Editorial

Thermische Energie kann man für jedes Gebäude einzeln produzieren – dezentral. Vorteilhaft daran ist, dass es viele nachhaltige Möglich­keiten dafür gibt und dass man von schwankenden Marktpreisen unabhängig bleibt. Oder man ­erzeugt die thermische Energie zentral: Das ist effizienter, und es gibt sehr wohl auch «grüne» Lösungen – aber irgendwie muss die Energie dann zu den Bezügern gelangen.

Dazu sind thermische Verteilnetze da. Sie haben eine lange Tradition: In römischen Ausgrabungsstätten kann man Kanäle für Thermalwasser finden, über die die insulae geheizt ­wurden. Das Grundprinzip ist bis heute gleich, die Technik hat sich weiterentwickelt. Was aber genau ist der aktuelle Stand?

Es gibt verschiedenste Temperaturniveaus, Topologien, Typologien, und alle führen – wörtlich – zum Ziel. Aktuell gibt es Netze für unidirektional beförderte Hochtemperaturfernwärme, dezentral erzeugte Niedertemperaturfernwärme, stern­förmig verteilte Fernkälte; die Vielfalt sprengt diese Zeilen. Heiss gehandelt werden heute die mit lauwarmem Wasser betriebenen Anergie­netze. Dabei ist Anergie per Definition eigentlich nutzlos, denn sie ist der Teil einer Gesamtenergie, der keine Arbeit verrichten kann.

Dass Anergienetze nutzlose Energie nutzen, ist aber noch nicht alles. Hydraulik und Betrieb funktionieren anders als in herkömmlichen ­Netzen und werfen laufend neue Fragen auf.

Dass diese erst noch zu beantworten sind, bedeutet nur eines: Die Entwicklung der thermischen Netze geht auch in Zukunft weiter.

Nina Egger

Inhalt

7 WETTBEWERBE
Baulmes für Uraltbäume ausgezeichnet

11 PANORAMA
Nach dem Durchstich ist vor dem Durchstich | Wie klima­freundlich ist Solarstrom? | Betonklassizismus und Moderne

16 NEUESTE ENTWICKLUNGEN INTEGRIERT
Perspektiven des Berner Inselspitals | Erster Schritt zur Wunderbrücke | Auf der Jagd nach Adressen

20 VITRINE
Gebäudetechnik im Fokus

21 VERANSTALTUNGEN

22 BESTEHENDES VERBESSERN
Hanspeter Eicher, Philippe Hennemann
Thermische Netze haben eine lange Vergangenheit, sind deswegen aber nicht obsolet.

27 «DIE TRÄGHEIT LÖST HIER EINIGE PROBLEME»
Nina Egger
Zwei leitende Planer erläutern, was das Anergienetz am ETH-Standort Hönggerberg so interessant macht.

31 KNOTEN UND MASCHEN
Matthias Sulzer, Urs-Peter Menti, Robert Spörri
Durch Bidirek­tionalität sind thermische Netze alles andere als trivial – daher müssen ­Hydraulik und Betrieb neu überdacht werden.

34 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Bewährtes verbessern

Wie hat sich die Fernwärme entwickelt? Hat sie überhaupt eine ­Zukunft? Experten, die im selbst im Bereich der thermischen Netze tätig sind, beschreiben die aktuelle Situation und ihre Vorgeschichte.

Längerfristig wird der Wärmebedarf für Raumheizung stark abnehmen, da die bestehenden Gebäude sukzessive instand gesetzt oder durch Neubauten ersetzt werden. Falls eine erneuerbare Energieversorgung mit einer Heizquelle pro Gebäude kostengünstiger ist, stellt sich die Frage, ob Fernwärme und Fernkälte (zentrale Kälteversorgung) überhaupt noch eine Zukunft haben. Eine kürzlich publizierte Studie[1] beziffert die in den nächsten 50 Jahren realisierbare Wärmeeinsparung im Gebäudepark auf ca. 50?%, basierend auf heute verfügbaren Technologien. Eine weitere Studie[2] zeigt, dass auch dann noch 40?% des Wärmeverbrauchs in dicht bebauten Gebieten anfallen werden. Verteilnetze für Nah- und Fernwärme liegen dort wirtschaftlich in einem vernünftigen Bereich. Wichtiger noch, in dicht bebauten Gebieten wird es häufig gar nicht oder nur sehr teuer möglich sein, jedes Gebäude einzeln mit erneuerbaren Energien zu versorgen. Erdsonden beispielsweise brauchen Platz, der in solchen Gebieten oft gar nicht verfügbar ist (vgl. TEC21 9–10/2015). See- und Grundwasser kann ohne Fernwärme nur von direkt angrenzenden Einzelgebäuden genutzt werden.

