Editorial

Als Reisende möchten wir sicher von A nach B gelangen, auch wenn die Fahrt durch einen Tunnel oder einen Lawinenhang mit seinen Schutzgalerien führt. Wir verlassen uns darauf, dass die, die verantwortlich sind für diese Infrastrukturbauten, alles unternommen haben, damit uns nichts passiert – und trotzdem geschehen Unfälle und Katastrophen. Bedeutet das, es gibt eine Obergrenze für Sicherheitsmassnahmen? Oder ist es einfach der Ausdruck dessen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nie gleich null sein wird?

Die vielfältigsten Risiken begleiten uns täglich. Nur: Sind wir uns dessen bewusst? Dass wir diese Risiken laufend analysieren und bewerten, ist noch viel weniger wahrscheinlich – und doch tun wir es, wenn auch unbemerkt.

Wie all die Bauwerke zu planen und zu dimensionieren sind oder wie sie – nach den tragischen Erfahrungen mit mehreren Tunnelbränden vor ein paar Jahren – zu sanieren, zu verstärken und sicherer zu machen sind, ohne die begrenzten finanziellen Mittel zu überstrapazieren: Normen und Richtlinien geben die Werkzeuge dazu.

Neben dem SIA sind auch die Stellen des Bundes lau­fend daran, unsere Infrastrukturbauten den neuesten Erkenntnissen anzupassen: Soeben hat das Astra neue Richtlinien zur Tunnelsicherheit auf den Nationalstrassen erlassen.

Rudolf Heim

Inhalt

07 WETTBEWERBE
Dialog ohne Zuhörer

12 PANORAMA
Das Bauhaus vom Mythos befreien | Frank Gehry – des Meisters Formen- und Materialrepertoire

16 VITRINE
Neues aus der Baubranche | Klare Aussichten

20 LEHRSTUNDEN IN GELASSENHEIT
Beruf und Familie im Einklang | Beitritte zum SIA im 3. Quartal 2015

24 VERANSTALTUNGEN

26 WIE VIEL IST UNS UNSER LEBEN WERT?
Rudolf Heim
Wie viel Sicherheit wollen wir, und was sind wir bereit dafür zu bezahlen?

30 NORMEN MISSACHTEN – MIT GEWINN FÜR ALLE
Harald Kammerer
Bestehende Tunnel an neue Normen an­passen: Kosten-Nutzen-Überlegungen sind erlaubt.

34 BAUWERKE GEZIELT VERBESSERN
Katharina Fischer
Die Norm SIA 269 ermöglicht es, Kosten und Nutzen zu berücksichtigen.

38 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Wie viel ist uns unser Leben wert?

Wir wollen uns so sicher fühlen wie möglich. Doch welchen Preis sind wir bereit dafür zu bezahlen? Wer soll diesen definieren und wie? Die SIA-Normen und die Richtlinien des Bundes liefern Antworten und Werkzeuge, um Kosten und Nutzen vergleichen zu können.

Kosten-Nutzen-Überlegungen sind vor allem im geschäftlichen Bereich alltäglich. Niemand will am falschen Ort, am falschen Objekt oder mit der falschen Methode Geld und Zeit investieren. Auch bei Infrastrukturbauten führte die öffentliche Hand diese Überlegungen schon immer durch, Investitionen haben dem Gebot der Wirtschaftlichkeit zu folgen. Die grossen Brandkatastrophen in den europäischen Tunneln (Mont Blanc [1999], Tauern [1999], Gotthard [2001]) lösten intensive Diskussionen über Sicherheitsvorschriften und die Finanzierung von Tunnelsanierungen aus. Neben der Sicherheit der Bauwerke wurden vor allem Investitionen für eine erhöhte Sicherheit der Benutzer verlangt.

