Editorial

Am Ende geht es natürlich nicht ohne die berühmte Portion Glück.

Aber junge Architektinnen und Architekten brauchen mehr als nur Fortuna, um als Selbstständige so in den Beruf einzusteigen, wie es sich hunderte von Studierenden erträumen: Sie wollen bauen – mit eigenem Büro und unter eigenem Namen. Dafür sind sie vor allem auf Möglichkeiten angewiesen, ihre Ideen vorzustellen. Das ist in der Schweiz dank offenen Wettbewerben oder in Präqualifikationsverfahren mit Nachwuchsbonus möglich.

Damit solche Wettbewerbe zustande und junge Architekturbüros zum Zug kommen, sind noch zwei weitere Zutaten zwingend notwendig. Die erste ist Mut: Es braucht den Mut der Bauherrschaft, sich einer Vielzahl von Eingaben zu stellen – auf die Gefahr hin, dass am Ende ein Büro mit viel gestalterischem Potenzial, aber ohne Bauerfahrung das Rennen macht; und es braucht den Mut der unerfahrenen Gewinner, zu ihren Überzeugungen zu stehen, sich nicht einschüchtern zu lassen und auf die eigenen Kompetenzen zu vertrauen. Die zweite Zutat ist Klugheit: die Weitsicht der Bauherrschaft, sich für architektonische Qualität einzusetzen, und die Besonnenheit der jungen Architektinnen und Architekten, sich erfahrene Partner zu suchen.

In diesem Heft zeigen wir drei Erstlingswerke, auf die alle diese Voraussetzungen zutreffen. Die erfreuliche Nachricht: Mittlerweile konnten die drei jungen Büros weitere Wettbewerbe gewinnen und werden weitere Bauten realisieren. Der Anfang ist gemacht – und doch ist es mit der Architektur wohl anders als mit dem Geld: Da hat man es nur mit dem Erreichen der ersten Million schwer. So heisst es zumindest.

Barbara Hallmann

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ausschreibungen/Preise | Old School in Opfikon

12 PANORAMA
Akute Einsturzgefahr | «Die damaligen Bauwerke sind eben schwächer»

18 AM PULS DES BAUGESCHEHENS

21 VERANSTALTUNGEN

22 AUF ZUM START – NACHWUCHS IN DER ARCHITEKTUR
Barbara Hallmann, Judit Solt
Drei erfolgreiche Erstlingswerke: Was ist ihnen gemeinsam?

22 KLUGE PARTNERWAHL
Barbara Hallmann
Das Schulhaus in Thal-Buechen SG von Angela Deuber ist ein eigenwilliges Stück Architektur.

25 KLUGER EINSATZ DER MITTEL
Sonja Lüthi
Karamuk Kuo haben einen Kindergarten in Aadorf TG realisiert, der Kinder wie Erwachsene beglückt.

28 KLUGE BODENPOLITIK
Marina Hämmerle
Das Erstlingswerk von Armon Semadeni entstand in Planergemeinschaft mit erfahrenen Kollegen.

32 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Kluger Einsatz der Mittel

Der neue Kindergarten in Aadorf zeigt, dass ein knappes Budget die Schöpfungskraft beflügeln kann. Wie das Gebäude in Betrieb zu nehmen ist, scheinen die Kinder selbst am besten zu wissen.

Wie ein Erstlingswerk wirkt er nicht, der Kindergarten Aadorf, geplant vom Zürcher Architekturbüro Karamuk Kuo und bezogen im Oktober 2013. Zu bewusst und durchdacht erscheint alles. Das klare Raumkonzept funktioniert nicht nur, sondern gewinnt durch das lebendige Spiel der Kinder noch dazu. Die Akustik in den Gängen ist auch während der Pause angenehm. Die Materialisierung und die Detaillierung wirken nirgends billig – und das, obwohl für die fünf Kindergartenräume und die Umgebungsgestaltung am Steilhang nur 4.25 Millionen Franken zur Verfügung standen.

Hinter dem Namen Karamuk Kuo Architekten stehen Ünal Karamuk und Jeannette Kuo. Karamuk hat türkische Wurzeln und ist in der Schweiz aufgewachsen, Kuo ist in Indonesien geboren und hat ihre Ausbildung bis zum Architekturstudium in den USA absolviert. Kennengelernt haben sich die beiden vor gut zehn Jahren in Harvard, wo Kuo ihren Master machte und Karamuk von der ETH Zürich aus ein Austauschjahr absolvierte. Dass sie sich 2009 entschieden, ihr eigenes Büro in der Schweiz zu gründen und nicht in den USA, liegt unter anderem an den enormen Hürden, mit denen junge Büros in Amerika konfrontiert sind, wie Kuo erklärt. Offene Wettbewerbe für Bauprojekte gebe es in den USA nicht, und bei Wettbewerben mit einer Form von Präqualifikation seien die Teilnahmebedingungen für junge Büros schlicht nicht einzuhalten. Architektur werde in den USA als Luxusprodukt wahrgenommen, fasst Kuo zusammen: «Entweder man kann sich einen Star leisten, oder man baut sich sein Haus gleich selber.»