Stehen zur Versorgung dieser dichten Verbrauchszentren mit Fernwärme überhaupt ausreichend erneuerbare Energieträger zur Verfügung? Dies wurde für die gesamte Schweiz untersucht.2 Neu war, dass bisher wenig beachtete erneuerbare Wärme- und Kältequellen wie See-, Fluss- und Grundwasser in die Untersuchung einbezogen wurden und dass mit einem neuen Verfahren untersucht wurde, ob die erneuerbaren Energiequellen genügend nah an den verbrauchsdichten Gebieten liegen. Die Resultate zeigen, dass das Potenzial den Bedarf weit übersteigt. Zwei aktuelle Beispiele aus Zürich demonstrieren, wie Fernwärme als erneuerbarer Energielieferant funktionieren kann: die Abwärmenutzung aus der Abwasserreinigungsanlage Werdhölzli und aus der Swisscom-Zentrale Binz. Auf Bundesebene ist die CO2-Gesetzgebung das zentrale Element für die Förderung der Fernwärme. Ein wichtiges Steuermittel der Kantone für die Förderung erneuerbarer Fern- und Nahwärme ist die Vorgabe einer Energieplanung für grössere Gemeinden. Zahlreiche Gemeinden sind heute Energiestädte und haben sich unter anderem als Ziel gesetzt, ihre Wärmeversorgung möglichst umfassend auf erneuerbare Energien umzustellen. Mit ihren gemeindeeigenen Gebäuden (wie Schulen und Verwaltungsbauten) setzen diese Gemeinden vielfach Impulse für den Bau einer Nahwärmeversorgung und beteiligen sich auch finanziell an der Realisierung der Anlagen.

Mit höherem Wärmeabsatz höhere Wirtschaftlichkeit

Die Fernwärmekosten ergeben sich hauptsächlich aus den Kosten für die Wärmebereitstellung und die Wärmeverteilung. Die Bereitstellungskosten hängen primär von der Art der (erneuerbaren) Energiequelle und einer optimalen Planung der Energiezentrale ab. Die Wärmeverteilkosten andererseits werden ganz entscheidend von der Grösse und Wärmedichte des versorgten Gebiets bestimmt. Die Wärmeverteilkosten sollten unter den heutigen Rahmenbedingungen 5 Rp./kWh nicht übersteigen. Dies bedeutet, dass pro kWh jährlichem Wärmeabsatz maximal 1 Fr. in das Wärmenetz investiert werden darf. Bei Gesamtkosten des Netzes von 2000 Fr. pro Meter Trassenlänge benötigt man damit einen Wärmeabsatz von 2 MWh/m. In rein städtischen Gebieten mit höheren Kosten pro Meter Trasseelänge muss der Wärmeabsatz entsprechend höher liegen.

Die gesamten Fernwärmekosten sollten die Gesamtkosten einer dezentralen Heizungsanlage nicht wesentlich übersteigen. Ein geringer Preisunterschied ( 10?%) lässt sich rechtfertigen, da der Wärmebezüger den Betrieb der Anlagen vollständig dem Wärmelieferanten überlassen kann.

Fernwärmenetze benötigen einen langfristigen Investitionshorizont, betragen doch die Nutzungsdauer und damit die Abschreibungszeit mehr als 40 Jahre (bei der Geothermie liegt sie bei 20 Jahren). Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen über diesen langen Zeithorizont sind mit vielen Unsicherheiten behaftet. Umso wichtiger ist es, dass die politisch gesetzten Rahmenbedingungen, wie die CO2-Abgabe, bestehen bleiben, bis die Ziele der Klimapolitik erreicht sind.

