesen Initiativen geht es genau darum, den Zwischenbereich zwischen dem Zonenplan und der Gestalt eines Quartiers aufzuklären. Die Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wo der Zonenplan etwa in der Frage der Verdichtung zu einer Gestalt drängt, die so vielleicht gar nicht erwünscht ist. Dennoch wird in diesen Verfahren deutlich, dass die Verfasser den architektonischen Gehalt gegenüber dem Massstab, den es dort zu bearbeiten gilt, eher überschätzen. Das ist ein Grundfehler, denn auch der Städtebau wirft Strukturfragen eines grösseren Massstabs auf, die den Projektcharakter sprengen und überformen. In diesem Punkt berühren sich Raumplanung und Städtebau. Städtebau muss die Form mitverhandeln, oder er muss eine angemessene Verallgemeinerbarkeit der Antworten finden.
Gmür: Architektinnen, Architekten arbeiten meist mit einem Grundeigentümer oder Investor zusammen, der ein Areal oder ein Grundstück hat. Dort liegt ihre Aufgabenstellung. Es geht bei ihnen – schon aufgrund ihres Auftrags – um die einzelne Parzelle. Der Investor oder Eigentümer geht also vom Kleinen ins Grosse. Der Raumplaner hingegen kommt umgekehrt von der übergeordneten Massstabsebene und geht ins Kleine. Es sind ganz unterschiedliche Ausgangspositionen und Arbeitsbedingungen. Dennoch behaupte ich: Das Ziel eines Architekten sollte immer sein, ein Haus zu entwerfen, das auf seine Umgebung oder im besten Fall auf das ganze Quartier strahlt.

Probleme zeigen sich vor allem in der räumlichen Entwicklung über die Grenzen der Stadt hinaus, in der Agglomeration. Wer macht dort Städtebau? Warum sieht es so aus, wie es aussieht?
Natrup: Das Problem ist vielschichtig. Es ist eine Frage der personellen Ressourcen und Kontinuitäten, und es gibt die politische Ebene. Die Haltung ist in Städten oder Gemeinden, die ein Parlament haben, eine andere, hier findet man meistens auch eine grössere Professionalisierung. In den Gemeinden gibt es wenig Personal, das fachlich die Interessen wahrnehmen kann. Es gibt zwar Planer, die beauftragt sind, aber sie haben eine andere Legitimation als eine Verwaltung. Wenn die Gemeinden nur einen Bausekretär haben, der allein alles vorbereitet und macht, dann gibt es diese Interessenswahrnehmung der Öffentlichkeit nicht. Die Politiker verlassen sich darauf, dass das ausreichend war, was da gelaufen ist. Darin sehe ich einen grossen Mangel.
Gmür: Die Verantwortung liegt bei den Städten und Gemeinden. Wir können immer nur das initiieren und umsetzen, was auch politisch unterstützt wird. Dieser politische Zusammenhang ist nicht zu unterschätzen. Wenn ein Vorhaben nicht gestützt wird, dann haben wir wenig Chancen, es durchzubringen.
Natrup: Ausserdem muss man sehen, dass 90 % aller Bauten aufgrund der Bau- und Zonenordnung in den Gemeinden bewilligt werden und nicht mit Sondernutzungsplanung, zum Beispiel mit Gestaltungsplänen. Wenn wir einmal die Bau- und Zonenordnung genehmigt haben, dann kommt die Gemeinde vielleicht 15 Jahre nicht zu uns, wir spielen keine Rolle mehr. Bei grossen Arealen gibt es zwar Gestaltungspläne, doch das Bild der Gemeinden wird über die Alltagsarchitektur viel stärker geprägt – und da redet eigentlich keiner mit.

Ist es auch ein Problem der Planungsinstrumente? Wären gesetzliche Regelungen zum Städtebau hilfreich? Oder ist es eine Frage des kulturellen Bewusstseins?
Natrup: Ich befürworte, die Kompetenzen auf der untersten Ebene zu lassen. Es wird nicht besser, wenn man das an den Kanton oder Bund delegiert und sagt, es gibt jetzt einen Bundesbeauftragten für Qualität im Städtebau. Wir müssen die Gemeinden befähigen. Viele Gemeinden, auch im Kanton Zürich, machen das schon, indem sie Orts- oder Stadtbildkommissionen einrichten – aber aus meiner Sicht sind es zu wenige.
Meili: Falls Städtebau scheitert, liegt das sehr oft weniger an den gesetzlichen Regelungen als an den stadträumlich willkürlich zersplitterten Zuständigkeiten. Im Gemeindeföderalismus ist es immer eine Frage, wer zuständig ist und wer welche Rechte abtritt.
In einer Metropolitanregion wirken politische Grenzen meist zufällig und scheiden Räume aus, deren städtebauliche Identität völlig unklar ist. Aus der Sicht einer Agglomerationsgemeinde heraus ist es fast unmöglich, einen sinnvollen Platz, eine klare Identität in der Metropolitanregion zu definieren: Wer sind wir, und was wollen wir städtebaulich? Das ist eine Frage eines übergeordneten Plans, in dem Recht geschaffen wird. Solange es keine politische Übereinkunft darüber gibt, was eigentlich das Wesen einer Metropolitanregion ausmacht, wird der Städtebau heillos auflaufen. An diesem Punkt hat das «städtebauliche Porträt» des Studio Basel angesetzt.
Natrup: Es hängt sehr stark an Personen und am Bewusstsein, wenn man qualitätvolle Entwicklung in den Gemeinden machen will. Es gibt immer Phasen, da sind plötzlich Personen am Ruder, die in dieser Zeit eine zukunftsweise Entwicklung in ihren Gemeinden erreichen. Aber die Prozesse sind langwierig, und wenn diese Personen nicht dabeibleiben, dann bricht das wieder ab.
Meili: Dass zum Beispiel Zürich städtebaulich den Anschluss an die umgebenden Gemeinden findet, halte ich für eine der bedeutendsten Aufgaben des kommunalen Städtebaus. Nur muss man dabei von einem enormen Gefälle im städtebaulichen Know-how zwischen den Gemeindebauämtern und der Stadt ausgehen.

