Editorial

In sensiblen Landschaften können Bauwerke rasch zu markant oder gar störend wirken, weil die Materialisierung, die konstruktive Ausbildung oder die Lage unangemessen zu sein scheint. Aber «unangemessen» ist ein dehnbarer Begriff. Was für die einen unpassend, ist für andere ­passend. Oft gehen die Meinungen auseinander, auch weil die Hintergründe der ausgeführten Bauwerke unbekannt sind. Die Kenntnisse über die Entstehungsgeschichte eines Bauwerks ­verändern seine Wertschätzung.

Anhand von drei Projekten zeigt diese Ausgabe die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, mit denen Bauingenieure konfrontiert sind, wenn sie sensible Orte erschliessen. Welche Grundsätze sie in solchen Situationen befolgen und welche Tragwerkskonzepte sie entwickeln, ist von Fall zu Fall und von Bauingenieur zu Bauingenieurin unterschiedlich. Mitunter weichen sie von den gestalterisch reinen und technisch einwandfreien Konzepten ab und gehen (schmerzhafte) Kom­promisse ein. Teilweise werden sie durch behördliche oder finanzielle Rahmenbedingungen so eingeschränkt, dass sich daraus die Lösung ­ergibt. Manchmal ist auch der Respekt vor der Umgebung zu gross, und aus Zurückhaltung muss erst Mut werden.

Wie das Bauwerk letztlich auf einen wirkt, ist individuell. Wenn die beteiligten Bauinge­nieure wie in diesen Beispielen aber konstruktiv und gestalterisch sorgfältig entwerfen, so wird ein Kompromiss zum Mehrwert für die Situation.

Clementine van Rooden

Inhalt

AKTUELL
06 WETTBEWERBE
Klinik ohne Spitalatmosphäre

14 PANORAMA
Draussen vor der Tür | Walter Mair vs. 03 Arch. | Bücher | Sind wir fit für die Energiewende?

22 VITRINE
Weiterbildung

26
Beitritte zum SIA | Kurzmitteilungen | Dichte gestalten | SIA-
Form Fort- und Weiterbildung

31 VERANSTALTUNGEN

THEMA
32 «SIE WIRD AN GLANZ VERLIEREN»
Clementine van Rooden
Wir sprechen mit Martin Dietrich, der die Hängebrücke in Sigriswil geplant hat.

36 WIDER DIE VERNUNFT
Clementine van Rooden
Warum ist der Zürcher Werdhölzlisteg aus Holz, wenn GFK dauerhafter und nachhaltiger ist?

40 ÜBER DIE KANTE GESCHOBEN
Clementine van Rooden
Der auskragende Pavillon auf dem Gurten nimmt Rücksicht auf die bestehende Topografie.

AUSKLANG
45 STELLENINSERATE

53 IMPRESSUM

54 UNVORHERGESEHENES

Wider die Vernunft

Nicht immer sind die technologisch besten Materialeigenschaften an einem Ort auch die besten aus emotionaler Sicht. Staubli, Kurath & Partner ­konstruierten deshalb den Werdhölzlisteg in Zürich Altstetten aus Holz – ­obwohl Kunststoff hier nachhaltiger und dauerhafter gewesen wäre.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Limmat kanalisiert, und während dieser 130 Jahre gingen die auentypischen Lebensräume und Landschaften sukzessive fast vollständig verloren. Diesem Verlust wollte der Kanton Zürich entgegenwirken.[1] Grün Stadt Zürich beschloss deshalb, die Limmatauen im Rahmen der Verbesserung des Hochwasserschutzes und der Renaturierung der Limmatufer zwischen dem Stauwehr Zürich-Höngg und der Autobahnbrücke bei Oberengstringen wiederzubeleben.

Weichholzauen sind Uferbereiche von Bächen und Flüssen, die wiederkehrend von Hochwasser überflutet werden und mit dem Grundwasser verbunden sind. Sie zeichnen sich durch «weiche», biegsame Baumarten wie die Silberweide aus, die länger anhaltende Überschwemmungen und starke Strömungen aushalten. Auch das Werdhölzli war bis vor 200 Jahren eine Weichholzaue, die mehrmals pro Jahr überschwemmt wurde. Als die Limmat in ihren engen Lauf gezwängt wurde, verlor sie an Dynamik und überflutete das Werdhölzli nur noch bei extremen Hochwassern. Es entwickelte sich zunächst zu einer Hartholzaue. Deren Baumarten, wie beispielsweise Eschen und Ulmen, zeichnen sich durch ein «hartes» Holz aus. Da das Werdhölzli in den vergangenen Jahrzehnten immer seltener überflutet wurde, trocknete auch die Hartholzaue weiter aus und veränderte sich allmählich zu einem Laubmischwald.