So grün wie der eingesetzte Energieträger

In einem ersten Schritt ist ein geeignetes Absatzgebiet für Fernwärme und Fernkälte festzulegen, das einen wirtschaftlichen Betrieb der zukünftigen Versorgung zulässt. Ausgangspunkt kann ein vorliegender Energierichtplan oder die Energieplanung einer Gemeinde sein. Häufig initiieren auch Kontraktoren eine Fernwärmeplanung. Weiters braucht es eine genügende Zahl von bedeutenden Wärmeabnehmern. Dann wird die Lage der Energiezentrale festgelegt. Als Energieträger müssen vorwiegend erneuerbare Energien oder Abwärme eingesetzt werden; nur dann ist Fernwärme nachhaltig. Danach beginnt die eigentliche Planung des Netzes und der Zentrale. Diese läuft grundsätzlich gemäss Leistungsmodell des SIA ab, aber es gibt einige Erfahrungsgrundsätze zu berücksichtigen: Synergien mit anderen erdverlegten Leitungen sind durch gleichzeitiges Realisieren wenn möglich zu nutzen.

Für ein kostengünstiges Fernwärmenetz braucht es eine möglichst hohe Spreizung zwischen Vor- und Rücklauftemperatur. Die Temperatur sollte aber einen Wert von 120?°C nicht überschreiten, damit keine teuren Betonkanäle zur Aufnahme der Fernwärmerohre notwendig werden. Die Vorlauftemperatur eines preiswerten Fernwärmenetzes beträgt üblicherweise 90 bis 95?°C. Die Rücklauftemperaturen sollen unter 50?°C liegen, was bei bestehenden Gebäuden meist eine Anpassung der Wärmeverteilung im Gebäude erfordert.

Die Anlagen sind so auszulegen, dass der Anteil des erneuerbaren Energieträgers im Jahresmittel 85 bis 95?% beträgt. Dies ist erfüllt, wenn ihre Leistung bei Auslegetemperatur etwa 45 bis 55?% der gesamten Wärmeleistung ausmacht. Die restliche Leistung kann durch einen fossil betriebenen Spitzenkessel erbracht werden, der im Winter auch für die höhere Vorlauftemperatur sorgt. Verbraucherseitig beträgt die Vorlauftemperatur im Sommer idealerweise 67?°C. Damit kann Warmwasser jederzeit mit 60?°C (legionellenfrei) bereitgestellt werden. Diese Vorlauftemperaturen können Wärmepumpen mit Ammoniak effizient erreichen.

Bei Abwärmequellen, insbesondere in der Industrie, muss man für den Ausfall der Wärmequelle bereits im Konzept eine mögliche Alternative definieren (vgl. «Die Trägheit löst hier einige Probleme», S. 27).

Für den Wärmekunden ist der Betrieb einfach. Er hat einen langjährigen Vertrag mit festgelegten Wärmepreisen und braucht sich weder um Brennstoffeinkauf noch um den Betrieb der Anlage zu kümmern. Wenn er Wärme mit einem sehr hohen Anteil erneuerbarer Energie erhält, kann er damit auch speziell hohe Anforderungen, wie jene für 2000-Watt-Areale, erreichen. Heiss, kalt, warm, kombiniert?

Früher bedingten die Prozesswärmebedürfnisse von angeschlossenen Spitälern hohe Netztemperaturen der städtischen Fernwärmeversorgung (vgl. «Im Wandel der Zeit», S. 23). Hohe Vorlauftemperaturen ermöglichen zwar eine grosse Spreizung zwischen Vor- und Rücklauftemperatur und damit eine hohe Leistungskapazität bei geringen Rohrdurchmessern. Allerdings sind Netze über 120?°C in der Erstellung und im Unterhalt nicht nur teuer, sondern weisen auch hohe Wärmeverluste auf.

Der Trend geht eindeutig in Richtung tieferer Vorlauftemperaturen. Kleinere und mittelgrosse Fernwärmeverbünde werden heute meist mit Vorlauftemperaturen von 95?°C betrieben, da bei Rücklauftemperaturen von 50?°C und weniger eine genügend hohe Temperaturspreizung besteht, um mit vernünftigen Leitungsdurchmessern auszukommen.

Sobald in einem Gebiet nicht nur Wärme, sondern auch Kälte benötigt wird, stellt sich die Frage, wie eine leitungsgebundene Versorgung erfolgen soll. Wenn der Kältebedarf im Vergleich zum Wärmebedarf klein ist, kommt weiterhin ein klassisches Fernwärmesystem zum Zug, und es ist besser, die Kälte dezentral zu erzeugen.