Den Auftrag für den Kindergarten im thurgauischen Aadorf verdankt das junge Büro einem 2010 lancierten Wettbewerb mit Präqualifikation, zu dem zwei Nachwuchsbüros zugelassen wurden. Mit einer windmühlenartigen Anordnung der fünf Kindergartenräume um den Erschliessungsbereich, der so zum «vielseitig nutzbaren Erlebnisraum» wird, überzeugten sie die Jury und erhielten den ersten Preis. Bis das Bauprojekt genehmigt wurde, sollte es allerdings noch ein Jahr und zwei Volksabstimmungen dauern. Für Widerstand sorgte in der ländlichen Gemeinde insbesondere der politische Grundsatzentscheid, alle fünf Kindergärten in einem Gebäude zu konzentrieren. Kritik an der architektonischen Lösung gab es laut Kuo aber nie. Überhaupt waren sie vom Vertrauen überrascht, das ihnen durchwegs entgegengebracht wurde. Nach dem Wettbewerbserfolg wollte der Schulpräsident ihr Büro besichtigen. Damit schienen auch die letzten Zweifel beseitigt. Drei Jahre später die Bestätigung: «Super!» – so lautet die einstimmige Bewertung des neuen Kindergartens in Aadorf durch sechs Fünfjährige. Zu bemängeln haben die Kinder auch auf ein zweites Nachfragen hin nichts. Einzig die Lehrerin hätte sich eine Steckwand mehr gewünscht; das ist dann aber schon alles.

Befreiter Korridor

Der Neubau liegt nahe dem Zentrum von Aadorf, das allerdings nicht aus viel mehr besteht als einem Gemeindehaus, einer Durchfahrtsstrasse und einer Fussgängerunterführung. Im Osten schliesst der Kindergarten an die bestehende Schulanlage an und schafft zusammen mit dem alten Primarschulhaus einen kleinen Vorplatz und Eingangsbereich. Gegen Süden fällt das Gelände steil zum Bahntrassee hin ab und gibt den Blick auf die gegenüberliegenden bewaldeten Hügel frei. Da das Gebäude in den Hang eingebettet ist, ist vom Schulhof aus gesehen nur das obere von zwei Geschossen sichtbar. Die niedrige Gebäudehöhe, vor allem aber der metallisch graue Anstrich der Holzverkleidung verleiht dem Bau eine unscheinbare, allerdings auch etwas abweisende Erscheinung. Die für einen Kindergarten atypische Farbwahl erklärt die Architektin damit, dass der Bau in erster Linie «Hintergrund» sein soll. Im Farbton der nahen Wälder gehalten, schafft er den Rahmen für die Aneignung durch die jungen Nutzer.

Einzige Farbtupfer in der Fassade sind die Aussentüren aus perforiertem Metall. Von gelb bis grün abgestuft schaffen sie eine direkte Verbindung zwischen innen und aussen. Das ist entscheidend: Weil jeder der fünf Kindergartenräume einen eigenen Ausgang hat, ist der Korridor von seiner Funktion als Fluchtweg befreit und kann nach Belieben genutzt werden. Welchen Reichtum das eröffnet, lässt sich kaum über Fotos erahnen. Man muss es erlebt haben, am besten während einer Zehn-Uhr-Pause. Dann tummeln sich die Kinder in den vielfältigen Nischen des kreuzförmigen Korridors, auf und unter der einläufigen Treppe, wobei die Vielfalt an Nutzungsmöglichkeiten nahezu unbeschränkt scheint.

Die Wände dieser Begegnungszone sind mit geöltem Sperrholz verkleidet, der Boden ist ein simpler grobkörniger Unterlagsboden, eingefärbt, geschliffen und mit einer Schutzschicht versehen. Die Türen zu den Kindergartenräumen haben je eine andere Farbe, ebenso die «Infrastrukturwand», die jedem einzelnen Zimmer zugeordnet ist und Stauraum sowie Lüftung enthält. Die Böden in den Kindergartenräumen sind mit Kautschuk belegt. Hochwertigere Materialien kommen nur dort zum Einsatz, wo der Gebrauch dies erfordert, zum Beispiel Eiche auf dem Handlauf der Treppe oder in den Sitznischen der Fenster. Ansonsten ist die Materialwahl kostengünstig, wirkt aber trotzdem hochwertig; die Architekten scheinen das enge Budget weniger als Hindernis betrachtet zu haben denn als Inspirationsquelle. Das zieht sich bis nach aussen, wo die Spielplatzgestaltung zur Kunst deklariert und das Kunst-am-Bau-Budget entsprechend eingesetzt wurde. Die Projektverfasser betonen die exzellente Projektabwicklung durch das beigezogene Baumanagementbüro. Nur die behelfsmässigen Fugen im Kautschuk bereut Kuo. Über Nacht waren die Fenster nicht geschlossen worden, und ein Sturm warf den frisch verlegten Kautschuk auf. Doch das sind Details.