Die renaturierte Limmat ist nun wieder mit dem Werdhölzli vernetzt. Ein Rohr schwemmt durchschnittlich 18-mal pro Jahr Flusswasser in den geschützten Landschaftsbereich ein. Es entsteht wieder ein Lebensraum für typische Arten der Hartholzauen.

Holz ist hier weder dauerhaft noch nachhaltig

Um diese Landschaft zugänglich zu machen, ohne sie zu beeinträchtigen oder gar zu beschädigen, liess Grün Stadt Zürich die Auenlandschaft mit einem Steg erschliessen. Von ihm aus lässt sich das Gebiet beobachten. Die Materialisierung war dabei von Anfang an klar: Holz musste es sein; es ist nachhaltig und fügt sich optisch und gefühlsmässig ansprechend in die Landschaft ein. Allerdings, so gibt der verantwortliche Bauingenieur Josef Kurath zu bedenken, sei Holz aus technischer und ökologischer Sicht in diesem feuchten Auenlandwald nicht das richtige Konstruktionsmaterial für den Steg – auf 400 m ü. M., bei Luftfeuchtigkeiten von meist über 80 % im Mittellandklima, sei es nicht nachhaltig und dauerhaft. Bewittertes Holz hat hier eine Lebensdauer von nur acht bis zehn Jahren, dann muss es ersetzt werden. Baumstämme, die neben dem Steg liegen, zeigen die Verhältnisse auf: Ungeschützt verfaulen sie in nur wenigen Jahren. Man wird ungeschütztes oder schlecht geschütztes Holz in der Konstruktion deshalb immer wieder ersetzen müssen, ausser man verwendet Tropenholz wie Teak oder Iroko. Diese häufigen Unterhaltsmassnahmen erfordern viel graue Energie, die im Transport und in der Verarbeitung steckt.

Glasfaserverstärkter Kunststoff ist geeignet

Eigentlich, so Kurath, wäre glasfaserverstärkter Kunststoff (GFK) in dieser feuchten und sonnenarmen Umgebung konstruktiv und bezüglich Nachhaltigkeit geeigneter gewesen. Dies zeigt auch eine Ökobilanz, die im Rahmen der EXPO.02 gemacht wurde, relativ deutlich (vgl. «Ökologischer Vergleich», S. 38). Das Erdöl ist bei GFK-Bauten in grossen Bauelementen gebunden, diese sind zwar naturfremd, verrotten aber nicht und haben gerade in dieser Umgebung eine hohe Lebensdauer. Entsprechend einer Kaskadennutzung können sie später weiterverwendet werden und lassen keine Spuren im Wald zurück. Doch dem Menschen, so sinniert Kurath weiter, widerstrebt es optisch und gefühlsmässig, «Plastik» in der Natur zu verwenden. Dies haben auch die Diskussionen im Planungsteam gezeigt. Viele Besuchende würden diese Materialien hier nicht schätzen und den Einsatz als falsch empfinden. «Was begreiflich ist», fügt er schliesslich an. Der Mensch soll sich hier wohl fühlen, und der Steg soll den Besuchern Freude bereiten.

Kompromisse für die Holzlösung

Naturwissenschaftliche und emotionale Aspekte müssen vereinbar sein. Das Vergnügen der Besuchenden sollte im Vordergrund stehen, allerdings innerhalb klarer Grenzen. Die Konstruktion des Werdhölzlistegs ist ein Kompromiss, den sich die Beteiligten erarbeitet haben, wobei die Planenden vor allem drei Grundsätze befolgten: Der Förster des Waldreviers Nord Grün Stadt Zürich, Emil Rhyner, und sein Team sollten den Steg erstens selber und zweitens mit möglichst viel eigengeschlagenem Holz bauen können.