Das kann man sich vorstellen. Was bedeutet das?
Meili: Eine grossräumige städtebauliche Qualitätssteigerung ist im Raum Zürich praktisch nur von den städtischen Abteilungen ausgehend vorstellbar. Dort ist so viel Manpower und Fachwissen konzentriert, dass dieser Apparat wohl in der Lage wäre, grössere städtebauliche Raumzusammenhänge aufzubauen. Gemeindeämter sind damit überfordert. Einen solchen Eingriff in die Gemeindeautonomie lassen sich die Gemeinden allerdings traditionell nicht bieten. Sie verteidigen ihre Steuerprivilegien und das Gemeindebaureglement. Ich glaube, es ist nicht dramatisiert zu behaupten, dass ein Städtebau, der sich um urban sinnvolle Planungsräume kümmert, in der Schweiz immer am Gemeindeföderalismus scheitern wird. Dass selbst örtliche Gemeindekooperationen sich so schwertun, belast­bare Ergebnisse hervorzubringen, stützt diese These.
Gmür: Du hast es gut beschrieben, Marcel. Wenn die Leute hören, dass ich das Amt für Städtebau vertrete, werde ich oft gefragt, wie viele Leute in diesem Amt arbeiten. Ich sage 125. Entgegnet wird mir: Wir haben nur einen Bausekretär, der auch noch das Protokoll der Gemeinderatssitzung schreibt. Diese eine Person macht alles. Wenn wir nun eine gemeinsame Sitzung haben, komme ich mit all
meinen Fachspezialistinnen und Fachspezialisten, während uns gegenüber eine einzelne Person sitzt. Dies erzeugt – verständlicherweise – Vorbehalte. Es ist das Bild von David und Goliath, das hier aufblitzt. Ganz klar gibt es aber auch eine politische Dimension: Wenn man die politische Karte von Zürich und der gesamten Schweiz anschaut, stellt man schnell fest, die Städte sind meistens rot-grün dominiert und auf dem Land regieren  …
Meili: …  die Konservativen. Da fangen die Diskussionen an.

Welche Möglichkeiten gäbe es aus Ihrer Sicht, die städtebauliche Entwicklung in der Agglomeration zu steuern und positiv zu beeinflussen?
Gmür: In der Theorie könnte man viel machen, aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Entwickler und Investoren haben längst gemerkt, dass es in Zürich fast keine freien Grundstücke mehr gibt. Also weichen sie in die Agglomeration aus. Schlieren und Dietikon sind gute Beispiele dafür. Die städtebaulichen Inputs in der Agglomeration sind in der Folge also meist nicht von der Gemeinde initiiert, sondern von Investoren oder Grundeigentümern. Sie erhoffen sich in erster Linie, mit hoher Dichte bzw. Ausnützung, Geld zu verdienen. Die öffentliche Hand, die Gemeinde, spielt im besten Fall nebenbei mit – wenn sie überhaupt die Möglichkeit hat. Auch diesen Herausforderungen müssen wir uns als Stadt stellen. Eben: Man könnte viel machen, und es gäbe die Möglichkeit, über die Gemeindegrenzen ­hinaus die städtebauliche Entwicklung positiv zu beeinflussen. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob der Wille dazu da ist – vor allem der politische Wille.

Es setzt auch voraus, dass die Verantwortung von den Kommunen und Städten wahrgenommen wird?
Natrup: Die städtebaulichen Fragen unterliegen der kommunalen Planungshoheit. Es liegt in der Verantwortung der Gemeinden, ob sie ihre Ortsplaner oder Experten beiziehen wollen – oder ob sie den Investor allein machen lassen. Dann wird das Projekt in der Gemeinde vom Bausekretär auf Übereinstimmung mit dem Planungs- und Baurecht geprüft, und wir müssen es genehmigen. Wenn die Gemeinden die übergeordneten Vorgaben nicht einhalten, müssen sie die Planung überarbeiten. Wir machen Auflagen und empfehlen, eine qualifizierte Person beizuziehen, letztlich jedoch ist es Sache der Gemeinde. Aber sie wissen mittlerweile, dass sie mit uns ein Problem bekommen, wenn die nächste Vorprüfung ähnlich ausfällt: Wir genehmigen nicht. Sie müssten dann, das machen sie zum Teil auch, gegen den Kanton die Genehmigung einklagen. Das ist alles sehr rechtsstaatlich, was wir da machen.
Gmür: Ja, das ist der Föderalismus! Ob die Kommune ihre Verantwortung jedoch stets wahrnehmen kann, so wie wir uns das vorstellen, das ist eine andere Frage. Mit der Individualisierung der Gesellschaft ist vieles komplexer und komplizierter geworden. Darum ist es auch schwierig, eine gemeinsame Vorstellung zu entwickeln und, wenn wir jetzt vom Städtebau reden, eine gemeinsame Typologie oder Morphologie festzulegen. Meine grössten Diskussionen habe ich mit den Architektinnen und Architekten selbst. Jeder, jede hat eine spezifische Meinung. Und sie alle möchten möglichst viele Freiheiten, um das zu machen, was sie für richtig empfinden.