Bei ausgeglichenem Wärme- und Kältebedarf ist die bewährte Lösung ein separates Verteilnetz für Wärme und Kälte. Dabei ist das Kälteverteilnetz so zu dimensionieren, dass auch erneuerbare Kälte, zum Beispiel aus See- oder Grundwasser, genutzt werden kann. Machbar sind jedoch auch alternative Systeme, zum Beispiel Niedertemperaturnetze, die direkt erneuerbare Kälte liefern. Die Wärmeerzeugung erfolgt dann dezentral mittels Wärmepumpen. Eine andere Alternative sind Anergienetze (vgl. «Die Trägheit löst hier einige Probleme», S. 27), die zum Beispiel in Kombination mit Speichersystemen wie Erdspeichern oder See- und Flusswasser für die Versorgung vieler dezentraler Wärme- und Kälteverbraucher eingesetzt werden können. Ob sich solche alternativen Netztypologien einsetzen lassen, hängt primär von Kosten-Nutzen-Überlegungen ab und muss in jedem Fall speziell geprüft werden (vgl. «Knoten und Maschen», S. 31).

Nach wie vor marktfähig

Solange Anergienetze noch ein Nischendasein führen, werden weiterhin klassische thermische Netze installiert. Sie haben sich am Markt bewährt und passen sich laufend aktuellen Erwartungshaltungen an Energielieferanten an, indem sie erneuerbare Energie liefern.

Das Stücki-Areal in Basel benötigt für ein Einkaufszentrum, ein Hotel und einen Businesspark viel Wärme und Kälte. In der ARA Basel entstehen aus der Klärschlammverbrennung im Sommerhalbjahr mehr als 9000 MWh ungenutzte Überschusswärme mit einer Temperatur von 160?°C. Diese wird über eine Heisswasserleitung zur Energiezentrale transportiert. Dort ist die grösste Absorptionskälteanlage der Schweiz installiert, die aus dieser Hochtemperaturabwärme während acht Monaten Kälte erzeugt. Sobald die Aussentemperatur unter 5?°C fällt, kommt erneuerbare Kälte aus Umgebungsluft zum Einsatz, die Hochtemperaturabwärme dient zum Heizen. Nicht mehr anders nutzbare Niedertemperaturabwärme aus einer Sondermüllverbrennungsanlage deckt die Grundlast- wärme ab. Sie steht mit einer Leistung von 4.7 MW und einer Temperatur von 62 bis 65?°C zur Verfügung. Sobald die Leistung nicht mehr ausreicht, wird mit Heisswasser aus der Klärschlammverbrennung nachgeheizt. Insgesamt liefern die Industriellen Werke Basel über eine Fernwärme- und Fernkälteverteilung jährlich 9500 MWh Kälte und 15?000 MWh Wärme.

Das durch die Oberland Energie AG betriebene Biomassezentrum in Spiez ist ein ausgeklügeltes Wiederverwertungssystem, das das grosse Potenzial biogener Stoffe zur Herstellung von CO2-neutraler Energie nutzt. Die Anlage besteht aus einer Vergärungsanlage, einem Kompostierwerk sowie einer Alt- und Restholzheizung. Durch die Vergärung entsteht Biogas. Ein Blockheizkraftwerk (BHKW) wandelt dieses in Strom und Wärme um. Die Abwärme aus dem Biogas-BHKW wird mittels Fernwärme zur Mehrzweckhalle «ABC Zentrum» geleitet und dort für Raumheizung und Warmwasserbereitung genutzt. Der durch die Alt- und Restholzheizung erzeugte CO2-neutrale Dampf mit 12 bar gelangt über eine Ferndampfleitung von ca. 450 m Länge zu einem Hersteller von chemischen Zwischenprodukten und dient dort für Produktionsprozesse. Heute kann der Betrieb 3.6 Mio. l Heizöl und 9000 t CO2 pro Jahr einsparen. Dampf ist ein hervorragender Energieträger und gerade bei grossen Transportdistanzen sehr effizient. Diese Anlage zeigt auch das Potenzial für die Substitution von fossilen Energieträgern bei der Bereitstellung von Prozesswärme. Ebenfalls ist eine Fernwärmeversorgung mit Abwärmenutzung aus der Altholzverbrennung in Betrieb. Sie versorgt einen Wärmeverbund in Spiez mit 5900 MWh/a. Der Wärmeverbund betreibt zusätzlich ein erdgasbefeuertes Blockheizkraftwerk (Strom- und Wärmeproduktion) mit 2900 MWh/a zur Spitzenlastabdeckung. Das Biomassezentrum erhielt den Watt d’Or 2012 des Bundesamts für Energie.