2004 verabschiedete die EU die Richtlinie 2004/ 54/EG Mindestanforderungen an die Sicherheit von Tunneln im Strassennetz und legte darin fest, dass «bei unverhältnismässig hohen Kosten risikomindernde Massnahmen als Alternativen akzeptiert werden können, wenn das Schutzniveau gleich oder höher ist als die minimal geforderten Ausbaustandards» – was nichts anderes bedeutet, als dass man Kosten-Nutzen-Analysen als Grundlage zur Entscheidung beiziehen darf.
Den verschiedenen Risiken, denen Bauwerke und deren Benutzer ausgesetzt sind, tragen Gesetze, Normen des SIA und die Richtlinien des Astra Rechnung. Eingetretene Schadenfälle und die daraus gewonnenen Erkenntnisse führen dazu, dass die neuen Regeln höhere Anforderungen enthalten. Als Folge davon stehen beim Sanieren bestehender Bauten oft umfangreiche und teure Investitionen an. Wenn man die Forderung einer Norm aber buchstabengetreu und ohne Kosten-Nutzen-Überlegungen anwendet, kann dies zu erheblichen Aufwendungen führen.

Maximallösungen: nicht immer zielführend

Das Institut für Baustatik und Konstruktion der ETH Zürich hat in einer Untersuchung[1] zu verschiedenen Lösungsmöglichkeiten zur Brandverhütung festgestellt, dass hohe Investitionen in den Brandschutz bei geringem «Gewinn» im Sinn von verhinderten Todesfällen kontraproduktiv wirken können, denn wenn an einem Objekt zu viel investiert wird, steht für ein nächstes Projekt weniger oder kein Geld mehr zur Verfügung. Beim Schutz vor Lawinen ist ein Umfahrungstunnel zwar viel sicherer, als es temporäre Strassensperrungen wären, aber das Beharren auf der Maximallösung «Umfahrungstunnel» (z. B. um potenzielle Verluste in Tourismusregionen zu verhindern) kann dazu führen, dass es wegen der fehlenden Finanzierung zu überhaupt keiner Verbesserung kommt.

Wirtschaftliche Betrachtungen, um die Sicherheitsanforderungen zu erfüllen, sind also unabdingbar.

Den «Wert» eines Lebens beziffern

Die Kosten der Massnahmen, die die Sicherheit erhöhen, sind relativ einfach zu bestimmen: Es sind bauliche, technische und organisatorische Massnahmen, ergänzt mit den Kosten für Unterhalt und Finanzierung. Die Grenzen des betrachteten Perimeters lassen sich, je nach Wichtigkeit des Infrastrukturbauwerks, auch weiter ziehen: Bei signalisierten Geschwindigkeitsreduktionen zur Unfallverminderung entstehen längere Fahrzeiten[2], Unfälle führen zu Staus im weiteren Umfeld, beides mit Kostenfolgen.

Wie aber ist der Nutzen zu beziffern? Sachschäden sind bei Unfällen über Haftpflichtversicherun­gen Dritter gedeckt, doch bei Bränden gibt es auch Verletzte und Todesfälle, was zu Forderungen an den Betreiber einer Infra­strukturbaute führen kann. Der Nutzen von risikomindernden Massnahmen fällt hier in Form der Reduktion der Anzahl Unfallopfer an.

Wie hoch sind die «Kosten» eines Verletzten oder eines Todesopfers?[3] Zwei Herleitungsmethoden zum Monetarisieren von Todesfällen stehen im Vordergrund: die «Humankapitalmethode» und die «Zahlungsbereitschaftsmethode»[4] (vgl. «Wer bewertet ­Menschenleben?», S. 28).

Bei der Humankapitalmethode entspricht der «Wert» eines Todesfalls dem entgangenen Einkommen einer Person resp. dem Wert der Arbeit, die sie noch hätte erbringen können. Diesen Ansatz verwenden häufig Gerichte, z. B. wenn die Leistung eines verunglückten oder verstorbenen Elternteils festzulegen ist. Die Problematik des Ansatzes zeigt sich in eklatanter Weise dann, wenn der «Wert» eines Rentners festzulegen ist.

