Editorial

Zwei Monate sind seit der 4. Ausgabe unseres urbanize!-Festivals schon wieder vergangen und während wir noch von Citopia träumen, beschäftigen wir uns im Schwerpunkt dieser Ausgabe mit öffentlichen Räumen als »spatial catalysts for social change, seeking to foster an understanding of robustness of places by revisiting the resilience debate through the focus on rhythm.« wie Aglaée Degros, Sabine Knierbein und Ali Madanipour, die RedakteurInnen des Schwerpunkts, in ihrem Ein­leitungsartikel schreiben.

Resilience hat als Begriff seit einiger Zeit ja eine bemerkenswerte Konjunktur zu verzeichnen. Ursprünglich aus den Naturwissenschaften stammend, macht Resilience als Konzept nun in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Karriere und ist – wie obiges Zitat andeutet – nicht ganz unumstritten. Von politisch Verantwortlichen wird Resilience gerne als Allheilmittel angesehen und von manchen nicht zuletzt deswegen angepriesen, um den Rückzug des Staates zu rechtfertigen und die Verantwortung der Kommunen abzuschieben. Mehr darüber und über ein ganz konkretes Brüsseler Beispiel (Kessels’ space) erfahren Sie im Einleitungsartikel zum Schwerpunkt.

Um der Debatte über Resilience eine andere Perspektive zu geben und der dem Begriff anhaftenden Vorstellung von Kontinuität, Dauer und Wiederherstellung der Verhältnisse etwas entgegenzusetzen, versieht dieser Schwerpunkt den Begriff der Resilience mit der Komponente »Rhythm«. Dabei beziehen sich die AutorInnen des Schwerpunks auf die im Buch Rhythmanalysis: Space, Time and Everyday Life posthum erschienenen Thesen Henri Lefebvres.

Die vielfältigen Texte des vorliegenden Schwerpunktes beschreiben und analysieren nicht nur unterschiedliche Situationen, sie rücken dafür auch jeweils eine andere Stadt ins Zentrum der Betrachtung. So beginnt die Reise in Brüssel und bei den Geschehnissen rund um Kessels’ space, bevor der Atlantik überquert wird, um mit Stéphane Tonnelat am Pier 84 in Manhattan zu ankern. Zurück in Europa geht es an den Schauplatz Athen, wo Richard Woditsch die beeindruckende Adaptionsfähigkeit der Polykatoikia bzw. Le Corbusiers Maison Dom-ino analysiert. Von dort reisen wir weiter auf das Tempelhofer Feld in Berlin, dessen Atmosphäre Nikolai Roskamm mittels eines Fotoessays visuell einfängt. In Budapest drängelte sich die Népszínház utca als Studienobjekt geradezu auf, wie Ian Cook in seinem Beitrag schreibt. Seine Studie ist schlussendlich eine Art Liebeserklärung an die Straße und ihre Menschen geworden. Die vorletzte Station der urbanen Forschungsreise bildet Istanbul. Im Zentrum des Beitrags von Susanne Prehl and Senem Zeybekoglu Sadri steht der Versuch, der Erdbebengefahr in der Megacity zu begegnen, was durch den Immobilienboom nicht gerade erleichtert wird. Der Abschluss des umfangreichen Schwerpunkts findet in Priština statt. Karin Norman zeigt eine Stadt, deren Bevölkerung mit Kriegszerstörung, Arbeitslosigkeit, Migration und der preistreibenden Anwesenheit der Internationals konfrontiert ist. Sie beschreibt die ganz unterschiedlichen Strategien – im Speziellen auch jene der Kinder – den Alltag zu bewältigen und verweist auf die vielen Schichtungen der wechselhaften Geschichte der Stadt.

Das Kunstinsert dieser Ausgabe stammt von Martin Krenn, dessen Arbeiten wir in dérive schon öfter vorgestellt haben. Thema seines als World’s End betitelten Beitrags ist ein Ort in Nordirland, der auf Landkarten nur als weißer Fleck existiert, weil dort die britische Armee seit Jahrzehnten stationiert ist.

