Editorial
Komfort, Kommerz, Kontrolle
Der Fussball hat sich in den letzten zwanzig Jahren zu einem florierenden Wirtschaftszweig entwickelt. Die weltumspannende Vermarktung für die Massen vor den Fernsehgeräten hat drastische Konsequenzen für die wenigen Zuschauer in den Stadien. Im Zuge der Umwälzungen verändern moderne Fussballarenen den Sport und die Besucher.
Es geht zurzeit so einiges verloren, was für den Fussball und beim Besuch eines Fussballspiels bis vor kurzem wichtig und schön war. Es fehlt plötzlich die physische Dichte der alten Stehplatzrampen – die Individualität und Bewegungsfreiheit ist in reinen Sitzplatzsektoren stark eingeschränkt. Verloren gehen spontane und unvorhersehbare Elemente, verloren geht eine verbale (Schmäh-)Kultur. Die Fans, in ihrer ursprünglichen Form, Teilnehmer am Spektakel, werden von den Clubs und den Stadionmanagern zu Statisten degradiert. Statisten, die bei Spielbeginn artig mit den Sponsorenfähnchen zu wedeln haben, die als perfekte Kulisse und Inszenierung für die lukrative TV-Übertragung herhalten müssen. Von der Masse wird erwartet, dass sie ihre Rolle perfekt spielt.
Zuschauer werden in modernen Arenen in erster Linie als Konsumenten behandelt. Die Stadien verfügen über interne, bargeldlose Zahlungssysteme. Mit herkömmlichem Geld kann man oft nichts mehr kaufen. Statt dessen regiert der Ajax-Dollar und die Schalke-Karte. Die Sportvereine werden von ihren Marketingexperten mehr und mehr gleichgemacht. Durch die Angleichung der Stadien an geltende Uefa- und Fifa-Standards (Sicherheit, Vermarktung, Catering, Komfort) ist eine Homogenisierung des Fussballspiels auszumachen. Ein Stadion gleicht dem anderen, ein Spielbesuch dem nächsten.
Architektonisch sind heutige Stadien eher geschlossene als offene Bauten. Die Dächer ziehen sich weit oben über dem Feld fast zu einer Halle zusammen. Die Weite und Offenheit der älteren, ungedeckten Stehplatzrampen ist nicht mehr gefragt. Auch eine örtliche Verschiebung ist auszumachen. Statt wie früher mitten in den Arbeiterquartieren, befinden sich Stadien heute von der Umwelt abgekapselt weit draussen vor den Städten. Im Gegensatz zu den zwei im Heft vorgestellten Stadien in Berlin und Leipzig werden die neuen Stadien für die grossen Euro- und WM-Turniere häufig an Orte gepflanzt werden, die nach den grossen Meisterschaften keine adäquate Verwendung mehr finden.
Doch wundern muss man sich über die Veränderungen nicht. In den Stadien ist ja bloss eine Verdichtung der sonstigen gesellschaftlichen Entwicklungen zu beobachten. Die verstärkte Kontrolle der Bevölkerung, die sich im Stadion durch omnipräsente Überwachungskameras, personalisierte Tickets und Wegweisungsgesetze manifestiert, ist ebenso wenig ein fussballspezifisches Phänomen wie die verstärkte Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen. Und die überhöhte Kommerzialisierung und «Mediatisierung» durchdringt alle Lebensbereiche des modernen Menschen, nicht nur seine Fussballwelt.
Saro Pepe, Betriebsleiter der Fussball- und Kultur-Bar «Flachpass» im Zürcher Stadion Letzigrund, das am 1. September 2006 abgerissen wird und einem Neubau weichen muss.
Inhalt
Olympiastadion Berlin
Anna Maria Odenthal
Die Sanierung und Modernisierung des ideologisch belasteten Berliner Olympiastadions bewahrte auch dessen Umgebung vor dem weiteren Verfall.
Leichte Überdeckung
Katinka Corts
Für das Berliner Stadion forderte die Fifa eine Tribünenüberdachung, der Denkmalschutz die Bewahrung der Sichtachsen im Stadion. Die Architekten von Gerkan, Marg und Partner entwickelten eine leichte Kragarmkonstruktion.
Zentralstadion Leipzig
Katinka Corts
In den aus Kriegstrümmern gebauten Stadionwall von 1955 setzten die Basler Architekten Wirth+Wirth behutsam einen Neubau für die WM ein.
SIA: Umsicht - Regards - Sguardi
Charles von Büren
Der SIA will zeigen, wie er und seine Mitglieder als Gestalter einer
nachhaltigen Entwicklung handeln. Dazu hat er eine Auszeichnung
ausgeschrieben.
