Editorial

Im Wohn- und Bürobau kommt Bau­stahl in der Schweiz selten zum Einsatz. Diese Bauweise stellt hohe Anforderungen hinsichtlich Brandschutz und Bauphysik. Doch eine Handvoll be­geisterter Planer traut sich zu, das Potenzial des Materials immer wieder neu auszuloten. Ingenieure schätzen seine statische Effizienz, sein zuverlässiges Verhalten und die präzise Ausführbarkeit der damit er­stellten Bauten. Architekten gefallen die filigranen Tragskelette, die ihnen Spielraum für mehr Transparenz oder Flexibilität verschaffen. Nicht zuletzt sind Stahlbauten einfach schön!

In diesem Heft erläutern wir kurz, inwiefern die revidierten Brandschutzvorschriften das Bauen mit sichtbar gelassenem Stahl verändern.

Analog zu TEC21 51–52/2014 «Holzbau nackt» stellen wir zwei Neubauten vor, die die Vorteile der Stahlbauweise ausreizen und die dem Material innewohnende Ästhetik inszenieren. Darunter das neueste gemeinsame Werk des Planerteams Christian Kerez und Dr. Joseph Schwartz Consulting. Ähnlich wie beim ­Schulhaus Leutschenbach in Zürich (vgl. TEC21 44/2009) entwickelten sie auch hier eine ­hoch­individuelle, massgeschneiderte Lösung.

Einen alternativen Weg beschreiten 2bm architekten, indem sie das standardisierte Baukastensystem Midi-Armilla von Fritz Haller aus den 1980er-Jahren weiterentwickeln.

An ihrem Neubau zeigt sich exemplarisch, dass jedes System an neue Gegebenheiten – wie erhöhte Anforderungen an Tragwerk und Gebäudehülle – angepasst werden muss.

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ein Pokal der Vernunft

12 PANORAMA
Eleganz auf dem Land, neuer Glanz in der Stadt

14 VITRINE
Neues aus der Bauindustrie | Weiterbildung

16 EINSTEHEN FÜR FAIRE HONORARE
Neue Register Betonstahl und Bewehrungsmatten | Schweizer Entsprechungen zu Eurocodes | Publikationen des SIA 2015 | Konsequenzen des «Franken-Schocks»

21 VERANSTALTUNGEN

22 BAUKASTEN AUF DEM PRÜFSTAND
Lucia Gratz
2bm architekten interpretieren Fritz Hallers modulare Stahlbauweise aus den 1980er-Jahren neu.

26 STAHLBAU TROTZ BRAND
Patric Fischli-Boson, Mario Fontana
Dank neuen Brandschutz­regelungen werden sichtbare Stahlbauten wirtschaftlicher.

27 BALLETT DER KRÄFTE
Thomas Ekwall
Das ausgestellte Tragwerk des MFH Krönleinstrasse trägt die transparenten und stützenlosen Innenräume.

30 VERSTÖREND RADIKAL
Hubertus Adam
Die Architektur des MFH Krönleinstrasse wirkt im Spannungsfeld zwischen leichtem Raum und schwerer Stahlkonstruktion.

AUSKLANG
35 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Baukasten auf dem Prüfstand

Die SBB-Ausbildungsstätte von 2bm architekten in Murten zeigt exemplarisch, was es bedeutet, mit dem System Midi-Armilla von Fritz Haller nach heutigen Anforderungen zu bauen.

Vor ein paar Jahren wurde es in der ­Anlage des Centre Loewenberg bei Murten zu eng. Die SBB konnten ihren Bedarf an Schulungs- und Laborräumen nicht mehr über das bestehende Raumangebot abdecken.

Das Anfang der 1980er-Jahre erstellte Gebäudeensemble des Architekten Fritz Haller (1924–2012) wurde bereits 1995 durch einen Anbau modular erweitert. Aus logistischen und ökonomischen Gründen entschied sich die Bauherrschaft diesmal für einen separaten, zweigeschossigen Neubau. Um den identitätsstiftenden architektonischen Ausdruck des Ensembles beizu­behalten, machte man für den 2008 erstellten Neubau die Verwendung von Hallers Baukastensystem Midi- Armilla zur Auflage (vgl. Kasten S. 24).