Der Magazinteil bringt nach langer Zeit wieder einmal einen literarischen Text. Wir freuen uns über den Abdruck eines Auszugs aus Thomas Ballhausens jüngst erschienenem Roman Lob der Brandstifterin. Der ethnographische Essay von Robert Rothmann über Architektur, Graffiti und Überwachung setzt sich in Bild und Text mit jenen Nischenorten in Wien aus­einander, die sich durch das Vor- und Zurückspringen der alten Häuserfluchten ergeben. Das Thema von Peter Neitzkes Text ist eine Straßenbeobachtung ganz anderer Art: Er beschreibt sozusagen eine Beobachtung der Nicht-Beobachtung – verursacht durch den ständigen und allgegenwärtigen Blick auf das Smartphone und seine virtuell vermittelte Wirklichkeit.

Angeblich, und wie wir meinen völlig überflüssigerweise, gibt es sogar Stadterforschungs-Apps, die manche Menschen offenbar benötigen, um sich durch die Stadt treiben zu lassen. Wir setzten hier klar auf analog und haben die Utensilien zur Durchführung des von uns entwickelten Stadterforschungsspiels laboratoire dérive in einen handlichen Spiele-Karton gepackt. 50 Stück der in Handarbeit produzierten laboratoire dérive Edition legen wir auf – komplett old school und Stück für Stück im dérive-headquarter hergestellt. Wenn Sie eines davon zusammen mit einem Jahres-Abonnement zum wohlfeilen Preis von 39 Euro (plus Versandkosten) erwerben wollen, dann schreiben Sie uns – schnell.

Wie vorteilhaft es immer wieder ist, dérive-Abonnent zu sein, zeigt sich diesmal an einem besonderen Extra, das alle AbonnentInnen als Geschenk bekommen haben: Ein Exemplar der Publikation Urbanity – The Discreet Symptoms of Privatization and the Loss of Urbanity mit Beiträgen von Slavoj Žižek, Jennifer Friedlander, Robert Pfaller, Elke Krasny, u.v.m. Sollten Sie Ihr langgehegtes Vorhaben ein dérive-Abo zu bestellen jetzt in die Tat umsetzen wollen, werfen Sie einen Blick auf die nächste Seite. Wenn Sie zusätzlich planen Ihre dérive-Sammlung zu vervollständigen: Bis Ende Jänner gibt es 6 Hefte Ihrer Wahl um sensationelle 25 Euro (plus Versandkosten), ausgenommen sind natürlich die vergriffenen und fast – vergriffenen Hefte 3, 10, 14, 23, 25, 30, 31, 37, 39, 40/41, 46, 49, 50. Nun aber genug der Werbedurchsagen, Sie wissen, was Sie zu tun haben.

Und wir?
Wir wünschen Ihnen ein gutes, neues Jahr!
Christoph Laimer, Elke Rauth

Inhalt

01 Editorial Christoph Laimer

Schwerpunkt
04 — 09 Resilience, rhythm, and public space. Shaping robust environments
Aglaée Degros, Sabine Knierbein & Ali Madanipour

10 —14 The role of users in processes of urban resilience. The career of Manhattan’s Pier 84
Stéphane Tonnelat

15 — 18 Resilience and variability in space and time
Richard Woditsch

19 — 21 im reich der wunder. Tempelhofer Feld, Berlin
Nikolai Roskamm

22 — 26 And the Street Goes on: Everyday Acts of Resilience in Budapest
Ian Cook

27 — 31 Istanbul – City of Risk. Public space planning for risk mitigation
Susanne Prehl, Senem Zeybekoglu Sadri

Kunstinsert
32 — 36 World’s End
Martin Krenn

37 — 42 Prishtina: shifting experiences of places in a ›post-conflict‹ city
Karin Normann

Magazin
43 — 46 Lob der Brandstifterin
Thomas Ballhausen

47 — 50 Physical Disorder oder Urban Culture? Ein ethnographischer Essay über Architektur, Graffiti und Überwachung
Robert Rothmann

51 — 52 Straßenbeobachtungen: Das Smartphone im Stadtalltag
Peter Neitzke

53 — 56 Serie: Geschichte der Urbanität, Teil 42
Postmoderne VIII: Die Stadt als Archipel der Kapseln (Teil 2). Kapsel und heterotopischer Urbanismus
Manfred Russo

Besprechungen 57 — 62
57 … »hinter dem nylonvorhang«? Architektur und Urbanismus Südosteuropas
58 Der Raubzug in Berlins Mitte
60 Los Angeles oder das Ende der Vergangenheit
61 »Haltung und Handlung zugleich«


dérive – Radio für Stadtforschung
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The role of users in processes of urban resilience

(SUBTITLE) The career of Manhattan’s Pier 84

Community involvement in the renewal of urban public sites can lead to the disappointment of residents who feel ultimately used by planning processes. Looking at the career of a pier on the Hudson River on the west side of Manhattan, I show how residents can still have an influence over the design of public space by defending already existing uses, which prove more resilient to change over years than ideas advocated within the official participatory process.

