Editorial

Rem Koolhaas hat die Moderne zum Leitmotiv der diesjährigen Architekturbiennale Venedig erhoben: «Absor­bing Modernity» lautete das Motto, das er den Länderpavillons als kleinsten gemeinsamen Nenner vorgegeben hatte. Der Blick richtet sich auf die Veränderungen, die die ­Moderne in Gesellschaft und Architektur hervorgerufen hatte.

Doch wie steht es um die Gebäude der Moderne selbst und den Umgang mit ihnen? Die Weissenhofsiedlung in Stuttgart gehört noch immer zu den Wallfahrtsorten der Moderne-Pilger. Dort sind die Originale der damaligen Avantgarde zu besichtigen. Wie aber soll man mit den Meisterhäusern in Dessau umgehen, die entweder ­komplett zerstört wurden oder von denen bloss das Kellergeschoss übrig blieb? Würde man dem Werk von Walter Gropius und László Moholy-Nagy mit einer «rekonstruierten Fälschung» gerecht ­werden?

In Dessau hat man sich für eine Neu­interpreta­tion entschieden und damit einen Weg eingeschlagen, bei dem das historische Erbe und die Gegenwart vielschichtig mitein­ander verschmelzen.

Ganz anders in der Winterthurer Siedlung Leimen­egg von Architekt ­Hermann Siegrist, wo ein baufälliges Haus erneuert wurde: Akribisch und beharrlich erweckte der neue Bewohner – selbst Architekt – das Gebäude zu neuem Leben.

So unterschiedlich die beiden Ansätze sind: Am Ende des Wegs stehen drei Ikonen der ­Moderne. Die eine im Original, die anderen als poetische Umsetzung ihrer Idee.

Susanne Frank, Marko Sauer

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Bündner Bogenbrückenbau in Bewegung

10 PANORAMA
Neue Bücher | Hochfester Beton – Umsicht im Brandfall | Drei Leben für das Würfelschloss | Üben, vorbereiten, aufführen | Thun-Panorama wiedereröffnet

16 VITRINE
Wohnen in klassischer Moderne | 20. Herbstseminar der BauHolzEnergie-Messe

19 POTENTIAL INLÄNDISCHE ARBEITSKRÄFTE
Teilrevision der Norm SIA 261 | Photovoltaik bald obligatorisch? | Architektur zum Sprechen gebracht

25 VERANSTALTUNGEN

26 HOMMAGE AN EINEN VERGESSENEN
Marko Sauer
Die Renovation eines Hauses eröffnet einen neuen Blick auf Hermann Siegrist und seine Siedlung an der Leimenegg­strasse in Winter­thur.

30 LEBEN MIT DER MODERNE
Arthur Rüegg
Ein einzigartiges Zeitdokument des befreiten Wohnens: die moderne Avantgarde in Winterthur.

33 NEUBAUHAUS
Jürgen Tietz
Wie viel Gegenwart hat Platz in der Geschichte? Die Rekonstruktion der Meisterhäuser in Dessau

38 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Hommage an einen Vergessenen

Hermann Siegrist legte in den 1930er-Jahren einen avantgardistischen Wurf hin, danach verschwand er in der Versenkung. Eine Renovation lässt sein Hauptwerk neu erstrahlen und ruft sein Talent in Erinnerung.

Zum Abschluss der Sanierung im Oktober 2013 erhielt Benjamin Widmer ein besonderes Geschenk: Seine Freunde haben dem jungen Architekten den Rindsohrhaar­pinsel eingerahmt, mit dem er die Wände im Innern seines Hauses gestrichen hatte. Eine äusserst zeitraubende Tätigkeit, doch Widmer wollte den Duktus der Hand auf dem Anstrich der Ölfarbe sehen. Die Farbe mit einem Roller aufzutragen hätte zu einer homogenen Oberfläche geführt, und um einen Maler damit zu beauftragen, fehlten ihm die Mittel. Der zierliche Pinsel steht für die Mühen der letzten Jahre. «Gut, dass ich nicht von Anfang an wusste, wie viel Arbeit bei dieser Sanierung auf mich zukommt», kommentiert Widmer die Schinderei. «Rückblickend muss ich sagen: Ich würde es nicht mehr ­machen.» Eine Koketterie, die man oft zu hören bekommt. Doch Benjamin Widmer meint es ernst. Dabei hat nur er selbst sich angetrieben – und mit unerbittlicher Akribie ein Schlüsselwerk der frühen Schweizer Moderne in Winterthur wieder zum Leben erweckt.