Heute zählt Karamuk Kuo Architekten insgesamt acht Mitarbeiter. Auf den Kindergarten Aadorf folgten zwei weitere Wettbewerbserfolge: eine Schulhauserweiterung mit Turnhalle in Rapperswil-Jona und ein Kompetenzzentrum der Sportwissenschaften auf dem Campus der Universität Lausanne – beide das Ergebnis offener Wettbewerbe. Angesichts dieser Erfolgsstory dürfte der persönliche Wunsch der Architekten zunächst überraschen: Sie würden gern ein Einfamilienhaus realisieren. Dass sie die dafür erforderliche Kompetenz besitzen, «Do-it-yourself» zu Luxus zu machen, beziehungsweise die Mitgestaltung durch die Nutzer zur Qualität, haben sie mit ihrem Erstlingswerk bereits bewiesen.

TEC21, Mo., 2014.04.14

14. April 2014 Sonja Lüthi

Kluge Partnerwahl

Die Kinder in Buechen haben ein neues Schulhaus. Dass das eigenwillige Gebäude ohne Abstriche realisiert werden konnte, ist dem Mut der jungen Architektin zu verdanken – und dem Ingenieurbüro, das sie begleitet hat.

Das Postauto von Rorschach fährt über den Hügel in einer weiten Kurve die Strasse nach Buechen hinunter. Rechts und links hundertjährige Häuser mit Holzschindelfassaden, dazwischen 1960er-Jahre-Bauten und immer wieder auch zeitgenössische Einfamilienhäuser. Von allem etwas, wohl ein typisches Dorf für diese Gegend. Und dann das: Der Bus fährt genau auf die Ecke eines Baus in Sichtbeton zu, der so gar nicht zu seiner Umgebung zu passen scheint. Der erste Eindruck lässt spontan an ein Tangram denken, das klassische Legespiel aus sieben verschiedenen Dreiecken. Der Bus kommt genau vor dem Schulhaus zum Stehen – es ist die einzige Haltestelle in der kleinen Teilgemeinde Buechen des Orts Thal. Buechen hat kein eigentliches Zentrum, keinen zentralen Platz, der die Ortsmitte markiert. Es gibt die Bushaltestelle, daneben einen Fussballplatz, ein Stück weiter die Kirche. Aber die neue Schule, eingeweiht im Sommer 2013, könnte ein solches Zentrum werden.

Doch gehen wir zurück auf null. Dort, wo heute die Grundschule steht, befand sich bis vor einigen Jahren ein Schulhaus von 1879, ein schwerer Bau mit markantem Sockel. Er entsprach nicht mehr den feuerpolizeilichen Sicherheitsanforderungen und schon gar nicht den Vorstellungen davon, wie Schule heute sein soll, mit Räumen für modernen Unterricht in ständig wechselnden Konstellationen. Also lobte die Gemeinde 2009 einen Wettbewerb mit Präqualifikation aus, in dem speziell auch junge Architekturbüros eine Chance erhielten. Gewonnen hat ihn Angela Deuber aus Chur. Die Architektin, die 2002 ihren Abschluss an der ETH gemacht hatte, konnte bis auf einen Stallumbau im Direktauftrag keinerlei Ausführungserfahrung vorweisen. Sie entschied sich für einen mutigen Vorschlag: einen Solitär, keinesfalls auf den ersten Blick gefällig oder leicht zu verstehen. Und die Jury entschloss sich, das Projekt auf dem ersten Platz zu rangieren.