In this paper, I look at the »career« of a site, a pier on the Manhattan Hudson riverfront in New York City, over a period of 15 years, in order to show that the uses developed by in­habitants, such as rowing and gardening, show a remarkable continuity despite a process of urban renewal that tends to ignore them. Uses appear quite resistant to change, and, in this case, to the enforced transformation of an urban space into a semi-public open space. They show the resilience of another conception of a public space, that of a co-produced common good, where inhabitants are co-hosts together with the city administration.

The career of a site

I borrow the concept of »career« from the sociological tradition of Chicago to identify, describe and analyze two simultaneous but distinct processes of construction of an urban public space, both in the spatial and political sense, in the same location: a former derelict pier on the New York City Hudson riverfront. Officially, the pier was reclaimed from a derelict past as an »open space« managed by a trust put together by the City, the State and private investors. Its renovation benefited from a large community involvement in numerous meetings and other participatory venues. I call this side of the story the institutional career of pier 84 and I equate it with a notion of local democracy infused with the notion of the public sphere, where public matters are ideally discussed in open assemblies ruled by the expression of reasonable opinions. But the pier also bears striking resemblances to its former supposedly abandoned state, when residents used it for gardening, rowing or fishing. It hosts a collectively run community boathouse and a community garden, which were fought for, not only through official participatory channels, but via a relentless advocacy for activities that already existed at the time of the project. I call this part of the story the experiential career of Pier 84. I equate it with another tradition of local democracy more respectful of actual uses than of abstract conception of public space. Although less visible than the institutional career, I contend that the examination of the experiential career is necessary to understand the influence of residents on the final design of this public space and to better understand the two different conceptions of local democracy which guide their action.

Urban interstices and renewal

Urban interstices are pieces of land seemingly abandoned by their landlords for more or less durable periods of time throughout metropolitan areas. They are the varied collection of leftovers and by-products of urban development and decay. As sites temporarily devoid of official function (Tonnelat 2008), they are usually cast aside as land reserve by their owners. They dot the urban fabric of »wastelands«, »brown fields«, »fallow lands«, »embankments« and other administrative and technical ways of describing uselessness. Some of these sites are difficult to reclaim so much they are cluttered with legal and technical constraints. Others are merely waiting to ripen for re-investment after periods of neglect, most often in areas targeted by renovation, gentrification or development.

The career of urban interstices

In many cases, the users’ and the developers’ perspectives are irreconcilable. People are evicted or projects scrapped all together. The history of the site is then identical to a one-sided story narrated by planners. In some situations however, negotiations happen, concessions are granted and perspectives are redefined both at the institutional and at the individual levels. This mutual reworking of perspectives defines the career of a site. In the sociological tradition of Chicago, it encompasses two levels, which Goffman (1961) calls objective, from the point of view of the institutions, and subjective, from the point of view of the individual. In the case of a piece of land, I argue that the subjective side of the career is made out of the successive perspectives built by users over a long period of time, which bridge and overlap the more official stages of the site’s career. I call it the experiential career of the site in order to tie together the physical environment and the practices that users develop there. Whereas the institutional career is made of discrete statuses, clearly identifiable, the experiential career reveals more durable user involvements, activities and projections that sometimes end up bearing a stronger influence on the evolution of the built environment than is usually recognized. In this regard, the concept of career is an interesting tool to make visible singular perceptions otherwise muted. It is also consistent with the conception of urban space as the result of processes that span long periods of time, within which the involvement of many actors can vary and shift. The concept of career is more than a descriptive tool. It also allows researchers to compare perspectives and acquire a more distanced analysis of the question at hand (Darmon 2008). In the case of the career of an urban site, it opens the analysis of inhabitants’ involvement in the transformation of their spatial environment in terms of two distinct conceptions of public space and local democracy, that of an open space and that of a common space.