Bei der Zahlungsbereitschaftsmethode geht es nicht um einen einzelnen Menschen, sondern um die Bereitschaft der Gesellschaft, für die Verhinderung (d. h. die statistische Minderung des Risikos) eines ­Todesfalls Geld auszugeben. Verschiedene Ansätze, diese Bereitschaft zu ermitteln, stehen zur Verfügung.

Eine umfangreiche vergleichende Betrachtung führte zu Werten zwischen 3 und 10 Mio. Fr. pro verhinderten Todesfall.[4] In den schweizerischen und europäischen Richtlinien, die diesen Wert bei Kosten-Nutzen-Über­legungen verwenden, hat sich ein Wert von 5 Mio. Fr. eingebürgert.[5]

Bei der Beurteilung von Grossereignissen wichen diese Werte zum Teil stark nach oben ab. Ein Carunglück mit 50 Toten erfuhr eine viel höhere (mediale) Beachtung als 50 einzelne Verkehrstote und deshalb auch eine ­höhere Gewichtung. Dieser Aversionseffekt wurde oft in Kosten-Nutzen-Überlegungen mit einbezogen. Zum Beispiel erfuhren Todesfälle durch Brandfälle wesentlich höhere Bewertungen (10 Mio. Fr.) als «gewöhnliche» Unfalltote (5 Mio. Fr.) (vgl. «Normen missachten – mit Gewinn für alle», S. 30). Dieses Vorgehen ist ökonomisch betrachtet nicht nachvollziehbar, sodass der Aversionsfaktor in neuen Richtlinien nicht mehr auftaucht.

Nutzen kann auch in Bereichen generiert werden, die nicht primär monetarisierbar sind, zum Beispiel in der Ökologie mit dem Schutz von wertvollen Landschaften oder in der Raumplanung durch den Schutz von Bauzonen vor Naturgefahren. Unter allen Umständen sind aber implizite Bewertungen zu vermeiden, sie haben nicht nachvollziehbare Auswirkungen und sind häufig auch statistisch ungenügend erhärtet. Alle Bewertungen, die man in die Überlegungen mit einbezieht, sind finanziell zu quantifizieren und ihre Auswirkungen mit Sensitivitätsanalysen zu untersuchen. Politische oder föderalistische Priorisierungen führen zu Ver­zerrungen und zum ungerechten Verteilen der meist begrenzten finanziellen Ressourcen.

Ertrag mit Aufwand vergleichen

Die 2011 erschienene Norm SIA 269 verlangt eine Massnahmeneffizienz ME, die 2015 neu erschienene Richtlinie des Astra[6] (vgl. «Wie sicher ist sicher?», S. 33) definiert eine Massnahmenakzeptanz MAkt, beide mit einem minimal zu erzielenden Grenzwert von 1.0 (vgl. Formeln S. 29 links). Massnahmen, die eine Effizienz (SIA) resp. Akzeptanz (Astra) haben, die grösser als 1.0 sind, sind also empfeh­lenswert. Bei einer solch exakt definierten Grenze ist aber die Ungenauigkeit der Berechnung in Betracht zu ziehen: Die Risikominderung beruht auf der Annahme von 5 Mio. Fr. pro verhinderten Todesfall[5], 6, die Auswertung der verschiedenen Betrachtungen der ­Zahlungsbereitschaftsmethode ergab Grenzkosten von 3 bis 10 Mio. Fr.[4], und die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Todesfalls ist ebenfalls mit statistischen Unsicherheiten behaftet.

Ein anderer Ansatz zur ökonomischen Beurteilung von Massnahmen ging rechnerisch den umgekehrten Weg und verglich die Kosten zur Erhöhung der Sicherheit mit der verminderten Anzahl Todesfälle pro Jahr. Diese «Kosten-Wirksamkeit» (KW) war definiert als Kosten pro verhinderten Todesfall. In dieser heute nicht mehr angewendeten Betrachtung empfahl das Buwal Kostenwirksamkeiten zwischen 5 und 20 Mio. Fr. pro verhinderten Todesfall und Jahr.[7] Je kleiner der KW-Wert ist, umso eher empfahl sich die Massnahme (vgl. Abb. S. 29 links oben). Hinter dieser Beurteilungsbandbreite stand ein mittlerer Wert von 10 Mio. Fr. für das Verhindern eines statistischen Todesfalls.