Die Siedlung des Architekten Hermann Siegrist aus dem Jahr 1932 liegt zwischen der Leimeneggstrasse und der Bahnlinie Richtung St. Gallen. Sie umfasst eine Fünferzeile und ein Doppelhaus, in dessen westlicher Hälfte Architekt Siegrist selbst lebte. Im Ausbau unterscheiden sich die Häuser: Das Wohnhaus der Familie Siegrist setzt dabei mit den durchgearbeiteten Details die Wohnvorstellungen der Moderne am radikalsten um (vgl. «Leben mit der Moderne», S. 30). Es wurde 1985 verkauft und ist heute noch weitgehend im Original­zustand erhalten. Die östliche Hälfte des Doppelhauses stand 2008 zum Verkauf: der Beginn der gemeinsamen Geschichte von Benjamin Widmer und dem Haus.

Die Siedlung stand noch nicht behördenverbindlich unter dem Schutz der Denkmalpflege, und aufgrund der guten Lage drohte das Haus in falsche Hände zu geraten: In der Fünferzeile belegt der Augenschein von aussen, dass nicht jeder Besitzer mit der Bausubstanz aus den 1930er-Jahren umgehen kann. Widmer versuchte zunächst, eine passende Institution zu finden, die das Haus hätte übernehmen und sanieren können. Doch als sich abzeichnete, dass er niemanden zu einem Kauf bewegen konnte, platzierte er selbst ein Angebot. Angesichts seiner beschränkten finanziellen Mittel rechnete er sich nur wenig Chancen aus – doch wider Erwarten bekam er den Zuschlag.

Der Wechsel der Zeit und der Moden

Nach der Freude über den überraschenden Kauf begann die Arbeit und das Leben auf einer Baustelle – zusammen mit seiner Partnerin, einer Journalistin, die geduldig den Staub der Bauarbeiten und den Perfektionismus des Architekten ertrug. Als Erstes wurde die Kon­struktion geprüft. Das Flachdach war undicht, ebenso die Glasbausteine im Oberlicht des Treppenhauses. Die schlanke Fassade aus gerade mal 12 cm Sichtbeton hatte gelitten: Etwa die Hälfte der Fläche war von Ab­platzungen betroffen, die Bewehrungseisen korrodiert. Die beiden Geschossdecken aus 9 cm Beton (bei einer Spannweite von bis zu 5,5 m) waren an der Grenze ihrer Tragfähigkeit und hingen im Mass ihrer Stärke durch.

Die Innendämmung bestand aus 4 cm Ondulex, einer mit bituminösen Stoffen imprägnierten Wellkartonplatte, die als verlorene Schalung eingelegt wurde. Das Material diente gleichzeitig als Dampfsperre. Ein 3 cm starker Zementputz hätte den Feuchteeintrag ­regulieren sollen, doch die Isolation war komplett durchnässt und verlor damit ihre Dämmleistung. Mit der Feuchtigkeit zog ein modriger Geruch ein, der das Haus durchdrang. Seit der Erstellung war nie eine tiefgreifende Erneuerung erfolgt, jedoch waren die Oberflächen im Innern nach einigen kleineren Umbauten nicht mehr original: Schwarze Täfelung hing von den Decken; Rundbögen in den Durchgängen zeugten von veränderten Gestaltungsvorstellungen; auf der Terrasse lagen kleinformatige Betonverbundsteine anstelle der grossformatigen Platten; die Fenster wurden in den 1980er-Jahren ausgewechselt; die metallene Ein­gangs­tür war ersetzt worden. Am schwersten wog der Austausch der Eckverglasung durch ein Fenster mit Rahmen. Im ursprünglichen Zustand demonstrierte die Ecke, über dem Bandfenster schwebend, eindrücklich die Forderungen von Le Corbusier in seinen fünf Punkten: Befreit von der Last der restlichen Konstruktion fand die Fassade ihren eigenen Ausdruck.