The official story of Pier 84

Pier 84 is located on the Manhattan Hudson Riverfront in the re-branded Clinton District (previously called Hell’s kitchen), on the West side of Manhattan between 34th street and 57th street. This middle class low-density neighborhood is sought after by developers as the commercial real estate boom in the Times Square area, to the East, and the transformation of the previously industrial waterfront into a leisure-oriented area, contribute to raise the price of residential buildings stuck in the middle.

Without an official function for a long time, Pier 84 was recently renovated and touted as one of the largest open spaces of the new Hudson River Park, along the Manhattan western waterfront. Its official history is written in a few key steps on glossy paper in a brochure printed by the Public Trust, in charge of its maintenance and development. It culminates with the adoption of the bill that created the park and the Trust in the NY State Assembly.

Situated between the Intrepid Sea-Air-Space Museum and the well-traveled Circle Line and World Yacht Cruise ships, Hudson River Park’s Pier 84 has a long history. Prior to falling into disrepair in the 1980’s, when it was used by the City as a parking lot, Pier 84 was one of the Cunard Line’s passenger ship piers, making it the arrival place for thousands of immigrants to the U.S. in the early 20th Century. From there they were shuttled by ferry boat to Ellis Island for processing. In the 1990s a group of community activists created the Friends of Pier 84 to advocate for its reopening to the public as open space and for incorporation into the Hudson River Park plan. As a result, the Pier was designated a new public park pier in the Hudson River Park Act in 1998. (Hudson River Park brochure 2007)

The institutional career

This short official story sketches the institutional career of Pier 84. Much like the moral career of a person affected by a malady, made up of specific stages going from pre-patient, to patient to post-patient (Goffman 1961), the official history of Pier 84 is presented as a succession of generic statuses going from a functional port, to abandonment, to a space functional again. Of course, this simple story masks the economic stakes of the operation, as the renovation of the pier with public money promises to spur the gentrification of the neighborhood and evict residents who were users of the derelict pier. It does this by enrolling the residents in its narration of renewal.

The enrollment of residents into the planning of an open space

In 1994, a group of residents in Hell’s kitchen got together to oppose the taking over of a derelict pier on the Hudson waterfront by a heliport boat, the Guadalcanal, moored perpendicular to the aircraft carrier known as the Intrepid Museum. The residents eventually won the fight, which led to the creation of a local grassroots, Friends of Pier 84 (FOP84). They opened the pier to a host of activities such as gardening, rowing, fishing, dog running and more. These uses made the pier a known new public space in the neighborhood and transformed the grassroots into a recognized interlocutor of the City and State administrations. The leaders of the grassroots then enrolled their group in an official participatory process, which allowed them to advocate for the pier as a »public space« in the future Hudson River Park project. For this however, they had to format their discourse and actions to make them compatible with the planning process.

Three steps can be distinguished in this institutional career. First, FOP84 enlarged its original goal, of using the pier, to defending its accessibility for the whole neighborhood. This step required a reframing of its arguments in terms of public access that allowed it to gain a new legitimacy. Second, FOP84 became a member of the Hudson River Park Alliance, a not for profit organization created to support the larger Hudson River Park Project. At its meetings, FOP84 had to find a vocabulary of advocating for a public pier, shared with environmental organizations ranging from regional to national in their scope. This step led to a dilution of their demands into an abstract conception of the park and the pier that prevented them from defending actually existing uses.

Finally, the leaders were enrolled to stand on several public stages next to elected officials and park defenders. The most notable one saw them, in April 1998, on the pier itself, contrasting its derelict state with a gleaming project on a prospectus (see Figure 1).

»We are now calling the governor and the mayor to join us in what will be a marvelous waterfront which will stop the rotten piers, the derelict waterfront and will give us the Hudson River Park.«
(President of Friends of Pier 84, April 1998)

These successive steps enrolled FOP84 into a specific vision of public debate and public space as guaranteed by a social contract with State and private intermediate institutions in charge of their maintenance.