Der Anspruch, eine unaufgeregte Stegkonstruktion zu bauen, schlug sich positiv im Budget nieder: Normalerweise setzt man für einen Fussgängersteg 2500 bis 4500 Fr. pro m2 ein; hier waren es 1500 Fr./m2. Drittens sollte der Holzsteg dem Ort entsprechend eine ökologische und nachhaltige Bauweise aufweisen. Folglich verwendeten die Planenden grundsätzlich Material aus den städtischen Wäldern, das ohne weite Transportwege in die Betriebe der Försterei gelangte – einzige Ausnahme bilden die Tragpfähle. Das Holz wurde zwei Jahre zuvor in den Wintermonaten geschlagen, gesägt und an der Luft getrocknet. So konnte einer frühzeitigen Pilzbildung vorgebeugt werden, und der Energieaufwand für die übliche Ofentrocknung entfällt.

Wichtig für die Energiebilanz dieses Bauwerks ist ein guter Holzschutz, damit der Steg eine hohe Lebensdauer aufweist und nicht viel Energie für eine häufige Instandsetzung verwendet werden muss. Auf einen chemischen Schutz wurde trotz des unwirtlichen Klimas für den Holzsteg verzichtet, denn dieser hätte ausgewaschen werden können und hätte die Natur belastet. Man strebte darum einen konstruktiven Schutz des unbehandelten Holzes an. Die beste Schutzvariante wäre eine Überdeckung des gesamten Stegs. Um die Aussicht nicht zu beeinträchtigen, verzichteten die Beteiligten darauf. Der ungeschützte Brückenbelag muss deshalb voraussichtlich in acht bis zehn Jahren instandgesetzt oder ersetzt werden. Um trotz allem eine möglichst dauerhafte Brücke erstellen zu können, muss die Konstruktion sorgfältig geplant und ausgeführt werden.

Holzkonstruktion in feuchter Umgebung

Der 320 m lange Holzsteg fügt sich in einer Zickzacklinie in die Auenlandschaft ein. Er besteht aus einzelnen Einfeldträgern, die auf Rundhölzern lagern, welche mit einem kleinen Bagger in den Boden gerammt wurden; es sind FSC-zertifizierte Robinien aus Ostdeutschland. Die Pfähle konnten mit einer maximalen Länge von zwei bis drei Meter geliefert und dadurch nur einen Meter tief in den Boden eingebunden werden. Ihre Belastung musste deshalb gering gehalten werden. Dies und die Länge des für die Tragbalken verwendeten Rundholzes ergab die obere Grenze für die Spannweiten; mit sechs bis zehn Meter belassen sie den Boden trotzdem möglichst frei.

Die Hauptträger sind nicht unter, sondern über dem Laufsteg angeordnet. Der Raum unter der Brücke wird so besser durchlüftet, was für den Belag und die darunter liegenden Sekundärträger in Eiche vorteilhaft ist. Die oben liegenden Hauptträger sind gut umlüftet und sichtbar, können phasenweise wieder austrocknen und von Unterholz freigeschnitten werden. Ausserdem kann sich die Vegetation unter der aufgestelzten Brücke hindurch entfalten.

Im rohen Förstersteg stecken die Finessen in den Details

Jeder Hauptträger besteht aus einem unverleimten Brettschichtholzträger, der mit einem rohen Stahlblech abgedeckt ist. Vorgespannte Schrauben ziehen die Konstruktion zusammen und bewerkstelligen den Verbund. Die Anzahl der Vorspannschrauben ist auf die Grösse der Querkraft abgestimmt; mit abnehmender Querkraft nimmt auch die Anzahl Schrauben ab – es entsteht eine auf die Statik abgestimmte Komposition. Über Reibung gibt der Brettschichtholzträger den Schub weiter an die Trägerenden und vor dort auf die Pfähle. Das Stahlblech ist breiter als die Holzbretter, was eine umlaufende Wassernase an der unteren Kante ermöglicht. Das Stahlblech hat also mehrere Funktionen:

Es beteiligt sich an der Quervorspannung und schützt den Holzträger vor der Witterung. Zudem trägt es zur Steifigkeit der Brückenkonstruktion bei und übernimmt die Widerlagerfunktion. Und schliesslich sind darauf die Handläufe aufgeständert.

