Editorial

In der Schweiz sind die Strassen oftmals enger, die Autos breiter, schwerer und schneller als anderswo, und der viel beschworene Dichtestress ist nicht nur in der S-Bahn fühlbar, sondern auch im Strassenverkehr. Die Strasse ist daher in der Schweiz ein ideologischer Kampfplatz: Geht es um die freie Fahrt, kippen die Debatten oft ins Irrationale. Und die Lobby-Vertreter – Auto- oder Velofahrer, ÖV-Planerinnen und Behinderte – verbeissen sich in die Durchsetzung ihrer partikularen Einzelinteressen. Die Schweiz hält ihre Infrastruktur in perfektem Zustand: Milliarden werden jedes Jahr in die Erneuerung und den Ausbau der Strassen und der unterirdischen Leitungsnetze investiert. Wenn auch nur ein kleiner Teil dieser Summen – und der damit verbundenen Planungsarbeit – der Verbesserung der Lebensbedinungen und der Gestaltung zugute käme, argumentiert die Zürcher Landschaftsarchitektin Jacqueline Parish, würden Städte und Ortschaften ein ganz anderes Bild abgeben. Der enorme Hebel der Tiefbauinvestitionen wird in der Schweiz noch viel zu wenig zur Schaffung von gestalterischer Qualität genutzt. Wir zeigen gelungene Ansätze und ergänzen sie durch zwei ganz anders geartete Blicke auf den öffentlichen Raum in Kyōto und in Lausanne.

Inhalt

Marie Bruun Yde und Maximilian Müller
Mobilität als Erlebnis
Kopenhagens Konzepte für den Langsamverkehr

Simon Tanner
Verwilderung
«Lausanne Jardins» – ein fotografischer Essay

Christian Tschumi
Konvention und Ausnahme
Der Umgang mit öffentlichem Raum in Japan

Caspar Schärer, Corina Flühmann (Bilder)
Das Wunder von Wiedikon
Die (fast) unglaubliche Geschichte der Weststrasse in Zürich

Fritz Kobi
Koexistenz im Verkehr
Das Berner Modell

Jürg Dietiker
Kopernikanische Wende
Ortsdurchfahrt St. Imier von RWB Jura

Zudem:
Debatte: Wozu Architekturtheorie? Der Zürcher Architekt und Theoretiker Hans Frei zeigt, wie Architekturtheorie zur Erneuerung der Architektur beitragen kann.
Wettbewerb: Ersatzneubau der Sekundarschule in Laufen BL. Im Siegerprojekt von Thomas Fischer erstreckt sich eine grosse, offene Lernlandschaft unter dem Sheddach.
Bauten: Kantonales Verwaltungszentrum 3 in Bellinzona von Luigi Snozzi und Snozzi Groisman & Groisman
Umbauten: Lorenzo Felders neuer Kern für ein Geschäftshaus in Lugano
werk-material 640: Casa Pico in Lugano von Angelo Bucci mit Baserga Mozzetti
werk-material 641: Wohnhaus in Uster von Wild Bär Heule Architekten

Das Wunder von Wiedikon

(SUBTITLE) Die (fast) unglaubliche Geschichte der Weststrasse in Zürich

Mit dem Bau der Umfahrungsautobahn im Westen der Stadt konnten in Zürich ganze Strassenzüge vom Transitverkehr befreit werden. Die Weststrasse hat sich vom «Auspuff der Nation» zu einer ganz normalen Quartierstrasse gewandelt.