Blickpunkt Wettbewerb
Neue Ausschreibungen und Preise / Das Ende der Briefämter: Schanzenpost in Bern / Diskret: Kantonalbank in Zug
Magazin
Rund um den Fussball / Museen im 21. Jahrhundert / Le Corbusier, der Künstler / Sonnenenergie für Mehrfamilienhäuser / Schwarzstäube und Brandruss / Meisterleistungen mit Holz / Führung Saffa-Haus / In Kürze
Aus dem SIA
LHO 2003 als Chance / Einigung beim Bundesgesetz über die Geoinformation / Vernehmlassungen zu SIA 105 und SIA 144 / Vorteilhafte Normenabonnemente
Produkte
Impressum
Veranstaltungen
Leichte Überdeckung
Für die Überdachung des Olympiastadions Berlin mussten die Architekten eine funktionale und denkmalgerechte Lösung finden. Die Öffnung des Daches auf einer Seite ist dank einer speziellen Tragarmkonstruktion möglich und gibt den Blick zum Maifeld frei.
Den Sanierungs- und Umbauwettbewerb für das Berliner Olympiastadion für die Fussball-WM 2006 gewannen die Architekten von Gerkan, Marg und Partner (gmp) und das Ingenieurbüro Krebs und Kiefer 1998. Die Bauaufgabe erforderte den sensiblen Umgang mit dem historisch belasteten Stadion, das für die Olympiade 1936 gebaut worden war. Zudem musste eine Balance zwischen Bestand und neuer Architektur gefunden werden. An den Umbau des Stadions gab es viele Anforderungen: Der Oberring sollte saniert, der Unterring für 76000 Sitz- und 4000 Stehplätze umgebaut werden. Gemäss dem Fifa-Reglement1 musste eine Tribünenüberdachung erstellt werden. Erschwert wurde die Sanierung durch die Ausführung der Bauarbeiten bei laufendem Spielbetrieb im Stadion. In der kompletten Bauzeit (2000-2004) musste gewährleistet sein, dass für alle Bundesligaspiele zu jeder Veranstaltung 55000 Plätze zur Verfügung standen, für das jährlich im Mai traditionell in Berlin stattfindende DFB-Pokal-Endspiel sogar 70000. Die Baumassnahmen mussten also genauestens in zeitlich versetzte Bauabschnitte aufgeteilt und für die Veranstaltungen angepasst werden.
Ein neues Dach
Eine der anspruchsvollsten Bauaufgaben bei der Sanierung war die Vollüberdachung aller Tribünenplätze. Für die Fussball-Weltmeisterschaft 1974 war das Stadion leicht modernisiert worden. Am auffälligsten waren damals die neuen Teilüberdachungen für die Nord- und die Südtribüne, die von Architekt Friedrich Wilhelm Krahe entworfen worden waren. Denkmalpflegerisch waren sie sehr umstritten, da sie das Stadionoval in seiner Erscheinung stark beeinflussten. Mit der Bewerbung Berlins für die Olympischen Spiele 2000 entstanden neue Entwürfe für den Umbau und die Überdachung, die aber nach dem Ausscheiden Berlins verworfen wurden. Beim Umbau für die Fussball-Weltmeisterschaft 2006 konnten die Ingenieure Krebs und Kiefer nicht auf eine Konstruktion aus Druck- und Zugring für die Dachkonstruktion zurückgreifen, da die Sichtachse zwischen Stadioninnerem und Glockenturm nicht gestört werden sollte. Pylonen und Seilabspannungen im Aussenraum des Stadions waren seitens der Denkmalpflege nicht erlaubt. Doch auch die Stützen des Daches, die sich folglich auf den Tribünen befinden mussten, durften nur eine geringe Sichtbehinderung für die Zuschauer sein. Die Ingenieure erarbeiteten ein umlaufendes Tribünendach, das dank der leichten Kragarmkonstruktion aus Stahl im Bereich des Marathontores unterbrochen werden konnte. Die Haupttragstruktur besteht aus 76 radial ausgerichteten Fachwerkbindern, die mit tangential verlaufenden Unterstützungsträgern verbunden sind. Die Fachwerkträger sitzen auf 20 Baumstützen im Bereich der Tribünenanlage und 132 Aussenstützen oberhalb der mit Muschelkalk verkleideten Aussenpfeiler. 80 dieser Aussenstützen, die Radialbinder, die Baumstützen und der Randunterzug bilden ein Rahmensystem, das das Dach horizontal austeift. Die restlichen Aussenstützen sind Pendelstützen, in ihrem Inneren verlaufen die Entwässerungsrohre des Daches.