Der Verlust von gemeinsamen gesellschaftlichen Vorstellungen, der Zusammenhang von Stadt­planung und Politik – was bedeutet das in der Planungspraxis? Wie gehen Sie damit um?
Gmür: Man kann dies gut am Beispiel der Thurgauerstrasse (Leutschenbach) veranschaulichen. Dort hat das Amt für Städtebau eine Testplanung durchgeführt. Es gibt einerseits ein 65 000 Quadratmeter grosses Grundstück und andererseits einen Gemeinderat, der einen Gestaltungsplan fordert. In einem aufwendigen Verfahren haben wir ausgelotet, was man an diesem Ort machen soll, welche Nutzungen möglich sind und welche Dichte die richtige ist. Auf der Basis der vorliegenden Testplanung müssen wir nun einen Gestaltungsplan erstellen. Da stellt sich die Frage: Machen wir dies möglichst einfach, indem wir Baufelder definieren, auf denen man frei projektieren kann, oder braucht es eine Form von Zusammenhalt, von Regeln? Das führt uns wiederum zur grundlegenden Frage, ob die Architektinnen und Architekten tatsächlich städtebaulich denken und um die Sicht auf das Ganze besorgt sind.
Meili: Ja, es braucht eine Kohäsion. Es gab eine Expertenrunde, die die Frage diskutiert hat, wie eng wir das Korsett stricken sollen. Das waren namhafte Experten, und das Ergebnis ist klar gewesen: Man muss es sehr eng stricken, damit die städtebauliche Konzeption des Testentwurfs in Zukunft eine Rolle spielen wird: der grosse Massstab, die geschlossene Strassenfront, die Wohnhöfe. Daran arbeiten wir jetzt, das stricken wir relativ eng und legen es der Stadt vor. Das hat zur Folge, dass das Ausbrechen von Architekten aus individuellen Motiven heraus recht schwierig wird. An dieser Stelle sind wir nun selbst herausgefordert, dem Städtebau jenen Atem zu lassen, den er zu seiner Verwirklichung benötigt.
Gmür: Es ist auch eine Herausforderung, diesen Gestaltungsplan dann durch den Gemeinderat zu bringen und dort die Sinnhaftigkeit der Regeln zu erklären. Im vorliegenden Fall ist es eine grosse Chance, einmal 900 Meter Stadt am Stück und aus einem Guss zu gestalten. Das wäre etwas Einzigartiges und Starkes.

Braucht man Vorgaben und Regeln, um diesen Prozess zu kontrollieren?
Gmür: Ja, es braucht diese, um einen Zusammenhalt herzustellen, davon bin ich aufgrund zahlreicher Erfahrungen – Europaallee, Manegg – überzeugt. Aber das wird oft ins Gegenteil gekehrt und uns negativ ausgelegt. Es heisst dann, dass wir zu strenge Vorgaben formulieren, nur um zu kontrollieren.
Meili: Die Frage der gesellschaftlichen Konventionen ist von grosser Bedeutung. Wenn es natürlich keine Übereinkunft darüber gibt, was eine Stadt ausmacht, dann ist die umgekehrte Frage: Woher kommen diese Regeln, die man da festlegt? In der Schweiz sind viele Stadtbewohner in ihrer Seele gar keine Städter. Stattdessen gibt es endlos viele Meinungen, wie eine halbländliche «Stadt» ohne jede Wucht weiterzubauen ist. Vor dieser grossen Herausforderung steht die Stadt jetzt. Sie beruft sich darauf, die Gegebenheiten des Bestands neu zu interpretieren. Das ist vermutlich die einzige Art, wie man irgendwann Zustimmung organisieren kann: indem man eine städtebauliche Gestalt postuliert, die ihre Wurzeln in der Geschichte der Stadt haben muss.

Wie wäre das in der Praxis machbar?
Meili: Die Stadt Zürich ist genau daran, das zu machen. Nehmen wir die Verdichtungsstudien, die hier im Amt für Städtebau gerade gemacht werden. Da wird in grossen Gebieten gearbeitet, in denen man sich mit dem Bestand auseinandersetzen muss. Es geht darum, ein Regelwerk (Anm. d. Red.: Kommunaler Richtplan) zu erarbeiten, das an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, damit auch ein politischer Konsens herbeigeführt werden kann, nämlich Verdichtung sicherzustellen. Ich wüsste nicht, wie man das anders machen könnte, als dass man die konkrete Auseinandersetzung mit dem Bestand sucht.

In unserer Diskussion kristallisiert sich heraus, dass der Ebene der Politik eine grosse Bedeutung zukommt. In welchem Zusammenhang stehen Stadtplanung, Raumplanung und Politik?
Gmür: Stadtplanung ist hochpolitisch. Wenn es um Planung geht, ob Raumplanung oder Städtebau, dann geht es immer auch um Politik. Es ist ganz wichtig, sich dessen stets bewusst zu sein. Meine Rolle besteht vor allem darin, dem Stadt-, aber auch dem Gemeinderat zu vermitteln, was die Stadtplanung macht und wohin sie will. Im Gegenzug hole ich dort die Unterstützung, die es braucht, um unsere Stadt weiterzuentwickeln – so wie dies wahrscheinlich deine Aufgabe ist in Bezug auf den Regierungsrat.
Natrup: Ja, ganz genau.
Gmür: Das Amt für Städtebau ist aus meiner Sicht eines der politischsten Ämter in der Stadt Zürich, wir haben extrem viele Schnittstellen zur Politik …
Natrup: …  und das gilt analog für die Raum­planung im Kanton. Wir sind das Amt, das mit den entsprechenden Themenfeldern sehr oft im Regierungsrat vertreten ist, es ist sehr politisch.
Gmür: Man könnte es auch anders sagen: ohne Politik keinen Städtebau ...
Natrup: … und keine Stadtplanung.

TEC21, Fr., 2015.11.13

13. November 2015 Susanne Frank

Städtebau als Gemeinschaftswerk

Städtebauliche Glanzleistungen der Vergangenheit beruhen auf gemeinschaftlicher Produktion. Was kann eine Gesellschaft, die immer stärker individualisiert, daraus lernen, und wie lässt sich dieses Wissen anwenden? Städtebau ist keine solistische Disziplin, sondern ein Ensemblespiel.