Die klassische Fernwärme findet nach wie vor Anwendung, wenn ein Gebiet oder eine Produktionsstätte erneuerbarer, wirtschaftlicher und im Betrieb einfacher thermischer Energie bedarf. (Zu den Potenzialen der jüngeren und weniger heissen Technologien vgl. «Die Trägheit löst hier einige Probleme», S. 27, und «Knoten und Maschen», S. 31.)


Anmerkungen:
[01] Rainer Bacher, Armin Binz, Hanspeter Eicher, Rolf Iten, Mario Keller: EnergieRespekt. Zürich 2014
[02] Sres, Nussbaumer, Eicher: Langfristperspektiven für erneuerbare Nah- und Fernwärme in der Schweiz. eicher+pauli 2014

TEC21, Fr., 2015.08.21

21. August 2015 Hanspeter Eicher

«Die Trägheit löst hier einige Probleme»

An der ETH Hönggerberg Zürich benötigen 10 000 Personen jährlich 27 GWh Wärme und 16 GWh Kälte. Zur Deckung wird das Anergienetz seit 2013 laufend ausgebaut. Zwei beteiligte Planer berichten von ihrer Arbeit.

Herr Gautschi, Herr Häusermann, Sie haben das thermische Netz der ETH Zürich am Hönggerberg geplant. Welchem Zweck dient es?
Gautschi: Die bestehende Heizzentrale der ETH war abzulösen, weil der Heizkessel saniert werden musste. Es kam die Frage auf, wie die Energieversorgung am Hönggerberg in Zukunft aussehen kann. Ziel war, die CO2-Emissionen bis 2020 um 50?% zu reduzieren. Über verschiedene Varianten wurde das realisierte Anergienetz entwickelt. Anergie ist Energie, die nicht direkt eine Arbeit verrichten kann.

Ein Wärmenetz auf niedrigen Energieniveau.
Gautschi: Genau. Wasser in Form von 8 bis 20?°C wird erst durch eine Wärmepumpe veredelt.
Auf der Kälteseite stimmt der Begriff Anergie physikalisch nicht, denn man kann mit kaltem Wasser direkt kühlen. Anergienetz war ein Übungstitel, im Markt spricht man sonst von kalter Fernwärme. Am Hönggerberg haben wir eine thermische Vernetzung, bei der wir die Gebäude über diesen Veredelungsprozess heizen, aber auch direkt kühlen. Die Synergie liegt in der Prozesskälte, der Laborkälte und der Klimakälte, die über dieses Netz produziert werden.

Es gibt dort gleichzeitig Kälte- und Wärmebedarf.
Gautschi: Teilweise gleichzeitig, teilweise auch saisonal verlagert. Gerade im Sommer brauchen wir vor allem Wasser, um Klimakälte zu produzieren. Zugleich können wir so die Erdspeicher für die Übergangszeit und den Winter regenerieren. Derzeit gibt es drei von voraussichtlich fünf Erdspeichern.

Momentan existiert ein einzelner Ring, an dem alle drei Speicher angeschlossen sind. Ein lineares oder sternförmiges Netz stand nie zur Diskussion?
Gautschi: Nein. Wir hatten den Vorteil, dass wir bereits einen Energiekanal hatten, der kreisförmig unter diesem Areal durchführt. Es gibt eine Ringleitung im Energiekanal, an der alle Speicher und Energiecluster angehängt sind. Sie sind völlig dynamisch und offen, nicht Gebäuden zugeordnet.

Läuft das Ringnetz bidirektional? Und wie viele Leitungen gibt es für die Temperaturniveaus?
Gautschi: Ja, bidirektional. Eigentlich ist es ein Zweileiter, aber wir haben einen dritten Leiter als Korrekturleiter eingeplant. Ganz am Anfang war das Thema, dass wir Abwärme auf sehr hohem Temperaturniveau direkt in die Kältezentrale bzw. zum Rückkühler bringen, wo die Abwärme vernichtet wird. Wir wollten diese hohen Abwärmen nicht im Zweileiter, weil die Temperaturschichtung zerstört würde. Und der Ring hat hydraulisch grosse Vorteile.