Damit diejenigen, die nicht dabei waren, nachvollziehen können, was sich im dicht besiedelten Zürcher Stadtquartier Wiedikon abgespielt hat, müssen wir zunächst zurückblenden. Donnerstag, 30. April 2009: Auf der Weststrasse, einer vergleichsweise schmalen Quartierstrasse in Zürich-Wiedikon, stehen sie wieder mal zweispurig in der Kolonne, rechts die Lastwagen, links schleppen sich die Autos langsam vorwärts. In der Luft liegt ein konstantes Brummen und ein beissender Gestank nach Abgasen. Ein ganz normaler Tag an der Westtangente, die gar keine Tangente ist, sondern mitten durch die Stadt führt. Zwanzigtausend Autos pro Tag, mehrere Tausend Lastwagen, europäischer Transitverkehr. Auf der benachbarten Seebahnstrasse das Gleiche in der Gegenrichtung. Eine Russschicht überzieht die Häuser, die Mieten sind erschwinglich: Spöttisch und keineswegs mitfühlend wird die Weststrasse als «Auspuff der Nation» bezeichnet.

Vier Tage später, früher Morgen am Montag, dem 3. Mai 2009: Einige Kilometer westlich der Stadt gehen auf der neuen Autobahnumfahrung die Schranken hoch; zur gleichen Zeit senken sie sich an der Einfahrt zur Weststrasse für immer. Ab sofort ist sie nur noch einspurig befahrbar, während an der parallel verlaufenden Seebahnstrasse die Umbauarbeiten beginnen. Nachdem der gesamte Durchgangsverkehr auf diese neue innerstädtische Hauptachse verlegt ist, kann im August 2010 die Weststrasse endgültig gesperrt werden. Der anschliessende Rück- und Umbau verwandelt den Strassenraum für einige Monate in eine einzige lang gezogene Baustelle. Ab dem Frühling 2012 kehrt Ruhe ein an der Weststrasse; eine beinahe unheimliche Ruhe, wie sie es seit vierzig Jahren dort nur in den Nachtstunden gab.

Der Schlagbaum an der Weststrasse fiel nicht von alleine. Dahinter steht ein ganzes Bündel rechtlicher, verkehrstechnischer und städtebaulicher Planungen und Umsetzungen, die unter dem Begriff «Flankierende Massnahmen» zusammengefasst werden. Die Massnahmen gehören zum Projekt der Zürcher Autobahn-Westumfahrung. Sie beschränken sich nicht nur auf die Weststrasse: In den Stadtzürcher Quartieren Wiedikon, Aussersihl und Enge werden mehrere Strassenzüge – und mit ihnen die angrenzenden Wohnquartiere – über mehrere Kilometer vom Verkehr gründlich entlastet und wieder hergestellt. Der Bearbeitungsperimeter reicht bis an die Stadtgrenze auf dem Passübergang der Waldegg. Ausserdem wird im zuvor vom Durchgangsverkehr völlig überschwemmten Birmensdorf die Ortsdurchfahrt komplett redimensioniert und neu gestaltet. Insgesamt werden in der Stadt Zürich 55,6 Millionen Franken (1) investiert; zum Vergleich: die Westumfahrung als Ganzes kostet 2,85 Milliarden Franken.

Vor Gericht

In aller Deutlichkeit zeigt sich hier die an sich nicht überraschende Tatsache, dass der Bau einer Autobahn sehr weiträumige Auswirkungen hat. Die Rehabilitierung der verkehrsgeplagten Stadträume war jedoch keine Selbstverständlichkeit, im Gegenteil: Sie musste hart erkämpft werden – die Stadt Zürich ging dafür bis nach Lausanne: Aus dem Bundesgerichtsentscheid vom 3. April 1996 (2) wird ersichtlich, dass sich Kanton und Stadt im Grundsatz darüber einig waren, dass flankierende Massnahmen auf Stadtgebiet notwendig sind. Die entscheidende Differenz bestand in der Verbindlichkeit: Die Stadt (und mit ihr die Mitkläger VCS, WWF und Heimatschutz) pochte darauf, dass das Bauprogramm «Verkehrsberuhigende Massnahmen» zwingend in das Ausführungsprojekt «Umfahrungsautobahn» aufgenommen werde, der Kanton wollte das lediglich versprechen. Das Bundesgericht sah die Verbindlichkeit als zwingend an und bereitete damit das Terrain für das Schliessen der Schranken.