Raumplanung und Städtebau steuern die Entwicklung von Siedlungsstrukturen und Mustern der Raumnutzung. Anders als in Planwirtschaften ist in Marktwirtschaften die Disposition über die Raumnutzung zwischen zentraler öffentlicher Planung und dem privaten Grund­eigentum geteilt. Grund für die Unselbstständigkeit der privaten Verfügung ist erstens die Unteilbarkeit derjenigen Raumnutzung, die alle mit allen anderen Grundstücken verbindet, und sind zweitens die Auswirkungen der privaten Nutzung des Raums, die sich nicht an Grundstücksgrenzen halten und die ab gewisser Intensitätsstufen eines übergreifenden Managements bedürfen. Die Intensität dieser externen Effekte nimmt zu mit der Dichte, der Emissivität der Nutzungen, der Kleinteiligkeit des Grundeigentums und der Knappheit des Raums. Es gibt keine Städte ohne bewusstes Management externer Effekte.

Die klassische, bis in die Anfänge des Städtewesens zurückreichende Form des öffentlichen Managements der externen Effekte privater Raumnutzung ist die Gestaltung von Baurechten. Durch die Festlegung, wie hoch, wie dicht, wofür und in welcher Weise gebaut werden darf, wird geregelt, welche Art und Intensität solcher Effekte der Nachbarschaft zuzumuten und von dorther zu dulden sind. Diese Art des Managements ist bis heute die zentrale Aufgabe der Raumplanung: die räumlich individualisierende Gestaltung von parzellenscharf abgegrenzten Raumnutzungsrechten.

Die Rechtsplanung arbeitet mit dem sperrigen Verfahren der Schöpfung subjektiver Baurechte. Sie ist, was die Gestaltung von Räumen betrifft, auf den Weg des Ver- und Gebietens angewiesen.

Architektonische und städtebauliche Qualität kann man aber nicht verordnen, sondern durch Vorschriften allenfalls verhindern. Niemand wird von der Rechtsplanung erwarten, dass sie auf die Subtilitäten der architektonischen Gestaltung des urbanen Raums eingehen kann. Die architektonische Qualität der Strassen- und Platzräume ist vielmehr Sache der Architektur, die eine grundsätzlich doppelte Aufgabe hat: Die Architektur soll erstens Innenräume umschliessen und zweitens Aussenräume definieren. Im städtischen Kontext hat die Architektur immer auch Städtebau zu sein. Die Architektur ist, was die Definition der Aussenräume betrifft, nicht auf sich allein gestellt, sondern auf andere Architekturen bezogen und auf deren Mitwirkung angewiesen. Sie ist, als Städtebau, keine solistische, sondern eine Disziplin des Ensemblespiels.

Das Verhältnis von Raumplanung und Städtebau folgt nicht der einfachen Dichotomie von öffentlich und privat. Es ist auch keines zwischen fest verankerten Institutionen. Wohl ist die Raumplanung fest als Rechts- und Infrastrukturplanung institutionalisiert, gar keine Institution mit verbindlich festgelegtem Zuständigkeitsbereich ist aber der Städtebau. Städtebau gibt es nur im Rahmen eines Möglichkeitsraums, dessen Existenz und Ausmasse davon abhängen, ob 1. die öffentliche Planung und 2. die privaten Bauherren ihn offenhalten, und 3. davon, ob die beteiligten Architekten auch Gebrauch davon machen. Allen drei Bedingungen war der Zeitgeist der Moderne abhold.

1. Zum Projekt der Moderne gehörte das Programm, die kompakte Stadt durch die lockere Siedlung zu ersetzen. Für den durchschlagenden Erfolg dieses Programms hat eine Raumplanung gesorgt, die niedrige Baudichten und offene Bauweise zum Standard machte. Die lockere Siedlung verteilt frei stehende Bauten in der Landschaft, ersetzt die Stadt durch die Zwischenstadt: die durchgrünte Siedlung, nicht Stadt und nicht Land. In der Zwischenstadt steht der Städtebau auf verlorenem Posten. Die Architektur ist auf das einzelne Bauwerk beschränkt und von jener zweiten Aufgabe, auch Aussenräume zu definieren, entlastet. Der urbane Raum bleibt amorph, die klare Definition beschränkt sich auf die Verkehrsflächen. Ergebnis ist ein flächendeckender Siedlungsbrei, in dem die Regeln des Städtebaus dem Gesetz der wachsenden Entropie gewichen sind.

2. Die Raumplanung war nicht allein bei der Überwindung des Städtebaus. Sie konnte das Programm nur umsetzen, weil sie auch auf privater Seite offene Türen einrannte. Der Wunsch nach dem Eigenheim im Grünen bedeutet niedrige Baudichten und hohen Flächenverbrauch. Durch billigen Individualverkehr wurde dieser Luxus zu einem sozialen Standard. Auch das produzierende Gewerbe bevorzugte niedrige Baudichten, hoch maschinierte Produktionsstrassen wollen flexibel erweiterbar sein und eignen sich nicht zur geschossweisen Stapelung. Hier wie dort geht der Wunsch nach Ellenbogenfreiheit weiter als der Sinn für die Gemeinschaftsaufgabe eines kohärenten Städtebaus.

3. Selbst dort, wo Spielräume für das Gestalten im kollektiven Zusammenspiel gegeben sind, werden sie nicht genutzt. Der moderne Architekt versteht sich nicht als eingebundener Ensemblespieler, sondern als trotziger Einzelkämpfer gegen Konvention und Konformität. Sein Kampf richtet sich gegen eine Auffassung der Architektur, die auf andere Architekturen bezogen und auf deren Mitwirkung angewiesen ist, denn diese steht quer zu den für die Moderne so charakteristischen Individualisierungs- und Rationalisierungsansprüchen. Ist es also nicht einfach Wunschdenken, von solch einer gemeinschaftlichen Produktion zu träumen?