Der Abstand zwischen den Hauptträgern und dem Gehbelag beträgt etwa 30 cm – ausreichend, um die Konstruktion vor Spritzwasser zu schützen. Einzig bei der Überspannung des Mäanders ist das nicht der Fall. Um den Handlauf durchgehend auf derselben Höhe zu behalten, erweiterte man den Träger, der wegen der Spannweite eine grössere statische Höhe erforderte, gegen unten – auf Kosten des Spritzschutzes. Auch an den Brückenenden und in den Aufenthaltsbereichen weicht die Konstruktion vom Grundprinzip ab: Die Brückenenden sind mit einem Gitterrost bedeckt. Er sorgt für eine bessere Durchlüftung unter der Brücke und verhindert, dass an diesen heiklen Stellen Holzelemente verfrüht faulen. Die Aufenthaltsbereiche – grundsätzlich Verbreiterungen der normalen Rhythmen der Einfeldträger – erfordern quer zur Brückenachse grössere Spannweiten, weshalb zusätzliche Träger montiert werden mussten; sie sind zugleich Sitzgelegenheiten und laden zum Verweilen ein (Abb. S. 36).

Der konstruktive Schutz muss stets greifen

Die Brücke muss gepflegt werden, damit der konstruktive Schutz wirkt. Die Wassernasen an den Stahllaschen müssen funktionieren und die Hauptträger von Unterholz befreit sein. Alle Abstände zwischen den Holzteilen müssen frei bleiben, damit die Stellen durchlüftet werden und nirgends auch nur wenig Wasser liegen bleibt. Nur auf diese Weise wird die Brücke die geplanten 40 Jahre halten. Wenn denn doch einmal einzelne Bretter, Latten oder Träger ausgewechselt werden müssen, kann die Instandsetzungsarbeit innerhalb des Brückenquerschnitts erfolgen; es ist nicht erforderlich, die Auenlandschaft zu betreten. So bleibt die geschützte Landschaft mit ihrer Flora und Fauna noch lang unbeschadet bestehen.


Anmerkung:
[01] Der Limmat-Auenpark Werdhölzli ist ein Projekt der Baudirektion des Kantons Zürich, unterstützt von der Stadt Zürich, der Gemeinde Oberengstringen, dem naturemade-star-Fonds von ewz, dem WWF in Kooperation mit der Zürcher Kantonalbank sowie dem Bundesamt für Umwelt.

TEC21, Fr., 2014.04.25

25. April 2014 Clementine Hegner-van Rooden

Über die Kante geschoben

:mlzd und Tschopp Ingenieure gewannen den Wettbewerb für den ­Pavillon auf dem Gurten, weil sie ihn über die Hangkante hinausschoben.
Die sichtbare Unterkonstruktion ermöglicht die Auskragung und zeigt sich im Unterschied zum Überbau als pragmatischer Rohbau.

Der Gurten ist ein 864 m hoher Molasseberg südlich der Stadt Bern. Der seit 1959 autofreie Berner Hausberg ist ab Wabern mit der Gurtenbahn erschlossen und ein beliebtes Ausflugsziel. Die Bahn wurde bereits 1899 erbaut und war einst die schnellste Standseilbahn der Schweiz. Auch heute ist sie mit 8 m/s noch relativ schnell und überwindet in nur 5 Minuten eine Strecke von 1059 m und eine Höhendifferenz von 267 m.[1] Mit der Bahn kam 1901 auch das Hotel Kulm. Doch nach der ersten Blütezeit bis 1915 harzte der Betrieb, und 1983 wurde das Hotel geschlossen. Ebenso erging es dem Restaurantbetrieb; zeitweise betrieb die Gurtenbahn gar im Wartesaal einen Imbiss. Zwar stieg die Besucherzahl mit der Totalrevision der Bahn ab 1944 – statt nur der Oberschicht kam nun auch die breite Masse auf den Berg. Doch die Infrastruktur hielt der anhaltenden Veränderung nicht stand.[2]

Mehrere Projekte für eine Neugestaltung des Gurtengeländes scheiterten aus politischen oder finanziellen Gründen. Nur Teilprojekte konnten umgesetzt werden. So beschloss die Stadt Bern als Besitzerin Ende der 1950er-Jahre beispielsweise, die Gurtenmatte, die ab 1937 als Golfplatz betrieben wurde und von Aussenstehenden nicht betreten werden durfte, zum öffentlichen Naherholungsgebiet umzufunktionieren. 1990 drehte der Wind, und ein ganzheitliches Konzept fand seine Umsetzung. Die Genossenschaft Migros bot an, den Gurten zu übernehmen und für 30 Millionen instandzusetzen. So weckte das Kulturprozent der Migros Aare den Berg ab 1999 aus seinem Dornröschenschlaf.