How the residents lost the pier

Coincidentally, the vote of the Hudson River Park Act, which officially marked the return of the pier to official life after years of dimmed existence, also corresponded to a closing of its physical space well before reconstruction. City officials announced that worms, called marine borers, were chewing up the wooden piles, and that the pier was in danger of collapse. It was a matter of public safety. It was quickly closed and fenced off to neighborhood residents and activists. The leaders of Friends of Pier 84 were powerless. They had won the fight to preserve the pier from commercial development, but they had lost the use of the actual space. They cancelled all summer activities and reverted to a sustained push for a public pier, although then only on paper. They found refuge in an imagined space, a new design, that they advocated in the participatory process put together by the Hudson River Park Conservancy to insure community input. They thus moved from a users’ and manager’s perspective to a planner’s perspective. Their role was indeed instrumental in bringing grassroots support to the plan and bringing both the Governor and the Mayor to put their signature on the Bill.

In 2006, another 8 years later, the rebuilt pier finally opened as one of the main »open spaces« of the new Hudson River Park. It is since then managed as a quasi-public space (Mitchell & Staeheli 2006) by a public authority, which periodically rents it out for private parties aimed at financing the facility. A café and a souvenir and bike rental shop also bring revenues to the park conservancy. FOP84 is a defunct organization. The residents have never regained the influence they had built over the pier, its activities, its maintenance and its social order. A contested history of the site was erased and a new design unfolded on a supposedly clean slate. The words of its leader, back in 1998 when the pier was closed, still ring true: »We have a park pier, but we have no pier!« Indeed, former FOP84 members are now no more than guests in the very site they contributed to save and maintain.

An interesting framing process of the inhabitants’ mobilization is thus highlighted by the concept of institutional career. It was observable through the successive actions of the leaders of FOP84 on different public stages, where they each time aligned their own discourse, used to motivate members, with the institutional vision defended by the Hudson River Park Conservancy. The leaders of the group were thus brought to redefine the pier and their own relation to it in a way that lead to the erasure of the interim years of informal uses and progressively changed the users into guests or consumers of a space open to them by a public authority. This process, bringing together the representation of space of the planners and the representational space of the users into a new design and practices (Lefebvre 1974), denotes the important work provided by developers to recycle the interstitial years of the pier and its users into the definition of a new space that erases conflicts and builds an apparent consensus between elected officials, local residents, and developers.

The result of this process is an »open space« managed by semi-public administrations and open to guests. Their conception of local democracy lies in the hands of power brokers in charge of carrying the input of citizens to the right institution.

The experiential career and public space as a common good

Not everybody was sold to the participatory process put together by public authorities and developers. Missing from the institutional career are the users, people who actually engaged with the built environment on a daily basis. Their influence on design, maintenance and management, despite being quite real, is commonly ignored or even erased in order to make way for institutional visions.

Although credit was only given to FOP84 for saving the pier from dereliction, the layout of the pier today bears intriguing resemblance to the wasteland years. A community boathouse, a community garden and a dog run shelter activities that all predate the park and mark a strong continuity with the interstitial years of official abandonment. How did they re-surface and how did they manage to find place in the new design? The institutional career cannot explain how they were able to find a home on the pier, despite plans that originally did not include them. This is where the concept of the experiential career sheds a different light on the renovation process.

It helps trace the history of the pier as it was narrated through definitions of the situations expressed by residents not involved in the official participatory planning process, but more concerned with actual activities on the pier. These users relied on a different conception of space, one less easily co-opted by dominant views and, more importantly, one that resisted the closing of the pier in 1998. The plants and the boats were transferred to nearby land areas and other sites in the city, where the same body movements kept the uses alive and reenacted the space of the pier (Low 2009).

Subsequently, these users were able to defend their vision for a boathouse and a garden in a variety of local political arenas using arguments based on actual shared experience, and not just on future projects. This letter by the leader of a rowing group illustrates this point well.

As most of you know, through personal experience, grape vine or the press, community volunteers working with Floating the Apple (FTA) have been building Whitehall boats, of a type traditional to NY Harbor. […] Some of you rowed during the past two summers with FTA’s fee-free community rowing program. Those who have frequented Pier 84 since last June, have seen the temporary boat-housing comprised of 40-foot cargo containers. (Open letter to Members of Clinton’s Block Associations, February 1998)

Their fight, detached from the grassroots’ own defense of an abstract public space, was supported by a continuing practice of gardening and rowing that they were able to present neither as a projection of future needs, nor as an expression of public reason, but as already existing activities, and this despite the lack of a physical location from spring 1998 to 2006. The local and national press ran stories about these activities, which made them known beyond the neighborhood. The support that they managed to gain locally and beyond largely explains the presence of these amenities today.