Der Städtebau als Kulturtechnik und hohe Kunst

Festzuhalten ist, dass die gemeinschaftliche Produk­tion all jenen städtebaulichen Glanzleistungen zugrunde liegt, auf die sich Europa so viel zugutehält. Die herrlichsten Plätze in Venedig und Siena, die schönsten ­Corsi in Rom und Florenz, die prächtigsten Boulevards in Paris und Barcelona sind alles andere als schiere Ansammlungen von Spitzenarchitektur. Überall gibt es da durchaus bescheidene Beiträge. Allerdings, und das ist entscheidend, spielen sie mit im Konzert und tragen das Ihre zu den Akkorden, Obertönen und Resonanzen bei, die das Spiel im Ensemble zuwege bringt. Sie verstehen es, trotz Mangel an Virtuosität, mitzuspielen, ohne zu patzen. Dafür dürfen sie sich im Glanz der Gemeinschaftsleistung sonnen.

Zu der bedeutenden Gemeinschaftsleistung ist es nicht gekommen, weil die Mitspieler von Egoisten zu Altruisten bekehrt worden wären. Die individuelle Vorteilsuche will darin gesucht werden, dass man zu einer Gemeinschaftsleistung beiträgt, die den eigenen Beitrag besser dastehen lässt, als er isoliert betrachtet wäre. Es gilt, eine Balance zwischen der Konkurrenz im Schönheitswettbewerb und der Kooperation im städtebaulichen Zuspiel zu finden. Es ist die Balance zwischen Konkurrenz und Kooperation, worum es in allen Arten des Mannschaftssports geht. Natürlich sind die Spieler im Team immer auch Konkurrenten, den Witz und den Reiz des Spiels macht es aber aus, dass die Konkurrenz die Kooperation nicht stören darf. Ganz dasselbe gilt für den Städtebau. Die Architektur im grösseren Massstab zu betreiben, heisst, die Architektur zu einem Teamsport zu machen.

Dieser Gewinn aus gutem Zuspiel ist keineswegs auf die Glanzleistungen des Städtebaus beschränkt. Er fällt überall an, wo es einem Ensemble von Architekturen gelingt, das Gut zu erspielen, das man gemeinhin eine «gute Adresse» nennt. Eine gute Adresse kann weder durch Rechtsplanung herbeizitiert noch dadurch hergestellt werden, dass eine individuelle Architektur die Architektur in ihrer Umgebung in den Schatten stellt. Sie entsteht vielmehr dann, wenn sich die individuellen Architekturen in der Gesellschaft anderer Architekturen zu benehmen wissen. Eine Adresse ist gut, wo der öffentliche Raum einladend, wo der Strassen- oder Platzraum wirtlich ist. Dies ist gerade nicht auf die Nobelquartiere beschränkt, sondern überall dort zu finden, wo sich die Bewohner und Benutzer mit ihrem Viertel identifizieren. Hier ist es denn auch ganz gewöhnliche, durchschnittliche Architektur, die den Ton angibt.

Kieze und Grätzel stellen die allgemein erschwingliche Form der guten Adresse dar.

Es sind die typischen Altbauquartiere, die den traditionell kompakten Typ der Stadt verkörpern.

Charakteristisch sind die klar definierten Strassen- und Platzräume mit geschlossenen Wänden. Die Wände werden von Geschossbauten in geschlossener Bauweise gebildet, deren Grundrisse ganz selbstverständlich nach der Strassenseite hin (statt nach der Himmelsrichtung) orientiert sind. Die Repräsentation bedient sich konventioneller Formensprachen, die es nahelegen, dass der Ausdruck der individuellen Architekturen in eine Konversation mit dem Kontext übergeht. So kam es, dass Bauweise und Formensprache einem Regelwerk folgten, das aus der Architektur tatsächlich so etwas wie einen Teamsport macht.

Programmierte Unwirtlichkeit der Städte

Die Moderne hat mit dieser Art Städtebau Schluss gemacht. Die soziale Orientierung zur Strassenseite hin wurde der Orientierung nach der Sonnenseite geopfert, die konventionellen Formensprachen wichen der Formengrammatik der abstrakten Architektur. Die Moderne hatte zwar Sinn für den Plan als grossen Wurf, aber keinen für das Gestalten im geregelt kollektiven Zusammenspiel. Statt des Spielers im Team hat die Moderne jenes Selbstbild des Architekten als heroischen Einzelkämpfer kultiviert.

Keinem der Avantgardisten der heroischen Frühzeit der Moderne wäre nun der Verdacht gekommen, seinem elitären Eigensinn könnte ein Massenerfolg winken. Dennoch war, als im Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit jene finale Welle der Massenproduktion an umbautem Raum anrollte, die abstrakte Moderne als neue Konvention der Architektur etabliert. Aus dem kapriziösen Einfall wurde die betonierte Realität der flächendeckenden Agglomeration.

Der Schrecken, mit dem diese Entgleisung zu Bewusstsein kam, erhielt einen sprechenden Namen. Er heisst seit Alexander Mitscherlichs Befund von 1965 «die Unwirtlichkeit unserer Städte». Die Städte sind in genau dem Sinn unwirtlich geworden, dass die Gemeinschaftsproduktion guter Adressen eingestellt wurde. Die Agglomeration hat sich verabschiedet vom Städtebau, der sich als Produktion guter Adressen versteht. Gute Adressen gedeihen nicht, wo Solitäre in undefinierten Resträumen herumstehen. Sie gedeihen, wie besonders wertvolle Früchte, nur unter besonderen Bedingungen: klar definierte Strassen- und Platzräume, die durch Schaufassaden gerahmt sind und Erdgeschosse mit publikumsorientierter Nutzung. Die Agglome­ration bietet diese Bedingungen gerade nicht. Sie ist voll von Reihen und Stangen, die von Parkplätzen und Abstandsgrün umgeben sind. Es gibt keine klar definierten Strassen- und Platzräume, sondern nur klar demarkierte Verkehrsflächen. Das Bedürfnis nach Repräsentation ist tabuisiert, es sei denn, sie manifestiert sich ganz ungeniert als Werbung. Die publikumsorientierten Nutzungen finden sich in Shoppingcenter verbannt. Kurz: Der öffentliche Raum als Becken guter Adressen ist auf Quartiere eingeschränkt, die inzwischen älter als 80 Jahre sind.