Widmer sondierte nicht nur im Objekt selbst nach den originalen Befunden – insbesondere die Farben konnte er häufig eruieren –, sondern studierte auch die Literatur und historische Dokumente. Als wertvolle Quelle diente ihm die Monografie von 1982, in der das ehemalige Wohnhaus von Hermann Siegrist akribisch dokumentiert wurde.[1] Darin konnte er Details und ­Kon­struktionen nachschlagen, und da ein wesentlicher Teil der Publikation die Möblierung umfasste, war die ­Entwurfsabsicht Siegrists gut dokumentiert. Die Moderne zeigte sich an der Leimeneggstrasse als ein Gesamtkunstwerk, das das ganze Leben durchdrang.

Detaillierte Rekonstruktionen...

Dieser Haltung verpflichtet, machte sich Benjamin Widmer an die Arbeit. Er strebte eine Sanierung an, die sich auf dem Mittelweg bewegt zwischen der radikalen Version von Siegrists Wohnhaus und der «gemütlicheren» Version seines eigenen Hauses – Holztreppe anstelle der Metallstiege, gestemmte Türen mit Holzrahmen statt der Metallzargen mit ebenen Türblättern. Als Erstes wich das Ondulex. Stattdessen baute Widmer 6 cm Poren­beton ein und liess einen Putz mit einem grossen Anteil an Verunreinigungen aufbringen, um gleich nach der Renovation die Wärme und Patina eines Altbaus zu erhalten. Wo die originalen Farbtöne nicht zu ermitteln waren, griff er auf die Farbpalette von Le Corbusier zurück. Das Resultat ist verblüffend: Einmal mehr wird das Bild der weissen Moderne widerlegt. Vom sumpfgrünen Linoleumboden bis zum rosa Badezimmer und der hellblauen Küche zeigt das von aussen nüchtern wirkende Haus im Innern seine liebliche Seite.

Die durchhängenden Decken wurden mit einem Stahlträger unter der obersten Decke stabilisiert. Dieser liegt nun genau in der Trennwand zwischen den beiden Zimmern des Obergeschosses. Er ist eingespannt zwischen einem bestehenden Stahlprofil, das auf der Wand zum Gang aufliegt, und der Aussenwand. Widmer nutzte die Chance, die bestehende Falttür zwischen den Räumen vom Gang an die Fassade zu verlegen. Wenn die Tür zurückgezogen ist, bietet nun auch das Obergeschoss einen Blick auf das gesamte Bandfenster. Durch Zugstangen in der Wand ist die Decke über dem Wohnzimmer am selben Stahlprofil abgehängt.

Die Fenster wurden ersetzt und auf den Originalzustand zurückgeführt: In der ursprünglichen Version hatten die Fenster einen Kämpfer mit einem Klappflügel aufgewiesen, der oben gebandet gegen aus­sen öffnet – ein Detail, das heute kein Fensterbauer mehr in seinem Sortiment führt. Hartnäckig drängte Widmer die Handwerker dazu, eine Lösung für diese Öffnungsart zu finden, und nach einigem Hin und Her gelang das Vorhaben. Erst durch den gezielten Einsatz von verschiedenen Holzarten fanden Stabilität und Feinheit in ein Gleichgewicht. Selbstverständlich zeigt sich die prominente Eckverglasung im Wohnzimmer wieder stilgerecht als Stufenverglasung mit einer gestossenen Ecke aus Glas. Damit war eines der Kernelemente der Gestaltung wiederhergestellt.