Dieses ist jedoch als Gesamtsystem mit einer Vielzahl von Abhängigkeiten konzipiert und daher anfällig: ­Werden einzelne Bestandteile abgeändert, kann das aufwendige Updates zur Folge haben. Was bedeutet es deshalb konkret, 30 Jahre später damit erneut zu ­versuchen, systemspezifisch zu bauen?

Hochburg des modularen Bauens

Als die Schweizerischen Bundesbahnen 1973 den Gutsbesitz Löwenberg östlich von Murten erwarben, sollte die bestehende Anlage mit einem Ausbildungszentrum baulich weiterentwickelt werden. Ein Jahr später lobte die Bauherrschaft dafür einen dreistufigen Wettbewerb aus, den die Architektengemeinschaft Alfons Barth und Hans Zaugg zusammen mit dem nach der ersten Stufe hinzugezogenen Fritz Haller nach Überarbeitung für sich entscheiden konnte.

In gebührendem Abstand zum historischen ­Ensemble des herrschaftlichen Landguts betteten die Architekten vier auf ihre jeweilige Nutzung – Mensa, Schulung und Beherbergungen – abgestimmten Pavillonbauten in den Landschaftspark englischer Prägung ein. Die Bauwerke sollten den Entwicklungen eines sich laufend erneuernden Lehrbetriebs offenstehen – eine wandelbare Schule für die Menschen in einer von Technik geprägten Unternehmung.

Mit diesen Grundgedanken stellte Fritz Haller die Verbindung zu den damals thematisierten Vorzügen des modularen Bauens her. Erweiterbare Gebäude und flexible raumbildende Elemente wurden genauso gross geschrieben wie ein zügiger Bauprozess. Dieser basierte auf einer exakten Planung von im System ­gedachten und industriell gefertigten Bauteilen. Die Aufgabe nahm er zum Anlass, das aus seinen Stahlbausystemen Maxi und Mini weiterentwickelte System Midi zur Umsetzungsreife zu führen.

Spezifisch statt systemisch

Die Nachfolger von Fritz Hallers Architekturbüro, 2bm architekten aus Solothurn, setzten die Bauaufgabe nach heutigen Anforderungen um. Neben ihrem theoretischen Wissen zum Stahlsystembau besitzen sie aufgrund ­ihrer Unterhaltskonzepte für die Gesamtanlage zusätzlich Erfahrung mit den bestehenden Bauten.

Bei der jüngsten Anwendung von Midi handelt es sich um ein Einzelbauwerk. Daher wurde die konkrete Bauaufgabe nicht zum Anlass genommen, ein komplexes System-Update zu erstellen. Systemspezifisches Bauen setzt ein statisch redundantes Stahltragwerk voraus (Abb. unten), das in seiner Herstellung aufwendig und materialintensiv ist. Seit die Firma USM aus Münsingen ihr Stahlbausegment Anfang der 1990er-Jahre einstellte, werden Midi-Komponenten nicht mehr industriell produziert. Die Fertigung der Stahlkonstruktion er­folgte deshalb auf traditionelle Art in einer Stahlbauwerkstatt.

Dazu kam die Frage nach der Kompatibilität im Rahmen des Gesamtsystems, das neben dem Tragwerk alle Bauteile beinhaltet, die den Raumabschluss gegen aussen und innerhalb des Gebäudes herstellen. Zu überarbeiten waren hier die Anschlüsse an die neu entwickelte Aussenhaut sowie die inneren Elementwände.

Aktualisierung mit Folgen

Das 45.60 × 13.47 m grosse Schulungsgebäude besteht aus zwanzig Längs- und sechs Querachsen mit einem Abstand von je 2.4 m. Für das Sonderelement der Schotten, die die Doppelträger verbinden, musste eine geschweisste Ausführung gewählt werden, da das Formwerkzeug von USM nicht mehr aktiviert werden konnte. Speziell für dieses Projekt wies der Bauingenieur die Konformität des Systemtragwerks mit den heutigen Vorschriften zur Erdbebensicherheit nach.