Die Unwirtlichkeit unserer Städte bezieht sich leider nicht nur auf die ausufernden Neubaugebiete – sondern auch auf den Raubbau in den noch funktionierenden Altbaugebieten. Viele der einst bedeutenden Stadtbilder sind durch unpassende Implantate verhunzt. Zu oft hat sich inzwischen gezeigt, dass sich die zeitgenössische Architektur in der Gesellschaft älterer Architektur nicht zu benehmen weiss. Zu der mangelnden Sensibilität aufseiten der Architekten kommt ein schnödes Kalkül aufseiten der Bauherren hinzu. Das Bauen in guter Umgebung lädt nämlich dazu ein, das Becken zu nutzen, ohne selbst etwas zur Güte der Adresse beizutragen. Der Neubau kann auch im Windschatten segelnd die gute Adresse ernten. Wer scharf rechnet und auf schnellen Gewinn achtet, nutzt diese Situation aus. Wenn er Nachahmer findet, wird das Becken Zug um Zug ruiniert.

Natürlich ist der Zerfall des Städtebaus den Planern und Politikern nicht verborgen geblieben. Sie haben sich auch nicht aus der Verantwortung geschlichen.

So schien es nur logisch, die Misere der räumlichen Entwicklung in der Ohnmacht der Planung zu suchen.

Wenn die Planung überfordert ist, dann muss das daran liegen, dass das Instrumentarium der Rechtsplanung zu schwach ist – ergo muss es geschärft werden. Je schärfer aber die Regulierung, umso enger wird es für die architektonische Gestaltung und umso weniger werden sich die Architekten aufgerufen fühlen, von sich aus für den städtebaulichen Zusammenhang zu sorgen.

Der Niedergang des Städtebaus als Tragödien der urbanen Allmende

Der Ruin des urbanen Raums als Becken für den Anbau guter Adressen folgt einem bekannten Muster. Es ist nicht unähnlich, aber auch nicht gleich dem Muster, das die Kritik an der Bauspekulation und der kapitalistischen Verwertungslogik im Visier hat. Die gründerzeitlichen Stadterweiterungsgebiete belegen, dass der Städtebau trotz hochkapitalistischer Bauspekulation, profitorientierter Bauindustrie und Immobilienwirtschaft blühen kann.

Der Ruin des urbanen Raums folgt einer anderen Einladung, die von der Unteilbarkeit des Beckens ausgeht, in dem gute Adressen gedeihen. Die gute Adresse kann nur von den Anrainern des Strassen- oder Platzraums gemeinsam angebaut werden. So kann auch derjenige Anrainer vom Mitgenuss nicht ausgeschlossen werden, der nichts zu ihrer Produktion oder Erhaltung beiträgt. Existenzielle Grundlage des Städtebaus ist eine Art von Immunsystem, das dem perversen Anreiz Widerstand bietet, den Aufwand für die sorgfältige Einpassung des Neubaus in den umgebenden Bestand zu streichen.

Der traditionelle Städtebau verfügte über ein solches Immunsystem. Er konnte sich auf eine Konvention verlassen, die sich im Metier von selbst verstand. Es gehörte zum Metier des Architekten, zu wissen, wie sich eine Architektur in der Gesellschaft anderer Architektur zu verhalten hat, damit die Gesellschaft angenehm wird – ebenso erwarteten dies die Bauherren. Wohl versuchte eine jede, ein bisschen besser als die umstehenden dazustehen, keine machte aber Anstalten, aus der Reihe zu tanzen. Sie sprach eine ornamentale Sprache, die die Architekten durch das Studium historischer Vorbilder erlernen konnten. So war es auch durchschnittlich begabten Entwerfern vergönnt, eine gute Figur im Konversationsspiel der Architektur zu machen. Nur so ist es denn auch zu erklären, dass die erste Welle der industriellen Massenproduktion an umbautem Raum auf bemerkenswertem städtebaulichem Niveau bewältigt wurde. Die Stadterweiterungsgebiete des 19. Jahrhunderts gehören inzwischen zu den beliebtesten Wohnquartieren der Grossstädte.

Die Funktion von Konventionen, die sich einmal von selbst verstanden, wird erst so recht deutlich, wenn sie aufgehört haben zu funktionieren. Inzwischen sehen wir, dass der Städtebau bis 1930 über eine Kraft verfügte, die heute verloren ist. Dennoch hat es keinen Sinn, an die Wiederbelebung verblichener Konventionen zu denken. Wir wollen nicht zurück ins 19. Jahrhundert; und selbst wenn wir wollten, könnten wir das Regelwerk, das damals stillschweigend fungierte, nicht reaktivieren. Wir können nur einen Schritt weiter zurückgehen und versuchen, die Produktionsweise zu beschreiben, deren sich die kollektive Produktion städtebaulicher Qualität bedient. Gibt es da noch andere Beispiele der gemeinschaftlichen Produktion unteilbarer Güter – und vielleicht sogar solche, die immer noch funktionieren und in vivo studiert werden können?

Tatsächlich existiert eine Form der Gemeinschaftsproduktion gleichberechtigter Partner, die auf freiwilliger Basis eine ungeteilte Ressource bewirtschaften. Sie heisst Allmende und bezeichnet den Gemeinbesitz, den die Beteiligten kollektiv bewirtschaften. Sie stellt eine Form des Besitzes dar, der die klare Trennung zwischen öffentlich und privat noch nicht vollzogen hat. Sie ist aber nicht nur eine uralte Bewirtschaftungsform, sondern auch eine mit ganz eigenen Möglichkeiten. Sie erlaubt einer Gruppe, etwas herzustellen, das sowohl die Möglichkeiten zentraler Planung als auch die Kräfte der einzelnen Beteiligten übersteigt. Sie hat sich bewährt bei der Nutzung von Grundwasserbecken und Fischgründen, beim Betrieb von Bewässerungssystemen und bei der Nutzung von Almen und Hochwäldern. Allerdings entsprechen den Möglichkeiten, die die Mischform von privater und kollektiver Bewirtschaftung bietet, auch die erwähnten Risiken. Allmenden als Gemeinbesitz reizen zu typischen Formen des Trittbrettfahrens und Sichdrückens.