Schliesslich hiessen die Thaler Bürger einen Kredit von 7.3 Mio. Fr. für das neue Schulhaus gut. Auch das zeugt von Mut – wenngleich die Entscheidung mit nur 52 mehr Ja- als Nein-Stimmen knapp ausging. Vor der Abstimmung galt es für Angela Deuber, öffentlich für ihren Vorschlag einzustehen. «Aber das war gar nicht so schwierig», erinnert sie sich. «Das Projekt ist am Ende leicht zu erklären, der Entwurf kann auf alle Anforderungen und Wünsche eingehen, und der gesamte Bau ist im Vergleich zu anderen Schulbauten günstig.» Nach der öffentlichen Diskussion gab es lediglich kleine Anpassungen, zum Beispiel Toiletten auf jedem Stockwerk statt wie ursprünglich geplant nur im untersten der drei Geschosse. Die Kostenschätzung – auch das mag angesichts der geringen Erfahrung der Architektin am Ende manchen Thaler Bürger, manche Bürgerin erstaunt haben – wurde am Ende nicht nur eingehalten, sondern unterboten. 630 Franken pro Kubikmeter standen auf der Schlussrechnung; ein akzeptabler Wert für einen Bau im Minergie-Standard.

Dass die Schule für vergleichsweise wenig Geld entstehen konnte und sich für eine etwaige Umnutzung doch flexibel zeigt, verdankt die Gemeinde vor allem der Konsequenz des Entwurfs: Angela Deuber entkoppelte die Trag- von der Raumstruktur und legte alle tragenden Elemente gut sichtbar in die äussere Schicht des Baus. Jedes Element im so entstandenen, regelmässigen Stützensystem ist nur so ausgeprägt, wie es statisch mit diesem Material tatsächlich notwendig war. Aus dieser Überlegung – und nicht etwa aus Formalismus heraus – ergeben sich auch die diagonalen Linien der Fassade und das Spiel zwischen massiv und leicht. Aus den Fluchttreppen an zwei der vier Gebäudeecken, aus dem Geländegefälle und aus den Kollisionen der Formen ergeben sich interessante Brüche, wie die zwei schrägen Stützen bei den Eingängen vorn und hinten. Im Inneren, wo die frei tragenden Decken statisch wirksame Bauteile überflüssig machen, dominieren rechte Winkel und damit klare Strukturen und Wege. Die statische Funktion jedes tragenden Bauteils ist im Prinzip ablesbar – wenn es die Lehrerinnen und Lehrer nur richtig erklären, können die Kinder leicht verstehen, wie dieses Haus funktioniert.

Doch die rein konstruktiv bedingten Formen vermitteln am Ende doch noch zwischen dem Schulhaus und seiner Umgebung: Beim Blick von drinnen nach draussen gleichen die stumpfen Winkel der Fenster denen der geneigten Dächer in der Umgebung; in der Perspektive greifen sie das Bild eines Dorfs am Hang auf, das Buechen ja ist. Und auch sonst interpretiert das Schulhaus ortsübliche Gegebenheiten neu: Ein Mäuerchen fasst das Wiesengrundstück, auf dem 19 Apfel- und ein Nussbaum stehen.

An der Geschichte des Schulhauses Buechen lässt sich ablesen, welche Vorteile es haben kann, junge Büros zu beauftragen, die über wenig oder keine Ausführungserfahrung verfügen. Angela Deuber wusste, dass diese erste Bauaufgabe ihr einiges abverlangen würde, und liess sich von erfahrenen Berufskollegen beraten. Sie bestand nachdrücklich darauf, einen versierten, von ihr selbst gewählten Bauleiter an der Seite zu haben – auch gegen anfängliche Widerstände des Auftraggebers. Aus dem gleichen Grund arbeitete die Architektin mit dem bewährten Ingenieursteam um Patrick Gartmann zusammen, das sie bereits kannte.

So sicherte sie ihren stark konstruktiv bedingten Entwurf bis zur Schlüsselübergabe – schliesslich wollte sie vermeiden, direkt bei der ersten Bauaufgabe in einen Teufelskreis von Zugeständnissen und Änderungen zu rutschen. Doch der wohl wichtigste Vorteil der jungen Architektin: Sie konnte sich während der gesamten Planungs- und Ausführungszeit ganz und gar dieser einen Baustelle widmen, hatte sie doch weder weitere Bauten in Realisierung noch ein Büro zu leiten und Mitarbeiter zu führen. Die Arbeit am Schulhaus war auch für Angela Deuber eine lehrreiche: Sie werde, so sagt sie, beim nächsten Projekt wieder so entschieden auftreten und für ihre Überzeugungen einstehen – wenn nicht sogar noch entschiedener.

Für Buechen ist das neue Schulhaus eine Erfolgsgeschichte. Dank ihm können die Kindergärtler und Unterstufenschüler im Dorf bleiben; dafür hatte sich der Gemeindepräsident – ein Buechener – vehement eingesetzt. Und der Ort gewinnt dank der ausdrucksstarken Architektur von Angela Deuber ein wiedererkennbares Zentrum, das Identität schaffen wird.

TEC21, Fr., 2014.04.11

11. April 2014 Barbara Hallmann

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