Die Binderpaare der Baum- und Aussenstützen wurden erst vormontiert und dann bis Mai 2004 von einem Kran aus in die Konstruktion gehoben, da Gerüste und Hebezeug im Stadion durch den laufenden Spielbetrieb nicht möglich waren. Alle Bauetappen wurden zwischengesichert und einzeln abgenommen. Die weite Auskragung des Daches zur Mitte des Stadions musste innerhalb der Dachkonstruktion ausgeglichen werden. Rückwärtige Verankerungen oder ein Durchbohren der Muschelkalkpfeiler waren seitens des Denkmalschutzes als Option ausgeschlossen worden. Der Querschnitt der 68 m spannenden Radialträger gleicht einem Flugzeugträger. Die maximale Konstruktionshöhe von 5.10 m liegt oberhalb der Stützen, an den Innen- und Aussenrändern des Daches ist sie auf ein dünnes Band minimiert. Die Träger wurden im äusseren Dachrand umlaufend mit einem dreieckförmigen Stahlbetonhohlkasten verstärkt, der jeweils hinter den Baumstützen zusätzlich mit Ortbeton verfüllt wurde.
Anhand eines Modells wurde das Lastverhalten der im Grundriss 300u230 m grossen Dachhaut im Grenzschichtwindkanal der Fachhochschule Aachen2 untersucht. An 450 Druckmessstellen konnten die Lastanfälligkeit für jede Windrichtung sowie Windstärken zwischen 13 m/s und 45 m/s bestimmt werden. Mit den Ergebnissen konnte ein leichtes Tragsystem für die Dachhaut konstruiert werden, das sich weder aufschwingt noch flattert. Gebäudefugen trennen die Last-abtragkonstruktionen voneinander, damit deren Lage sich bei Temperatureinwirkung nur wenig verändert. Auftretende Zwängungen im Dach werden durch radiale Bewegungsfugen im inneren und äusseren Dachbereich minimiert. In den Untergurt wurden neben der Beschallung auch Ketten von Leuchtstoffröhren integ-riert, die das Oberdach anstrahlen und die Tribünen indirekt beleuchten. Dank dem integrierten Lichtband im inneren Oval konnten die bisherigen Pylonen der Flutlichtanlage und die Lautsprechertrichter im Aussenraum entfernt werden.
Dachmembran
Die optische Leichtigkeit verdankt das Stadiondach der filigranen, grobmaschigen Stahlkonstruktion und der transluzenten und transparenten Dachhaut. Im inneren Dachrand wurde auf einer Fläche von 6000 m² punktgelagertes und teilvorgespanntes Verbundsicherheitsglas verwendet und damit das feingliedrige Tragwerk noch stärker betont. Über den Tribünen sollten die Dachmembrane unauffällig sein und Dachober- und -unterseite verkleiden. Die Lichtverhältnisse im Stadion durften dabei nur gering beeinträchtigt werden.
Für die 55000 m² Dachober- und -unterseite kamen schliesslich ungebleichte und alterungsbeständige Glasfasermembrane mit PTFE-Beschichtung zum Einsatz. Die Unterseite ist schalldurchlässig für die integrierte Tonanlage, der Zuschauer kann ausserdem die beleuchtete Stahlkonstruktion im Inneren des Daches sehen. Im Dachzwischenraum liegen auch die Erschliessungsstege für Wartung und Reinigung. Halterungen für die technische Ausstattung wurden ebenso eingebaut.
Die erst bräunliche Dachmembran bleicht mit der Zeit aus, sie hellte schon während der Bauzeit auf.
Die robuste Membran sollte theoretisch selbst beim Beschuss mit Feuerwerkskörpern keine Brandspuren davontragen. Die jetzige Gestaltung des Daches ist entsprechend den Anforderungen der Denkmalpflege von aussen sehr unauffällig und verändert den historischen Bau in seiner Wirkung kaum. Im Stadioninneren hebt sich die feingliedrige Konstruktion deutlich vom historischen Gebäude ab.TEC21, Fr., 2006.06.09
[1] „Technische Empfehlungen und Anforderungen für den Neubau oder die Modernisierung von Fussballstadien“.
Download: Fifa.com > Regelwerk und Listen > Wettbewerbsregeln > Datenblatt.
[2] Institut für Industrieaerodynamik, Grenzschichtwindkanal der Fachhochschule Aachen, www.fh-aachen.de/2067.html.
09. Juni 2006 Katinka Corts-Münzner
verknüpfte Bauwerke
Olympiastadion - Umbau