Diese Gefahren sind unter der Annahme, dass sich die Eigner wie «homines oeconomici» verhalten, tödlich. Daher wurde der Allmende in der modernen Theorie des Wirtschaftshandelns ein lautes Requiem gesungen. Dennoch ist die Produktionsweise nicht tot, sondern erfreut sich unerwarteter Aktualität. Die Stichwörter sind «creative commons», «open source» und «peer to peer production».

Aus der Aufbruchstimmung in der Frühzeit des Internets ging eine Szene von Pionieren hervor, die im unbeschränkt zugänglichen und unreglementiert nutzbaren Netz der Netze eine Art gelobten Lands jenseits der exklusiven Eigentumsrechte und der staatlichen Bevormundung erblickten. Sie entdeckten für sich die Vorzüge der gemeinschaftlichen, vom Profitdenken befreiten Produktion von Gütern, die sie Lust hatten herzustellen. Die Szene erwies sich als ausgesprochen kreativ. Es war daher nur schlüssig und an der Zeit, dass 2009 eine Wissenschaftlerin mit dem Nobelpreis für Ökonomie geehrt wurde, um sowohl empirisch als auch theoretisch die Rationalität und ganz besondere Leistungsfähigkeit der Commons zu ergründen. Elinor Olstroms «Governing the Commons» (1990) zeigt, dass es Fälle wie die genannten Fischgründe, Bewässerungssysteme und Almen gibt, die sich seit Jahrhunderten bewähren und die leisten, was weder zentrale Planung noch eine Privatisierung vermöchten.

Städtebau als Bau und Pflege von «urban commons»

Das strassen- und platzräumliche Becken guter Adressen zählt leider nicht zu den Fällen, die Olstrom analysiert. Zweifellos stellt es aber eine Allmende dar, denn die guten Adressen werden entweder von den Anrainern gemeinsam hergestellt oder sie kommen eben nicht zustande. So ist der Städtebau auch eine Art «peer to peer»-­Produktion. Doch das Zusammenwirken der «peers» kommt nicht so leicht über das Gerempel von Einzelkämpfern hinaus, wenn es zu keiner Verständigung über die Art des Zusammenspiels kommt. Die Praxis der «free software production» hat herausgefunden, wie die Verständigung über den Modus des Zusammenspiels und die inhaltliche Zusammenarbeit auseinandergehalten werden können, ohne die Schritte von vornherein trennen zu müssen. Das Problem wird nicht zentral in Komponenten zerlegt, deren Lösung dann an einzelne Mitarbeiter delegiert wird. Vielmehr werden die Mitglieder eingeladen, Angebote zu Teillösungen in die Runde zu werfen, um dann im Sinn einer Synthese zur Lösung des komplexen Problems fortentwickelt zu werden. Umgekehrt gilt, dass Autoren ihre Arbeitsstände anderen, von deren Können sie sich etwas versprechen, zur Überarbeitung und Fortentwicklung weiterreichen können. So kommt es zur parallelen Entwicklung von Alternativen, die einerseits in einem Verhältnis der Konkurrenz stehen, andererseits uneingeschränkt kooperieren, da der Code sämtlicher Entwicklungsli­nien stets der gesamten «community» zur freien Verfügung steht. Welche Linie sich schliesslich durchsetzt, entscheidet die Gruppendynamik. Die Mitarbeit ist freiwillig und unentgeltlich. Die Belohnung besteht in dem schönen Gefühl, etwas zu einer bedeutenden Gemeinschaftsleistung beizutragen – und in der Anerkennung seitens derer, die von der Sache etwas verstehen.

Dasselbe Ethos, das die Produktion freier Software trägt, müssen Entwerfer entwickeln, wenn eine Ensembleleistung jenseits der Objektarchitektur ge­lingen soll. Dieses Ethos muss entwickelt und eingeübt werden. Mit dem grossen Wort einer Renaissance des Städtebaus ist daher zunächst einmal die Lehre der Architektur angesprochen. Aufseiten der Studenten ist das Interesse an der «open source»- und «peer to peer(p2p)»-Bewegung gross, leider hält die Lehre fest an der Auffassung der Architektur als einer solistischen Disziplin. Gleichwohl kann von einem gelungenen Experiment berichtet werden.

Entwerfen als Teamsport

Zu einer Probe aufs Exempel hat der Zürcher Direktor des Amts für Städtebau, Patrick Gmür, die Lehrstühle für Städtebau und digitale Methoden an der Technischen Universität Wien eingeladen (vgl. Kasten rechts). Zürich bekennt sich zum Leitbild der «walkable city» als dem Bild der nachhaltigen Stadt im Gegensatz zur flächenfressenden Agglomeration. Um die Möglichkeiten einer Nachverdichtung eines Stadtquartiers zu testen, wurde ein Gebiet in Zürich Altstetten ausgewählt. Mit der anzustrebenden Verdichtung sollte ein Städtebau einhergehen, der wieder urbane Räume gestaltet.

So verlangte die Nachverdichtung die Rehabilitation der Art von Architektur, die im Kollektiv Aussenräume definiert.