Vom Festzelt zum Pavillon

Die Gurten-Stiftung mit der Migros als Hauptstifterin besitzt seither den «Park im Grünen», und die Migros Aare betreibt ihn. Jedes Jahr resultiert ein Betriebsdefizit in Millionenhöhe, weil viele Veranstaltungen gratis sind; das Migros-Kulturprozent deckt dieses Defizit.[3] Die Nachfrage nach Räumlichkeiten für geschäftliche Anlässe überstieg schon bald das bestehende Angebot. Deshalb stellte die Betreiberin des Restaurants Gurtenkulm ab 2003 regelmässig ein Zelt für Tagungen und Feste auf. Die weisse Blache war von weither sichtbar und nicht nur aus ästhetischer Sicht unzureichend; das Panoramazelt genügte den Ansprüchen an Komfort, Logistik, Betriebswirtschaft und Gebäudetechnik nicht. Darum und weil man saisonal unabhängig sein wollte, sollte ein fester Pavillon das provisorische Zelt ersetzen. 2012 schrieb die Stiftung Gurten-Park im Grünen einen Studienauftrag im Einladungsverfahren mit drei Teams aus. Daraus ging das Siegerprojekt von :mlzd und Tschopp Ingenieure hervor.

An prominenter Lage an der Bergkante

Der neue Pavillon für bis zu 500 Personen steht als gedrungenes Volumen zwischen Bergstation der Gurtenbahn und dem Restaurant Gurtenkulm in grösstmöglichem Abstand zum alten Hotel. Er liegt noch in der Hotelzone, wo Bauten und Anlagen des Gastgewerbes erlaubt sind. Bereits im Jurybericht wurde die Platzierung gelobt: «Mit seiner eingeschossigen, auskragenden und vollverglasten Front gegen Norden setzt sich der Pavillon von der hohen, zurückversetzten und massiven Fassade des Hauptbaus ab und belässt diesem trotz selbstbewusster gestalterischer Ausprägung die Hauptrolle.» Diese Platzierung wählten die Planenden nicht von Anfang, denn sie hatten Respekt vor dem Ort. Anfänglich noch zögerlich und zurückhaltend, schoben sie den Pavillon erst spät in der zweiten Wettbewerbsstufe radikal über die befestigte Kante der terrassierten Umgebung hinaus. Ein Schritt, der erst recht den Respekt vor dem Ort zum Ausdruck bringt, denn das neue Bauwerk setzt sich so nicht nur vom Hauptbau ab, sondern berührt und beeinträchtigt mit seiner Auskragung weniger die vorhandene Landschaft.

Überbau: Stahlbau, als wäre es ein Möbel

Der eingeschossige Neubau ist allseitig verglast und behält den ephemeren Charakter des Plastikzelts. Die Nordfassade eröffnet den Blick auf die Stadt Bern, den Jura und das Mittelland. Das architektonische und tragwerksspezifische Kernstück des Gebäudes ist ein 22.8  × 15.25 m grosser, stützenfreier Raum, der für Konferenzen, Schulungen, Versammlungen und Feste nutzbar ist. Über ihm ist ein schwarzer Trägerrost gespannt. Er steht auf gelenkig gelagerten, runden Vollstahlstützen, die, wo sichtbar, glanzvernickelt und, wo verdeckt, gespritzt sind. Ausgesteift wird der Überbau mit 20 mm dünnen Zugstangen, die im Raum kaum sichtbar sind.

Es ist ein Stahlbau, der konstruiert ist, als wäre er ein Möbel für dieses Ausflugs- und Erholungsgebiet. Statt eines für den Stahl typischen Rohbaus erinnert der Rost an eine grossformatige Schlosserarbeit: dünnwandige (d = 8 mm Stege, 25 mm Flansche), übereck monolithisch geschweisste Kastenträger formen den Rost. Sichtbare Schweissnähte sind flach verschliffen, keine Schrauben sind vorhanden, nur scharfe Kanten. Keine gebäudetechnischen Anlagen oder Leitungen durchqueren diese Tragkonstruktion, alle sind in die Randzone verlegt – einzig Lüftungsschlitze im Übergang zu den Aussenbereichen zeugen von dieser Freilegung.