Werden heute Bauten und Pläne der 1980er-Jahre überarbeitet, ist die Reduktion des Energieverbrauchs ein wichtiges Thema. Die Fassadenplanung wurde deshalb besonders sorgfältig angegangen; eine wesentliche Rolle fiel der Wahl der neuen Verglasung zu. Die Bestandsbauten von Fritz Haller präsentieren sich mit einer fili­gran in Chromstahl gefassten Glashaut. Beim Neubau behielten die Architekten den originalen Ausdruck bei und erhöhten lediglich die Schichtdicken der Bauteile. Den notwendigen Wärmeschutz erreichten sie mittels einer Dreifachverglasung sowie durch die Absenkung des Energiedurchlassgrads im Glas von 50 % auf neu 15 %. Dies wirkt entscheidend auf die ­Transparenz der Fassade (Abb. S. 22).

Auch im Innern des Gebäudes wurden die Systemkomponenten aufgrund der heute gültigen baulichen Vorschriften überarbeitet. Wegen des Brandschutzes wurden die Stahl-Rundrohrstützen mit Beton ausgegossen. Das Treppenhaus fungiert als separater Brandabschnitt EI60 und hat eine abgehängte Metalldecke samt vertikaler Abschottungen im Deckenhohlraum. Aufgrund der Vorgabe EI30 «nicht brennbar» wurde in den übrigen Räumen das Stahltragwerk sichtbar gelassen (Abb. oben). Die Elementwände wurden hinsichtlich Schallschutz und Installierbarkeit angepasst.

Die integrierte Planung der Gebäudetechnik führten die Architekten gemäss den Bauten von 1982 mit dem Installationsmodell Armilla durch (Abb. S. 23 unten). Dessen sichtbare, fein auf das Tragwerk abgestimmte Leitungsführung korrespondiert mit der Produktpalette und den Querschnitten heutiger Medien jedoch weitaus weniger. Kurt Breiter von 2bm archi­tekten relativiert allerdings: Bereits zu Hallers Zeiten war man froh, wenn 85 % der Vorgaben aus dem Systembaukasten anwendbar waren.

Systembau neu denken

Generell fällt beim Neubau auf, dass jede Veränderung der im Baukastensystem definierten Rahmenbedingungen – infolge aktualisierter Vorschriften oder des Stands der Technik – eine objektspezifische statt eine systemspezifische Lösung zur Folge hat.

Unbeantwortet bleibt die Frage, ob, wer mit Haller baut, auch wie Haller bauen muss. Beim Schulungsgebäude der SBB konnte das Potenzial des Stahlbausystems aufgund eines länglich schmalen Grundrisses nicht ausgereizt werden. Gleichzeitig liessen sich die Architekten nicht auf das Wagnis ein, Neuerungen architektonisch kenntlich zu interpretieren. Die Analogie zu den bestehenden Bauten zeigt sich deshalb vor allem an der Oberfläche – ein überzeugendes Raumgefühl, gar mit heutigen Bezügen angereichert, bleibt aus.

Dass die Erkenntnisse der Boomjahre des Systembaus aus dem heutigen Baugeschehen nicht wegzudenken sind, zeigt insbesondere der Fortschritt im Holzbau. Die Vorzüge des Bauens mit Stahl sind unbestritten, doch werden sie nie in der Bildung des Raumabschlusses liegen können. Die Entwicklung im sichtbaren Stahlbau ist deshalb nicht nur bei modularen Bauten weiterhin eng mit der Wahl des Partners im Bereich der Baumaterialien verknüpft.

TEC21, Fr., 2015.03.13

13. März 2015 Lucia Gratz

Stahlbau trotzt Brand

Seit Januar gilt die neue Brandschutzverordnung (BSV 2015). Das Stahlbau Zentrum Schweiz zeigt mögliche Strategien im Umgang mit dem Brandfall.

Mit der Revision der Brandschutzvorschriften der Vereinigung Kantonaler Feuerversicherungen (VKF) werden die Brandschutzauflagen in Bezug auf den Sachwertschutz minimiert. Die damit einhergehende Liberalisierung der Vorschriften widerspiegelt den Rückgang der Brandauswirkungen: In den vergangenen 15 Jahren gingen die Todesfälle infolge Brand um 38 % und die Schadenssummen um mehr als 20 % zurück.

Die neuen Brandschutzrichtlinien beeinflussen unter anderem die Stahlbauweise. Diverse Erleichterungen wirken sich positiv auf die Wirtschaftlichkeit von Stahlbauten aus, verlangen aber auch mehr Eigenverantwortung von den Planern.