Neben dem langen Bandfenster ist das Haus durch die geschwungene Treppe gekennzeichnet. Sie verleiht der funktionalen, kleinteiligen Struktur des Gebäudes Grosszügigkeit und bricht dessen Strenge auf. Auch für die Treppe fand Widmer einen Ausdruck, der zwischen dem Bestand (klar lackierte Buche) und der Version von Siegrists Haus (Metallspanten mit Ver­kleidung aus hell gestrichenem Sperrholz, dunklem Holzabschluss und aufgesetztem Metallrohr als Handlauf) vermittelt. Er beliess die Konstruktion in Holz und strich sie in Umbra, um zusammen mit der metallenen Wendeltreppe aufs Dach eine zusammenhängende Figur zu erzeugen.

Die Terrasse wurde abgedichtet und mit Platten von 1 m Kantenlänge belegt, deren Lachsfarbe überrascht. Auf den historischen Aufnahmen lässt sich ihre ­Farbigkeit nur erahnen – in diesem Punkt erlaubte sich Widmer eine Auslegung des geschichtlichen ­Befunds. Bei der Fassade hingegen strebte er eine Rekonstruktion an: Den Flickstellen wurden mit dem Hammer sorgfältig die Poren des historischen Betons hinzugefügt und die horizontalen Streifen der Brettschalung retuschiert.

...und freie Interpretationen

Nicht überall war der ursprüngliche Zustand ein­deutig zu belegen. An einigen Stellen im Haus nahm sich der Architekt deshalb die Freiheit, seine eigenen ­Ideen umzusetzen. Insbesondere die Küche entsprach nicht den Vorstellungen der neuen Bewohner, aber eine banale Einbauküche kam nicht infrage. Deshalb entwarf Widmer eine passgenaue Ausstattung, die mit viel Erfindungsgeist den beschränkten Raum ausnutzt. Wie auf einem Schiff oder in einem Eisenbahnwagen – auch hier schimmert Le Corbusier durch – erleichtern ausfahrbare Arbeitsflächen und in die Ablagen eingelassene Schneidbretter die Arbeit unter engsten Bedingungen. Um die kleine Küche zu erweitern, verwandelte der Bauherr die angeschlossene Waschküche in eine offene Vorratskammer.

Die geschwungenen Tablare mit den dunkelbraunen Umleimern passen sich dem Ausdruck des Hauses an und scheinen aus der gleichen Zeit zu stammen.

Den Vorstellungen der Hygiene entsprechend waren alle Zimmer im Obergeschoss mit einem ­Lavabo ausgestattet. Widmer hat sie erhalten, aus­ser im südlich gelegenen Eckzimmer, wo er aus der Wasch­gelegenheit einen Schminktisch für die Dame des Hauses eingebaut hat – ein klassisches Zitat, das an längst vergangene Lebenswelten erinnert. Diese Zeiten leben nun in den Farbbildern dieses Berichts wieder auf: Für die Fotostrecke wurde das Haus mit Möbeln der Zürcher Firma Wohnbedarf ausgestattet – wie einst das Wohnhaus von Siegrist bei dessen ­Einweihung. Ein Manifest der «guten Form».


Anmerkung:
[01] Arthur Rüegg und Ruggero Tropeano (Hg.), Hermann Siegrist – Siedlung Leimenegg, ETH Zürich: Professur Schnebli, 1982

TEC21, So., 2014.09.14

14. September 2014 Marko Sauer

Leben mit der Moderne

Die Siedlung an der Leimenegg­strasse war nicht die erste moderne Siedlung der Schweiz – auch nicht die am meisten beachtete. Doch das Zusammenspiel von Raum und Ausstattung war einmalig.