Um den Kernbereich legt sich eine etwa vier Meter tiefe und grundsätzlich transparente Raumschicht – eine Referenz an die Beletage des alten Hotels. Mit einem Vorhangsystem, das aus dem Japanischen inspiriert ist und dem Projekt den Namen «shôji» für verschiebbare Raumteiler gibt, lassen sich Saal und Raumschicht optisch trennen. Es ist keine gleichzeitige Nutzung der unterteilten Räume vorgesehen, weshalb mit dem Trennsystem keine Schallanforderungen erfüllt werden mussten. In der äusseren Raumschicht sind die Eingänge (zu drei Seiten), Garderobe, der Apérobereich und Nebenräume untergebracht; die Toi- letten finden sich ausserhalb des Pavillons im bestehenden Terassensockel. Die vom Trägerrost auskragenden Stahlträger verjüngen sich hier gegen aussen und begleiten so den Blick öffnend hinaus. An ihnen hängt ein Lochblech; im Raum dazwischen ist die gesamte Gebäudetechnik versteckt untergebracht.

Die gesamte Dachkonstruktion wurde vor Ort auf der Bodenplatte verschweisst und nachträglich mit Pneukran und drei Hilfsjochen inkl. Flaschenzügen auf die definitiven Stahlstützen gestellt (vgl. Abb. S. 40).

Unterbau: Stahlbau in klassischer Rohbauform

Die Konstruktion des Unterbaus ist als pragmatischer Rohbau konstruiert: Der auskragende Teil der Bodenplatte ist in Verbundbauweise erstellt worden, wobei die Bodenkonstruktion aus konventionellem Stahlbau mit 12 cm Überbeton besteht. Die Tragkonstruktion darunter ist in Mischbauweise aus Stahl und Betontragelementen, wobei der visuelle Eindruck und die vorgefundene Topografie die Bauweise diktieren – insbesondere bezüglich der Lagerung: Auf der einseitig der alten Stützmauer vorgelagerten Bodenkanzel steht ein hangparalleler Betonriegel, und über der daneben liegenden Mulde kragt eine Betonscheibe aus dem Technikraum. Alle Lasten werden über Pfähle in den Baugrund geleitet, und die ganze Montage erfolgte schwebend über steilem Hang und ohne Gerüst. Baubeginn auf der 840 m ü. M. liegenden und nach Norden exponierten Baustelle war im Oktober 2013, und Ende Juni möchte die Migros Aare den Pavillon bereits in Betrieb nehmen; die Räume sind jetzt schon gebucht. Deshalb war es unabdingbar, das Bauprogramm einzuhalten, auch wenn die Bauzeit in die beiden winterlichen Quartale des Jahres fiel. Es musste also bei jedem Wetter gearbeitet werden, weshalb alle Vorkehrungen für Winterbaumassnahmen in die Installation einzurechnen waren. Planende und Ausführende waren gefordert, und das Zeitkorsett war eng.

In der Unterkonstruktion widerspiegelt sich dies in besonderer Weise. Sie ist die Schnittstelle zur vorgefundenen Landschaft und, weil sie auskragt und ihre Fläche sichtbar macht, die sechste Fassade des Bauwerks. Anders als bei den ersten fünf Fassaden, die üblicherweise spät während der Ausführung erstellt werden, blieb bei dieser als letzte gezählten Fassade wenig Planungszeit, da sie als erste und sehr früh in der Bauphase erstellt wird.

Deshalb und weil sie nicht den Anspruch hat, begangen und begutachtet zu werden, ist sie grundsätzlich Mittel zum Zweck und entsprechend nicht wie der Überbau als feines Möbel konstruiert. Allerdings ist die Unterkonstruktion ein kostbares Mittel zum Zweck, denn sie hebt den Pavillon vom Gelände ab und ermöglicht die herausragende Platzierung des darauf gebauten Möbels. Erst dadurch sorgen Architekt Roman Lehmann und Bauingenieur Adrian Tschopp schliesslich dafür, dass das unaufgeregte Gelände des Gurtens nicht übermässig angegraben und prahlerisch erweitert wird. Dass die Unterkonstruktion dabei trotz ihrer hochwertigen Aufgabe Rohbau bleibt, ist kein Widerspruch, sondern eine Wertschätzung des funktionsgerechten Bauens an sich.


Anmerkungen:
[01] Mehr Infos unter: www.gurtenbahn.ch
[02] Benedikt Loderer, Sonderausgabe Hochparterre, «Aussicht, Landschaft und Architektur: Niedergang, Rettung und Erneuerung des Gurtens», Band 13, 2000.
[03] Berner Zeitung: «Gurten erhält neuen Pavillon», Bern 30.11.2012.

TEC21, Fr., 2014.04.25

25. April 2014 Clementine Hegner-van Rooden

4 | 3 | 2 | 1