Neue objektbezogene Brandschutzkonzepte

Die neuen Brandschutzverordnungen bieten insbesondere zwei Vorgehensweisen zur Erfüllung der Vorschriften an: Ungefähr 90 % der Gebäude können durch ­normative Standardkonzepte bearbeitet werden. Andererseits sind schutzzielorientierte Konzepte möglich, bei denen die übergeordneten Schutzziele gleichwertig erreicht und nachgewiesen werden müssen. Gerade hier lässt die BSV 2015 neue Verfahren zu, die insbesondere bei Einkaufszentren, grossen Industrie- und Gewerbebauten sowie Spitälern zur Geltung kommen. Sie werden von zwei neuen Brandschutzricht­linien «Qualitätssicherung im Brandschutz» und «Nachweisverfahren im Brandschutz» geregelt.

Mit dem objektbezogenen Konzept kann das effektive Gefährdungspotenzial besser erfasst werden. Anhand der «ISO-Normbrandmodelle» oder dem «Naturbrandmodell» kann ein akzeptables Versagensrisiko für die gesamte Branddauer erreicht werden. Dies ist insbesondere für grosse Räume mit geringer Brandlast wie Aulen, Atrien oder grosse Versammlungsräume interessant. Die Brandlast wird mittels mathematischer Modelle (Zonen- oder Feldmodell) errechnet und die Phänomene wie Verbrennungsprozesse, Brandausbreitung, Wärmetransport, Rauchgasmenge und Rauchausbreitung berücksichtigt. Auf Grundlage dieser Modelle lassen sich lokale und globale Temperaturwerte er­mitteln, das Verhalten von Bauteilen und Baustoffen analysieren, die Rauchausbreitung beschreiben und nicht zuletzt die Gefährdung von Personen einschätzen. Eine weitere Optimierung des Konzepts ist möglich, indem die Membrantragwirkung von Stahlbetonverbund­decken aktiviert wird (vgl «Toni-Areal Zürich», TEC21 39/2014, S. 25).

Dank dieser Tragwirkung (Fliessgelenk­linienmethode) kann ein grosser Teil der Sekundär­träger ungeschützt belassen werden, was bis zu 40 % der Brandschutzkosten einspart.

Strategien im sichtbaren Stahlbau

Ein grosses Bedürfnis der Architekten ist und bleibt die Möglichkeit, den Stahl in seiner ursprünglichen Erscheinung zu zeigen. Dieser Wunsch kann bei günstigen Randbedingungen erfüllt werden.

Befreit von Brandschutzanforderungen sind nach wie vor Einfamilienhäuser, eingeschossige Hallen sowie die jeweils obersten Stockwerke. Bei mehrgeschossigen Bauten gibt es verschiedene Strategien, die von Löschkonzepten, Verbundbauweisen, duktilen und redundanten Tragsystemen bis hin zu dämmschichtbildenden Anstrichen (1K/2K) reichen.

Bei dicken Profilwandstärken und Bauteilen mit geringer Beanspruchung wird die Feuerwiderstandsdauer erhöht. Die Bemessung kann mit dem vereinfachten Verfahren der Euro-Nomogramme erfolgen. Wirtschaftlich ist dieses Verfahren für Elemente bis R30. Neu ist die Anrechnung von Löschkonzepten erlaubt: Die Brandschutzanforderung an das Tragwerk kann um 30 Minuten reduziert werden, wenn ein Löschkonzept in Form einer Sprinkleranlage vorhanden ist.

Damit lässt sich die Dicke dämmschichtbildender Schutz­anstriche reduzieren, was eine geringere Trocknungsdauer und kürzere Bauzeiten zur Folge hat. Neue Zwei-Komponenten-Anstriche werden bereits im Werk aufgetragen, sodass keine Beschichtungsarbeiten vor Ort anfallen. Bei geeigneten Konstruktionen kann das Gesamttragverhalten den Ausfall oder die Schwächung ­eines Bauteils im Brandfall kompensieren. Eine zeit­gemässe Auseinandersetzung mit dem Material Stahl anhand dieser Strategien lohnt sich.

TEC21, Fr., 2015.03.13

13. März 2015 Patric Fischli-Boson, Mario Fontana

4 | 3 | 2 | 1