Die Ergebnisse dieses Lehrprojektes sprechen für sich: Es gelang der Nachweis, dass die Nachverdichtung im Mass, wie es der Umbau der Stadt zur «walkable city» anzeigt, im Rahmen des für Zürich charakteristischen Ortsbilds möglich ist. Es konnte sogar gezeigt werden, dass das moderne Zürich gewinnt, wenn es an seinen Rändern städtischen Charakter annimmt. Was das Experiment aber vor allen zeigt, ist, dass es nicht an der Unfähigkeit oder dem Desinteresse junger Architekten liegt, wenn die Architektur in Gesellschaft nicht als Spiel der Architekten im Ensemble gelehrt wird. Es hat auf Anhieb funktioniert, städtebauliche Entwürfe wie «open source»-Software herzustellen. Dass das nur ausnahmsweise geübt wird, liegt nicht an unwilligen oder überforderten Studierenden, sondern einzig am Lehrangebot der Architekturschulen.

Es nur eine Frage der Zeit ist, dass der Städtebau als Teamsport gelehrt wird. Entwerfen als Teamsport heisst, dass alle zwar individuell eine Objektarchitektur entwickeln, diese aber den Peers zur Beurteilung und Überarbeitung weiterreichen, um im Gesamtergebnis mit einer kohärenten Architektur im grösseren Massstab herauszukommen. Es liegt beim Team, zu welchen gestalterischen Mitteln es greift, um aus der Ansammlung von Einzelbauten ein stimmiges Ensemble zu ­machen. Es sollte wie beim guten Sport so sein, dass das Ergebnis nicht vorherzusehen, aber sehr wohl nachzuvollziehen ist.

Die «open source»-Produktion könnte von jungen Architekten als Chance aufgegriffen werden, um als Peers unter Peers etwas zu leisten, das sie aus eigner Kraft nicht so ohne Weiteres zuwege brächten.

Perspektiven für den Städtebau

Eine Renaissance des Städtebaus setzt freilich mehr voraus als die Initiative einzelner Gruppen. Auch die Raumplanung und die Kommunalpolitik müssen sich bewegen. Ein Anfang mit dem Städtebau als Teamsport sollte damit gemacht werden, dass eine neue Art von städtebaulichen Wettbewerben ausgelobt wird. Wettbewerbe nicht nur für Neubaugebiete und einzelne Situationen im Bestand, sondern mit Umgriffen eines ganzen Quartiers und im Massstab bis hinab zu 1 : 200. Weil Wettbewerbe dieses Umfangs zu teuer oder zu wenig lukrativ sind, sollten sie sich an Arbeitsgemeinschaften richten, die im Modus p2p zusammenarbeiten möchten. Von den Kommunen sollte ein Mustervertrag entwickelt werden, durch den sich die Arbeitsgemeinschaft formell als Allmende konstituiert.

Als nächsten Schritt geht es darum, einen Mustervertrag zu entwickeln, anhand dessen sich auch Gruppen interessierter Eigentümer und mithin Auftraggeber als Allmenden konstituieren können. Die Ausarbeitung einer solchen Verfassung wurde im Lehrexperiment durch die fiktive Annahme übersprungen, dass der Anreiz des höheren Baurechts die Gründung urbaner Allmenden hinreichend attraktiv macht. Tatsächlich liegt hier der harte Kern des Problems, vor dem der gemeinschaftliche Anbau guter Adressen steht. Bei der Gründung von urbanen Allmenden gilt es zunächst, vernünftige Umgriffe für die Planung zusammenzustellen: Ensembles mit geschlossenen Strassenzügen oder Platzsituationen. Jeder der Eigentümer im geeigneten Umgriff bekommt ein Vetorecht über das Projekt insgesamt, das er ausspielen kann, um Sonderrechte zu ertrotzen. So bekommt bereits der allererste Zusammenschluss mit jenen Anreizen zu tun, die es dem operativen Betrieb der Allmende schwer machen.

Damit ist von vornherein klar, dass eine Kooperative vom Typ «urban commons» nichts für Investoren ist, die den schnellen Profit im Sinn haben. Es gibt aber auch Eigentümer, die sehr wohl in Kategorien der Nachhaltigkeit denken und gute Adressen etablieren wollen. Es gibt solche, die an der ästhetischen Qualität nicht nur ihres Hauses, sondern der ganzen Nachbarschaft interessiert sind. Für solche Bauherren könnte die Allmende eine interessante Alternative zur Praxis der individuellen Architektenverträge werden.

Ob eine Wiederbelebung des Städtebaus als gemeinschaftlicher Produktion guter Adressen bloss Wunschvorstellung bleiben oder zu einer praktikablen Option werden wird, wird davon abhängen, ob es gelingen wird, für die urbane Allmende eine robuste Rechtsform zu entwickeln. An dieses Regelwerk knüpfen sich komplexe Anforderungen. All dies deutet auf ein umfangreiches Projekt hin, dessen Ziel bisher lediglich in groben Umrissen deutlich ist.

Das Warten auf die Mustersatzung ist allerdings kein Grund, auch mit dem Entwerfen im Modus von «open source» und «peer to peer» zu warten. Es ist leicht möglich, Architekten, die sich zu Allmenden zusammentun, als Teilnehmer städtebaulicher Ideenwettbewerbe zuzulassen und das Format solcher Wettbewerbe an die reicheren Möglichkeiten des «commonalen» Entwerfens anzupassen. Wettbewerbe dieser Art wären ein ausgezeichnetes Instrument vorausschauender Planung, um mit der nachhaltigen Stadt ernst zu machen. Die «walkable city» verspricht, ein verzwicktes und langfristiges Projekt zu werden, das noch ganz andere Strategien als die der gängigen Praxis des Städtebaus fordert. Eine dieser alternativen Strategien ist, dass sich die kommunale Stadtplanung und Entwicklungspolitik des Entwerfens im Modus von «open source» und «peer to peer» auch unabhängig davon bedient, ob es zur Bildung urbaner Allmenden im vollen Umfang des Begriffs kommt. Das Beispiel Zürich lädt zum Gebrauch dieser neuen Möglichkeit ein.

TEC21, Fr., 2015.11.13

13. November 2015 Georg Franck

4 | 3 | 2 | 1