Two conceptions of public space and democracy

The experiential career is tied to the institutional career. The official stages of a site’s career are marked by events that bring together the main institutional players and local users. The closing of the pier in 1998 was one of these defining moments, imposed from up top, forcing local residents to reconsider their involvement with the site, while it pushed the grassroots organization to ally with the planners.

The career is a concept that helps identify both perspectives, each one corresponding to a different conception of public space in the same physical site. On the one hand, an »open space« is managed by public authorities and made accessible to a generic public, who has no control over the site. On the other hand, the boathouse and the community garden are amenities run by and for residents of the neighborhood and open to visitors. Their public is made of users who become co-hosts of a place regarded as a common good.

The two sides of the career of Pier 84 are illustrative of two ways of thinking about public participation in urban design. The dominant one is predicated on public participation. It has been slowly integrated into the laws and practices regarding the design of public spaces. I contend that it contributes to marginalize users’ initiatives and experience in profit of an abstract and in fine economically driven conception of space. The second is based on the defense of actual uses via a transmission of their experience to a wider public. This perspective is not well accepted today in the planning world, as are not well accepted the boathouse and the garden on Pier 84. These two resources are coveted by the Park Conservancy and private organizations, which would gladly turn them into more controlled and profitable businesses. Considering these rather ignored modes of mobilization revealed by the experiential career explains the resilience of these activities over time and enriches the analysis that the social sciences develop about local democracy and political participation in urban projects. It can also help urbanites better understand the advantages and limits of their own positions within urban renewal processes. They could be more wary of the dominant rhetoric of participation and more confident in their ability to defend already existing uses.


Bibliography:
Darmon, Muriel(2008). La Notion De Carrière: Un Instrument Interactionniste D’objectivation. In: Politix n° 82 (2): 149–167.
Goffman, Erving (1961): Asylums; Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates. Garden City, N.Y.: Anchor Books.
Lefebvre, Henri (1974): La Production De L’espace. Paris: Anthropos.
Mitchell, Don & Staeheli, Lynn A. (2006): Clean and Safe? Property Redevelopment, Public Space and Homelessness in Downtown San Diego. In: Neil, Smith & Low, Setha (eds): The Politics of Public Space. New York, NY; London: Routledge.
Low, Setha M. (2009): Towards an Anthropological Theory of Space and Place. In: Semiotica (175) (June): 21–37.
Tonnelat, Stéphane (2008): ›Out of Frame‹: The (in)visible Life of Urban Interstices. In: Ethnography: 34

dérive, Mo., 2014.02.24

24. Februar 2014 Stéphane Tonnelat

Straßenbeobachtungen: Das Smartphone im Stadtalltag

Anthony Vanky forscht am Senseable City Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) über stadtbezogene Echtzeitdaten. Man dürfe, schreibt er in einem Beitrag über den Gebrauch mobiler Geräte in Singapur (Vanky 2013), nicht unterschätzen, welche Bedeutung Smartphones und Tablet-Computer dort und in vielen anderen Städten haben. Auch in Japan könne man – eigentlich keine sonderlich überraschende Feststellung – an jeder beliebigen Bushaltestelle oder in der Metro »eine beträchtliche Anzahl von Menschen beobachten, die ihre Geräte benutzen, um mit Freunden zu plaudern, Spiele zu spielen oder im Internet zu surfen«. Fazit: Das soziale Leben spiele sich »zunehmend über das Medium
digitaler Dienste ab«.

Beobachtungen, die sich an jedem beliebigen Ort anstellen lassen. Zur Unterschätzung der Rolle, die Smartphones und andere mobile Elektronik im städtischen Alltag spielen, besteht in der Tat kein Anlass. Hingegen zu eigenen Straßenbeobachtungen – ohne analytische Kategorien, ohne Methodenkompetenz, empirisch ungesichert, mithin jenseits der akkreditierten Arbeitsgebiete einer Disziplin, die sich fachwissenschaftlich mit der städtischen Lebenspraxis beschäftigt: der Stadtethnologie. Deren Blick richte sich, notiert Anja Schwanhäußer in ihrem hochinformativen Text Stadtethnologie – Einblicke in aktuelle Forschungen (Schwanhäußer 2010), »auf die konkreten Lebenswelten der Stadtbewohner und -bewohnerinnen, ihre Wohnungen, Arbeitswelten, Freizeitgewohnheiten und Wege durch die Stadt, aber auch die Medien, Moden und Vergnügungen, die Stadt als ›Zone intensiven Lebens‹ […]«.