Eine Bandbreite beim Bewerten der Wirksamkeit (Effizienz, Akzeptanz) trüge dem Umstand Rechnung, dass die Bewertungsansätze (die Wahrscheinlichkeit des Eintretens und die Zahl­ungsbereitschaft der Gesellschaft) nur bedingt genau sind. Die Höhe der Grenzkosten für einen verhinderten Todesfall ist mit Bedacht zu wählen, da so unter Umständen auch teure Massnahmen als effizient beurteilt werden.

Unterschiedliche Bezeichnungen bei den Bewertungsmethoden

Für die Sanierung der Tunnel Cholfirst und Fäsenstaub (vgl. «Normen missachten – mit Gewinn für alle», S. 30) wurde ein Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis mit einem Wert kleiner als 1.0 als positiv betrachtet (in Anlehnung an die damals verwendete, in Deutschland entwickelte Methode zur Bewertung der Sicherheit von Strassentunneln, Forschungsbericht FE 03.0378/2004/FRB). Im Gegensatz dazu sind in den neuen Richtlinien und Normen bei der Massnahmenakzeptanz (Astra) und der Massnahmeneffizienz (SIA) Werte grösser als 1.0 als positiv anzusehen. Und die oben beschriebene, mittlerweile aufgegebene Analyse der Kosten-Wirksamkeit des Buwal setzte die Aufwendungen in Relation zur Verhinderung von Todesfällen, was zu Ergebnissen mit Beträgen von Millionen Franken führte (vgl. Abb. oben links).

Es existieren somit verschiedene Begriffe und Bewertungsansätze, die oft gleich oder sehr ähnlich lauten, zum Teil anders definiert sind und die auch zu rechnerisch nicht direkt vergleichbaren Resultaten führen. Auch wenn schlussendlich die vorgesehenen Massnahmen zur Steigerung der Sicherheit eine posi­tive Beurteilung erfahren, ist diese Uneinheitlichkeit in der Begriffswahl verwirrend.

Die verwendeten Begriffe und Bewertungen zumindest auf nationaler Ebene zu vereinheitlichen, wäre anzustreben.

Gibt es ein Nullrisiko?

Die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines wenn auch unwahrscheinlichen Ereignisses kann nie auf null reduziert werden, die zu seiner Verhinderung zu treffenden Massnahmen und deren Kosten würden unendlich gross. Da die finanziellen Mittel begrenzt sind, sind überall nachweisbare und optimale und nicht an wenigen Orten maximale Lösungen und Sicherheiten zu suchen. Die Werkzeuge dazu sind vorhanden.


Anmerkungen:
[01] Mario Fontana u. a.: Wirtschaftliche Optimierung im vorbeugenden Brandschutz. Inst. für Baustatik und Konstruktion, ETH Zürich 2012.
[02] Das Astra setzt für Fahrtverzögerungen 21 Fr. pro Person und Stunde ein (Astra 89 005). Ein Ansatz
in dieser Höhe generiert relativ hohe Kosten. Massnahmen können so evtl. ineffizient werden.
[03] Ökonomisch werden Verletzte im Verhältnis von rund 1 zu 30 in Todesfälle umgerechnet.[6]
[04] Zürcher Hochschule Winterthur, Inst. für Ge­sund­heitsökono­mie: Wert des Lebens aus ökonomischer Sicht. 2006.
[05] Planat: Risikokonzept für Naturgefahren. 2009.
[06] Astra: RL 19 004, Risikoanalyse für Tunnel der Nationalstrassen; Dokumentation 89 005, Risiko­konzept für Tunnel der Nationalstrassen; Dokumen­ta­tion 89 007, Risikoanalyse für Tunnel der Nationalstrassen: Anwendungsbeispiel. Alle 2015 (vgl. auch «Wie sicher ist sicher?», S. 33).
[07] Christian Wilhelm: Kosten-Wirksamkeit von Lawinenschutzmassnahmen an Verkehrsachsen. Buwal, 1999.