Von 1926 bis etwa 1933 betrieben Hermann Siegrist (1894–1978) und Hannibal Naef (1902–1979) zusammen ein Architekturbüro in Winterthur. Trotz ihrem Studium bei Karl Moser zählten sie nicht zur umtriebigen Avantgarde des Zürcher CIAM Kreises. Nach ein paar Wettbewerben erhielt Siegrist, selbst Sohn eines Architekten, zwei Aufträge für Ladenumbauten (1930) und einen weiteren für ein Holzhaus (1931). Die spektakuläre Lichtarchi tektur des Bata Schuhladens zwischen Marktgasse und Stadthausstrasse in Winterthur legte den Grundstein zu Naefs späterer Tätigkeit für die Bata Kolonie in Möhlin. Naef selbst beteiligte sich an allen wichtigen Wettbewerben jener Zeit – von der Landesbibliothek in Bern (1927) über den Völkerbund in Genf (1927), das Kunstmuseum Basel (1928) bis zum Kantonsspital Zürich (1933).[1]

Die Zusammenarbeit erzeugte kaum Synergien (und wurde in den späteren Lebensläufen unterschla gen), doch teilten die beiden einen erlesenen Geschmack in Sachen Lebensstil. Naef, Spross einer vermögenden Industriellenfamilie, richtete sich 1931 mit den exklusivsten deutschen und französischen Stahlrohrmöbeln ein. Siegrist seinerseits gelang es 1932, noch vor Auflösung der Arbeitsgemeinschaft, mit sieben «zusammengebauten Einfamilienhäusern» in der Leimenegg einen unübersehbaren Meilenstein des Neuen Bauens zu set zen und aus seinem eigenen Eckhaus ein Musterbeispiel zeitgenössischer Schweizer Wohnkultur zu machen.[2]

Ein Punkt und ein Gedankenstrich

Siegrists Doppelhaus und die fünf Reihenhäuser er schienen einem zeitgenössischen Kommentator aus der Vogelschau «als Punkt und als Gedankenstrich im offe­nen bunten Buch der Winterthurer Siedelungsgeschichte» – nicht zuletzt in symbolischer Hinsicht: «Hier wird markiert, dass ein Satzgefüge zu Ende ist und ein frischer Gedanke in neuem Satz nach Ausdruck drängt.»[3]

Die Aussage ist erstaunlich, war doch der Stadtplan von Winterthur bereits mit einer Vielzahl markanter Wohnzeilen tätowiert.

Dass Siegrists Wurf auffiel wie ein Papagei, war wohl weniger dem Zeilenbau als der architektonischen Provokation zu verdanken. Im Gegensatz zu Ernst Jungs, Hans Bernoullis, Franz Scheiblers und Adolf Kellermüllers Bauten – und selbst zur benachbarten Flachdachsiedlung «Stadtrain» von Keller­ müller & Hofmann – besitzt das Äussere der Leimen­egg Bauten manifestartigen Charakter. Überlange Fensterschlitze zeigen die Fassade als nichttragende, kartonartige Membran; durch das zusätzliche Aufschneiden der Gebäudeecken werden die Reihen­häuser zu einem übergeordneten Ganzen zusammen gefasst. Das auffallendste Merkmal für avantgardistisches Bauen und Wohnen liefern die subtil durch gebildeten Dachgärten. Zwar war diese Dach ausbildung seit dem 1929 publizierten Vorprojekt der Werkbundsiedlung Neubühl auch in der Schweiz keine revolutionäre Neuerung mehr; Siegrists Formulierung erinnert jedoch weit mehr an das grosse Vorbild Le Corbusier als ans Neubühl (in der Tat hatte er 1927 während eines Besuchs der Weissenhofsiedlung nur Augen für die beiden Bauten von Le Corbusier und Pierre Jeanneret gehabt). Es ist nachvollziehbar, dass seine idealistische oder «poetische» – das Utilitäre dezidiert sprengende – Ambition in Winterthur auf Befremden und vehemente Ablehnung stiess. Allerdings war Siegrist keineswegs ein Formalist, sondern wusste die Errungenschaften Le Corbusiers und des Bauhauses mit einer eigenständigen, sensiblen und durchaus innovativen Detaillie rung vernünftig umzusetzen. Auffallend sind die in der Gebäudeecke verleimten, enormen Scheiben der Doppelverglasung, die die Jahrzehnte unbeschadet überstanden haben. Für die Konstruktion der Aussenwände verwendete er – anders als Le Corbusier auf dem Weis­senhof – Sichtbeton, den er aussen mit einem hellen Anstrich in Mineralfarbe versah und dadurch entmaterialisierte.