Nachdem der Kanton im November 2001 das Gesamtkonzept der flankierenden Massnahmen beschloss, machte sich die Stadt an die konkrete Umsetzung. Martin Waser, Zürcher Stadtrat von 2002 bis 2014, erkannte als Vorsteher des Tiefbaudepartements die Tragweite und Komplexität des Projekts und trieb es mit hoher Energie voran. Gerade in der Anfangsphase musste mit Hochdruck vorgegangen werden, erinnert er sich: Die Stadt wollte unbedingt den Eröffnungstermin (bzw. Schliesstermin) im Mai 2009 einhalten, für den sie in Lausanne gekämpft hatte. Da aber sämtlichen Betroffenen das Recht zu Einsprachen offen stand – und derer waren potenziell viele ! – mussten jene vier Jahre mit einberechnet werden, die derartige Rechtsgeschäfte in Anspruch nehmen können. Das Projekt mitsamt der Verkehrsplanung an etlichen neuralgischen Punkten der Stadt sowie der städtebaulichen Umsetzung in den Quartieren wurde in drei städtischen Departementen gleichzeitig bearbeitet. Das Wunder von Wiedikon hatte viele Mütter und Väter und erforderte Hartnäckigkeit, denn Zweifler und Störer gab und gibt es immer.

Die Rückführung

Bei der Gestaltung der wieder gewonnenen Strassenräume orientierte sich die Stadt an Standards, die sie im Verlauf der Nullerjahre erarbeitet hatte. Der grosse Fundus vorhandener Elemente (vom Strassenquerschnitt und -grundriss über den Randstein bis zur Parkbank und dem Verkehrsschild) wurde gesichtet, aussortiert, neu geordnet und klassifiziert. Grundlage dafür bildete eine Studie des dänischen Architekten und Stadtplaners Jan Gehl von 2004, in der die Stadträume nach ihrer Bedeutung differenziert werden: Räume von internationaler Ausstrahlung bedürfen einer anderen Gestaltung als Räume, die «nur» für ein Quartier wichtig sind.

Daraus leitet sich das weitere Vorgehen ab. Die Strassenzüge der Westtangente werden nicht wie eine Warenmarke durchgängig gestaltet, sondern je nach ihrer Bedeutung in das Gefüge der Stadt zurückgeführt. In dem Sinne soll möglichst nicht «gestaltet» werden, obwohl am Ende recht viel gestaltet wurde. Mit der Kreuz-und-quer-Möblierung des Strassenraums, wie sie in den 1980er Jahren praktiziert wurde, ist die Neuordnung der Westtangente jedoch nicht zu vergleichen. Die heutigen Grundsätze «Klärung», «Lesbarkeit» und «Orientierung» zeigen sich gerade an der Weststrasse beispielhaft: Der schnurgerade Strassenraum wird jetzt von zwei ebenfalls gleichmässig linear verlaufenden Randstein-Linien begleitet. Ein- und Ausbuchtungen sowie Trottoirnasen sind verschwunden; bei den Kreuzungen mit höher klassierten Strassen gibt es Überfahrten, die bis auf das Niveau des Trottoirs reichen. Andere, breitere Strassen erhielten doppelte Alleen und breite Trottoirs, vielerorts konnten sogar zusammenhängende Flächen als kleine Plätze ausgeschieden werden. Sie ordnen sich sehr selbstverständlich in das Kontinuum der Stadträume ein, auch wenn sie noch nicht intensiv genutzt werden – es gibt sie ja auch erst seit zwei Jahren. Verglichen mit den vierzig Jahren Verkehrslawine ist das erst ein kurzer Moment.

werk, bauen + wohnen, So., 2014.10.12

Buchhinweis:
Die Fotografin Corina Flühmann arbeitet seit 2007 an einer fotografischen Langzeitbeobachtung der Zürcher Weststrasse. Die Publikation erscheint im Frühjahr 2015 in der Edition Patrick Frey.

Fussnoten:
(1) Kostenteiler: 60% Bund, 24% Kanton, 16% Stadt Zürich
(2) BGE 122 II 165 (1996)

12. Oktober 2014 Caspar Schärer

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