TEC21, Fr., 2015.10.23

23. Oktober 2015 Rudolf Heim

Normen missachten – mit Gewinn für alle

Minimale Sicherheit lässt sich auch mit anderen als mit normgemässen Mitteln erzielen. Eine Kosten-Nutzen-Analyse zur Sanierung von zwei Tunneln bei Schaffhausen zeigt, dass mehr Notausgänge besser und günstiger sind als mehr Aufwand bei der Lüftung.

Die Autobahn A4 (Winterthur–Schaffhausen) quert mit dem 1260 m langen Cholfirst- und dem 1460 m langen Fäsenstaubtunnel (Abb. oben) die Hügellandschaft bei Schaffhausen. Die beiden Tunnel nahmen 1996 den Betrieb auf, erfüllen aber die aktuellen Anforderungen des Bundesamts für Strassen Astra an die Tunnelsicherheit nicht mehr. Das Massnahmenprojekt des Astra aus dem Jahre 2013 zur Sanierung der Tunnel zeigte, dass anstelle der normgemässen Verbesserungen eine erhöhte Anzahl Notausgänge die bessere Wirkung hat als eine verstärkte und teure Lüftung und dazu sogar kostengünstiger ist.

Bestehende Tunnel, neue Normen

Der zweispurige Fäsenstaubtunnel hat eine Lüftung mit einer Absaugung in der Tunnelmitte (Mittenabsaugung), und Strahlventilatoren beeinflussen zusätzlich die Längsströmung. Der Cholfirsttunnel hat eine mechanische Längslüftung mit Strahlventilatoren und zusätzlich wegen der Längsneigung von 5 % eine dritte Spur.

Gemäss der aktuell gültigen Astra-Richtlinie «Lüftung der Strassentunnel» und der Norm SIA 197/2 wären zur Verbesserung der Tunnelsicherheit zwei Massnahmen erforderlich: ein durchgehender, parallel verlaufender Sicherheitsstollen mit Notausgängen alle 300 m (also je 4 Notausgänge) und als Lüftungssystem eine Rauchabsaugung mit Brandklappen im maximalen Abstand von 100 m, inklusive einer zusätzlichen Anpassung der Längslüftung. Beide Sicherheitsmassnahmen wären sehr aufwendig und teuer umzusetzen gewesen.

Die Weisung Astra 74 001 (2010) Sicherheitsanforderungen an Tunnel im Nationalstrassennetz schafft die Möglichkeit, für in Betrieb befindliche Tunnel alternative Massnahmen in Betracht zu ziehen. Voraussetzung dabei ist, im Vergleich mit den Normanforderungen ein mindestens gleichwertiges Sicherheits­niveau zu erreichen, dabei aber ein Abweiche­verbot bei SOS-Nischen, Ausstellbuchten, Notausgängen und der Signalisation der Sicherheitsausrüstungen einzuhalten.

Eine quantitative Risikoanalyse sollte für beide Tunnel alternative Varianten und deren Risiko­aus­wirkung auf den Tunnelnutzer untersuchen. Mit einer Kosten-Wirksamkeits-Analyse prüfte man, ob mit kostengünstigeren Varianten ein gleichwertiges Sicherheitsniveau zu erreichen wäre, das dennoch die aktuellen Sicherheitsstandards einhielte. Als Grund­lage für die Untersuchungen zur Sicherheit dienten die prognostizierten Verkehrswerte für das Jahr 2025.