Was sind diese Vorteile?
Gautschi: Wir können den Druckverlust halbieren. Und eine allfällige Erweiterung ist einfacher. Wenn wir andere Stadtteile versorgen würden, sähen wir nicht einen grossen Ring,
sondern eher einzelne Arealringe, die mit anderen Arealringen vernetzt werden, wie eine Kette.

Das wäre dann ein vermaschtes Netz (vgl. Glossar S. 26).
Gautschi: Genau das ist jetzt Thema bei einem grösseren Netz: bei der Familiengenossenschaft am Fuss des Uetlibergs in Zürich.

Um auf die hydraulischen Vorteile zurückzukommen: der Druckverlust halbiert sich, weil ein Fluss in beide Richtungen möglich ist.
Gautschi: Das ist der eine Vorteil. Der andere Vorteil ist die Redundanz. Wenn wir irgendwo ein Problem hätten, eine undichte Leitung, dann könnten wir einseitig versorgen.

Gibt es für dieses Energienetz ein Monitoring?
Gautschi: Aus dem Monitoring werden circa monatlich die Daten ausgelesen und dann beurteilt. Diese Daten werden in weitere Systeme und auch in die Entwicklung des Anergienetzes einfliessen.
Häusermann: Die Komponenten sind gut erforscht. Es geht darum, die Technologien zu verbinden, die Hydraulik besser zu verstehen und die Hilfsenergie der Pumpenströme zu optimieren.

Wie löst man Probleme in der Hydraulik – gerade bei Bidirektionalität?
Häusermann: Wir geben die Strömung nicht vor. Das Wasser sucht sich den Weg des geringsten Widerstands, und so ergeben sich die Strömungen. Regeln wollen wir das nicht. Wenn eine Zentrale Wasser braucht, holt sie es sich. Es ist nicht vorgegeben, woher es kommt. Wenn zum Beispiel eine Zentrale im Heizbetrieb ist und eine im Kühlen, dann kommt die Wärme direkt von der Zentrale, die kühlt.

Wie sieht es denn mit den Drücken und Geschwindigkeiten im Netz aus?
Gautschi: Das Anergienetz ist ausgelegt auf maximal 1 m/s, da wir dann sehr wenig Druckverluste haben. Vor allem die Anschlussleitung und die Erdsonde generieren Druckverluste, wie bei einem kleineren konventionellen System.
Häusermann: Wir haben zwar relativ geringe Geschwindigkeiten, aber für die grosse Wassermenge grosse Pumpen. Eine Erkenntnis aus dem Betrieb war, dass wir die Pumpen sehr langsam hochfahren, um keine Druckschwankungen im Netz zu erzeugen.

Die Druckverluste können auch zu Kavitation führen. Wenn der Verdampfungspartialdruck unterschritten wird, bilden sich Dampfbläschen, die die Pumpen zerstören können, wenn sie schlagartig kollabieren.
Häusermann: Zu Beginn war der Systemdruck auf 4 bar. Verschiedene Tests unter Extrembedingungen haben gezeigt, dass bei gewissen hydraulischen Konstellationen Kavitation auftreten kann. Kurzfristig konnte das Problem mittels leicht höherem Systemdruck stabilisiert werden. Mittlerweile sorgt der Energiemanager dafür, dass die einzelnen Cluster nicht auf Spitzenlasten gefahren werden. Kavitation konnte durch die eingeleiteten Massnahmen seither nicht mehr nachgewiesen werden.

Wie funktioniert die Mess-, Steuer- und Regelungstechnologie des Systems und des Energiemanagers?
Gautschi: Die Zusammenarbeit mit der ETH ist da sehr gut. Der Energiemanager schaltet die Pumpen möglichst nicht gleichzeitig ein, um Spitzen zu vermeiden, weil es bei den Wärmepumpen hydraulisch ein Problem gäbe, wenn sie in Unterdruck gingen. Überraschend war, dass wir am Anfang schneller als erwartet in Betrieb gekommen sind. Wir hatten bei den Inbetriebnahmen mit grösseren Problemen gerechnet, als das wirklich der Fall war.
Häusermann: Die Trägheit löst hier auch einige Probleme. Allein in der Ringleitung sind rund 600 Kubikmeter Wasser. Das ist eine riesige Speichermasse, die wir verwenden können. Zu Beginn wollten wir zu viel regeln. Wir regeln jetzt weniger, und das System wird dadurch um einiges stabiler.