Ein besonderer Glücksfall

Im Innern des Hauses Siegrist besticht das von oben belichtete offene Treppenhaus, in dem auf einer angewendelten Treppe mit Sperrholzbrüstungen eine eiserne Fertig-Wendeltreppe aufgesattelt ist. Der auf knappstem Raum entfaltete räumliche Luxus genügt, um dem Haus eine räumliche Identität zu geben und den vertikalen Aufbau bis zum Dachgarten hinauf sinnlich erfahrbar zu machen. Trotz aller Kompaktheit ging es Siegrist keineswegs um eine Auseinandersetzung mit dem Bauen für das Existenzminimum, sondern um einen für den aufgeklärten Mittelstand bestimmten Versuch zum modernen Wohnen in der Stadt, wie es die eleganten Pariser Stadtvillen verkörperten (etwa die Villa Cook von Le Corbusier, 1926). Entscheidend für die aussergewöhnliche Bedeutung des Hauses Siegrist war allerdings die vollkommene Ergänzung durch die Einrichtung der Wohnbedarf AG Zürich. Die 1931 im Zusammenhang mit der Möblierung der Werkbund­siedlung Neubühl aus dem Zürcher CIAM- und SWB Kreis hervorgegangene «zentralstelle für den zeitgenössischen wohnbedarf» hatte zusammen mit Moser, Haefeli, Steiger, Giedion, Roth, Egli sowie Aalto innerhalb kürzester Zeit eine komplette, homogen wirkende Linie von multifunktionalen Stahlrohrmodellen zu­ sammengestellt. Die Bildhauerin Rosa Studer-Koch – sie hatte Siegrist für die Dachterrasse ein Pferderelief geliefert – vermittelte den Kontakt, und die Zürcher machten die Wohnhäuser am Leimenegg sofort zur eigenen Sache. Im Oktober 1932 kam es zu einer etwa einwöchigen Ausstellung, die das ganze Sortiment inklusive der eben fertig gestellten Indi-Leuchte ver sammelte – ein Ereignis, das durch den Wobag Hausfotografen Hans Finsler festgehalten wurde. Das Ehepaar Siegrist verkaufte umgehend seine Aussteuer und erwarb das gesamte Ausstellungsinventar.[4]

Dieses einzigartige Dokument des «befreiten Wohnens» blieb ein halbes Jahrhundert lang – bis zum altersbedingten Wegzug von Tamara Siegrist Solnzeva 1985 – in unveränderter Form erhalten.


Anmerkungen:
[01] Vgl. Ruggero Tropeano, «Hans Hugo Hannibal Naef, 1902–1979», in: Die Bata Kolonie in Möhlin, Ausstellungskatalog Architekturmuseum Basel, 1992. Für den Wettbewerb des Kantonsspitals Zürich arbeitete Naef mit Max Haefeli sen. und Alfred Mürset zusammen.
[02] Vgl. die ausführliche Monografie von Arthur Rüegg und Ruggero Tropeano (Hg.), Hermann Siegrist – Siedlung Leimenegg, mit Biografie und Werkverzeichnis von Katharina Medici Mall und Aufnahmeplänen von Mike Guyer, Rudolf Moser, Meinrad Morger und Aldo Nolli, ETH Zürich: Professur Schnebli, 1982.
[03] K., «Ein Punkt und ein Gedankenstrich», in: Die Wohnkolonie am Leimenegg, Sonderbeilage zu Der Landbote, 20.10.1932.
[04] Das Mobiliar befindet sich heute als Donation von Ruggero Tropeano und Arthur Rüegg in der Design Sammlung des Museums für Gestaltung Zürich

TEC21, So., 2014.09.14

14. September 2014 Arthur Rüegg

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