Methodische Elemente

Die Risikoanalyse untersuchte und quantifizierte Risiken von möglichen Unfallszenarien, deren Kriterien Eintrittswahrscheinlichkeiten, Schadenswirkungen und Schadensausmasse lauteten. Dieses Risikomodell unterschied nur die Unfallszenarien des Typs «Kolli­sion» und «Brand». Da es zum Zeitpunkt der Analyse in der Schweiz keine verbindliche Methode für die Beurteilung von Risiken in Strassentunneln gab, wurde die in Deutschland entwickelte Methode zur «Bewertung der Sicherheit von Strassentunneln» (Forschungsbericht FE 03.0378/2004/FRB) in adaptierter Weise angewendet. Dieses Risikomodell fokussiert auf das Personenrisiko der Tunnelbenutzer. Es errechnet aus den durchschnittlich zu erwartenden Todesfällen pro Jahr einen Risikoerwartungswert als «Kollektives Risiko der Tunnelnutzer» und besteht aus den beiden Kernelementen «Quantitative Häufigkeitsanalyse» und «Quantitative Schadensausmassanalyse». Diese beiden Grundelemente werden ergänzt mit einer Gefahrgutanalyse und dann anschliessend bewertet.

Häufigkeitsanalyse: Die Wahrscheinlichkeit einer Reihe von Schadensszenarien berechnet sich mit einem Ereignisbaum. Beginnend mit einem Initialereignis, dessen Häufigkeit aus der Schadensstatistik bekannt ist, entwickeln sich in mehreren Schritten über alle Zweige eines Ereignisbaums die verschiedenen möglichen Abläufe des Ereignisses zu verschiedenen Schadens­szenarien.

Schadensausmassanalyse: Diese berechnet die Unfallfolge für jedes Folgeszenario im Ereignisbaum.

Die Werte für Schadensausmasse bei Kollisionen, die in Deutschland erhoben wurden, übernahm das Astra für schweizerische Verhältnisse und sah diese für die Tunnel Fäsenstaub und Cholfirst als plausibel an.

Die Schadensausmasse (d. h. die Anzahl Todesfälle) für Brände (ohne Gefahrgüter) werden durch detaillierte Simulationen mithilfe von dreidimensionalen Rauchausbreitungssimulationen berechnet.

Hierfür stand die Software «Fire Dynamic Simulator» zur Verfügung. Ein kombiniertes 3-D- und 1-D-Modell simuliert die Ausbreitung von Schadstoffen und Russ im Tunnel und liefert damit die Parameter für das Evakuierungsmodell. Die Evakuierungssimulation wertet die Sichtweite im Tunnel in 1.8 m Höhe aus und schätzt die ­Letalitäten der Flüchtenden ab. Die grösste Gefahr für die Tunnelnutzer besteht darin, vor Erreichen eines Notausgangs durch die Einwirkung von Rauchgasen zu ersticken.

Gefahrgutanalyse: Die angewandte Methode berücksichtigt die Risiken, die von Gefahrgut ausgehen, nicht, weshalb man sie grob separat mithilfe eines vereinfachten OECD/PIARC-CH-Modells ermittelte und in die Gesamtrisikobetrachtung mit einbezog.

Bewertung: Risikowerte sind grundsätzlich unscharfe Grössen, den ermittelten Risikoerwartungswert eines untersuchten Tunnels vergleicht man deshalb mit demjenigen eines richtlinienkonformen «Referenztunnels», der alle Anforderungen und Bedingungen der Normen und Richtlinien erfüllt.

Die Risikoanalyse wird sowohl für den Referenztunnel als auch für den bestehenden Tunnel mit der Verkehrs­prognose für 2025 durchgeführt. Liegt das Risiko des bestehenden Tunnels (2025) über dem Risiko des Referenztunnels, sind Massnahmen zur Risikoreduktion zu ergreifen.

Massnahmenpakete

Für die Tunnel Fäsenstaub und Cholfirst wurden neben dem heute bestehenden Tunnel und dem Referenztunnel drei Ausführungsvarianten mit unterschiedlichen Sicherheitsmassnahmen untersucht.