Das Netz hat im aktuellen Ausbaustand eine Ringleitung und drei Zentralen. Wie geht es weiter?
Gautschi: Der Ring hat den Endausbau erreicht und wird nicht mehr erweitert. Es werden sicher zwei weitere Cluster angehängt und wahrscheinlich zwei Erdspeicher. Aktuell ist in Diskussion, dass wir zusätzlich mit einer Transitleitung einen Teil von Affoltern versorgen. Wir haben den Ring nur in einem Ausnahmefall erweitert: für den Bereich HW (studentisches Wohnen am Hönggerberg).
Häusermann: Der Grund war, dass wir an diesem Standort eine Zentrale und einen Erdspeicher haben und keine zwei Komponenten einander direkt zuordnen wollen. Das heisst: Die Ringleitung wurde verlängert, sodass auch dieser Erdspeicher im Heizbetrieb sein kann, während die Zentrale kühlt. Sie werden sich nicht gegenseitig beeinflussen. Wenn eine neue Komponente, ein Cluster oder Ähnliches angeschlossen wird, ändert sich wieder alles. Es resultiert entweder ein höherer Kälte- oder Wärmeverbrauch als davor.
Gautschi: Es ist wichtig, dass der Energiemanager die verschiedenen Zentralen untereinander koordiniert. Das System ist in dieser Hinsicht sehr flexibel.
Häusermann: Die Bilanz müssen wir kontrollieren. Es macht keinen Sinn, nach einem Jahr schon auf Tendenzen zu reagieren, das System ist sehr träge.

Über die Jahre sollten Energiebedarf und -eintrag ungefähr gleich sein. Wie würden Sie reagieren, falls die Sonden das Erdreich langsam abkühlen?
Gautschi: Dann braucht es einen Plan B, zum Beispiel weitere Quellen, die man einbeziehen kann. Oder man reduziert die Entnahme aus dem Netz. Oder man versucht, im Sommer hohe Temperaturen in den Erdspeicher einzulagern. Bei der ETH haben wir eher das Problem, dass die Abwärme jedes Jahr zunimmt.

Heisst das, Sie könnten das Erdreich aufwärmen?
Gautschi: Ja. Deshalb versuchen wir, weitere Nutzer ans System zu hängen, um eine saisonal verlagerte Kühlmaschine zu erwirken.
Häusermann: Wir möchten am Ende der Heizperiode ein kaltes Netz, damit wir die Kälte im Sommer zur Kühlung einsetzen können. Und am Sommerende möchten wir wieder ein warmes Netz, damit die Wärmepumpen mit guten Wirkungsgraden laufen. Diese Schwankung ist gewollt.

Was war das Spannendste an dem Projekt?
Gautschi: Etwas Neues entwickeln zu dürfen. In der Strategieentwicklung waren wir völlig frei. Es war sehr spannend zu schauen, mit welcher Software wir das berechnen könnten, weil es auf dem Markt nichts gab. Wir sind dauernd daran, verschiedene Ansätze zu konsolidieren, um dann wirklich einmal ein funktionierendes Programm zu haben, mit
dem wir Gesamtsysteme simulieren können. Heute kann man Speicher und Ringleitungen simulieren, aber die Bidirektionalität, die Dynamik ist nicht ganz einfach abzubilden.
Wir glauben, dass wir auch in Zukunft die Flüsse im Anergienetz selbst nicht genauer simulieren müssen. Wichtig sind der Druckverlust und die Grösse der Erdspeicher, wie auch der dynamische Abgleich der verschiedenen Cluster, inklusive der richtigen Dimensionierung der Pumpenanlagen. Da reden wir nicht von klar definierten Betriebskennlinien, sondern es gibt einen Bereich, in dem die Pumpe funktionieren muss (vgl. «Maschen und Knoten»).
Häusermann: Es ist spannend, wenn man auf einem Areal mit einer so hohen Energiedichte Wärme und Kälte benötigt. Mit diesem System haben wir die Möglichkeit, die Wärme zu verlagern und sie dann zu verwenden, wenn sie gebraucht wird. Wir haben unterschiedliche Temperaturniveaus und können sie so kombinieren und vernetzen, dass wir ihr Potenzial maximal ausnutzen. Und jetzt haben wir Monitoringdaten aus zweieinhalb Jahren, die nachweisen, dass das System vielleicht sogar noch besser funktioniert als berechnet.

TEC21, Fr., 2015.08.21

21. August 2015 Nina Egger

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