Im Zentrum standen die Fluchtmöglichkeiten und das Lüftungssystem. Zur Bewertung der Fluchtmöglichkeiten betrachtete man einen Sicherheitsstollen mit einer unterschiedlichen Anzahl von Querschlägen (Fluchttüren zum Tunnel). Beim Lüftungssystem wurden Varianten mit der geforderten Rauchabsaugung und/oder mit einer angepassten mechanischen Längslüftung untersucht. Im Weiteren konnte man die Konsequenzen des Anpassens der Lüftung (Rauchabsaugung und Längslüftung) beim Weglassen von Fluchtmöglichkeiten untersuchen.

Für jede der untersuchten Varianten liess sich nun die statistisch zu erwartende Anzahl Todesopfer infolge Kollision und Brand pro Jahr berechnen. Daraus ergab sich das gesamte Risiko der Varianten, welches anschliessend mit dem bestehenden Tunnel und mit dem Referenztunnel zu vergleichen war.

Ergebnisse und Beurteilung

Die analysierten Varianten konnte man nun nach ­deren Kosten-Wirksamkeit beurteilen (vgl. «Wie viel ist uns unser Leben wert», S. 26). Die Wirksamkeit (= Nutzen) einer Variante entspricht dem Sicherheitsgewinn infolge der statistisch weniger zu erwartenden Todesfälle. Der Nutzen eines geretteten Menschenlebens (vgl. «Wer bewertet Menschenleben», S. 28) ergab sich bei Kollisionstoten durch Monetarisieren mit 5 Mio. Fr., bei Brandtoten mit 10 Mio. Fr. (diese Unterscheidung ergab sich aufgrund des Aversionseffekts). Die ­Jahreskosten setzen sich aus den diskontierten Investitionskosten und den Betriebs- und Instandhaltungskosten zusammen. Wenn das Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis (das Verhältnis der Kosten zum Nutzen) kleiner ist als 1.0, so handelt es sich um eine kostenwirksame Massnahme. Das Kollisionsrisiko vernachlässigte man, da es unabhängig von der
Notausgangskonfiguration und dem Lüftungssystem ist.

Mit dem Referenztunnel, gemäss den heute geltenden Richtlinien mit vier Notausgängen und einer Rauchabsaugung, ergäbe sich ein deutlich höheres Sicherheitsniveau als heute. Massnahmen zur Verbes­serung der Sicherheit sind also zwingend notwendig. Die Varianten 1 bis 3 unterscheiden sich lediglich in der Anzahl der Notausgänge, auf eine Rauchabsaugung wurde überall verzichtet. Bei beiden Tunneln führt die Variante 1 zu einem höheren Risiko bei Brand als beim Referenztunnel, ist also nicht zu empfehlen. Die Varianten 2 und 3 liefern je ein höheres Sicherheits­niveau als der Referenztunnel und sind daher ausreichend sicher.

Die Kosten-Wirksamkeits-Analyse zeigt, dass die (normgemässe) Referenzvariante mit der Rauchabsaugung ein deutlich schlechteres Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis aufweist. Die Varianten 1 bis 3 sind bei beiden Tunneln positiv kostenwirksam (d. h. KW < 1.0) und deshalb realisierungswürdig, wobei nur die Va­rianten 2 und 3 ein geringeres Gesamtrisiko als der jeweilige Referenztunnel aufweisen und dadurch die Sicherheitsanforderungen erfüllen.

Aufgrund dieser Ergebnisse für die Varianten 2 und 3 (günstiger und sicherer) entschied der Bauherr (Astra), von der richtlinien- und normkonformen, aber kostenintensiven Lösung abzuweichen. Umgesetzt werden nun je ein Sicherheitsstollen mit (der Richtlinie gegenüber) verdichteten Fluchtwegabständen sowie eine Anpassung der Längslüftung und im Tunnel Fäsenstaub eine Ertüchtigung der bestehenden Mittenabsaugung. Die Ergebnisse der quantitativen Risikoanalyse zeigen deutlich, dass die von Richtlinien und Normen vorgegebenen Massnahmen nicht in allen Fällen die optimale Lösung für einen Tunnel darstellen.

TEC21, Fr., 2015.10.23

23. Oktober 2015 Harald Kammerer

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