In vielen seiner Essays und Feuilletons beobachtet Siegfried Kracauer, nach einem Architekturstudium Journalist, Filmtheoretiker und Soziologe, den großstädtischen Alltag: Straßen, Lokale, Leute – Zonen intensiven Lebens. Die Texte beschreiben und analysieren die Bewegungsformen und die Bilder der Massenkultur. Seinen Essay Das Ornament der Masse (1927) eröffnet Kracauer mit der programmatischen Feststellung: »Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.« (Kracauer 1963, S. 50) Würden die Oberflächen der Dinge wie des gesellschaftlichen Lebens, notiert er im Jahre 1925, nicht als Chiffren erkannt und würde »das Dunkelste nicht erhellt«, dann wäre »ein jedes Wort vergeblich gesprochen« (Kracauer 1990, S. 305). Auf den ersten Blick eine einfache Denkfigur: Verborgenes ans Licht bringen.

Freilich ist Kracauers »Dunkelstes« weder düster noch erbarmungswürdig und ebenso-wenig versteckt, es ist, ganz im Gegenteil, durchsichtig. Und darum buchstäblich stockdunkel, folglich oft als bedeutungslos übersehen. Dem solcherart Durchsichtigen gilt Kracauers ganze Aufmerksamkeit.

Mitte der 1980er Jahre hatte sich eine Gruppe von Künstlern, Historikern, Schriftstellern und Journalisten für die »Randerscheinungen städtischen Lebens« in Tokio zu interessieren begonnen (die, mit Kracauer, nicht »Randerscheinungen« genannt werden sollten). Die Studien der von ihnen ins Leben gerufenen Gesellschaft für Straßenbeobachtung griffen auf, was Wajiro Kon, Architekturprofessor und »Ethnograph des Alltäglichen«, bereits zwischen 1920 und 1930 beschäftigt hatte: Kon und sein Team interessierten sich – anders als die überwiegende Mehrheit der Berufskollegen, damals nicht anders als heute – »mehr
für soziale Praktiken«, berichtet Ioanna Angelidou (2012), als für das Bild städtischer Räume.[1]

Unsere Straßenbeobachtung gilt den Ungezählten, die sich virtuos im Stadtgewühl bewegen und darauf verzichten (oder zu verzichten scheinen), die Straße zu beobachten: die zu ihren Arbeitsplätzen und zu den Warenhäusern Eilenden, die ihnen begegnen (oder denen sie ausweichen); die evangelikalen Prediger, die die baldige Rückkehr des Erlösers ankündigen; die zu Statuen erstarrten Selbstdarsteller; die ausrangierte Operndiva, die Abend für Abend in der Fußgängerzone die Belcanto-Hits von Verdi und Bellini singt, zu ihren Füßen den auf einen Rucksack gestellten Lautsprecher mit der Orchesterpartie und die Pappschachtel für die Münzen; die Bettler, Straßenarbeiter, Straßenkünstler, die Zugedröhnten; die die Straßen säumenden Stadträume mit ihren Bauten und Baustellen; die Bäume, die Risse im Asphalt; den Himmel über der Stadt, die Wolken, die wunderbaren Wolken.

Nehmen sie all das wahr?

Bemerkt, wer auf dem Bildschirm die Angebote der angesagten Schuhgeschäfte, Haarstylisten, Brillenboutiquen und Apple-Stores studiert, wer ein kniffliges Sudoku zu lösen versucht, sein Englisch aufmöbelt oder Chinesisch lernt, wer sich Dan Browns Inferno, Richard David Prechts Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? oder Von nix kommt nix: Voll auf Erfolgskurs mit den Geissens vorlesen lässt, wer den zweiten Satz von Beethovens Streichquartett op. 135 oder die aktuelle Single seiner Lieblings-Metal-Band hochdreht, dass der Fahrer eines Offroaders bei Gelb gerade nochmal Gas gibt und den Auspuff röhren lässt? Mit zwei mächtigen Kopfhörern und ohne den als uncool geltenden Fahrradhelm hatte die junge Frau auf ihrem Mountainbike keine Chance. Von den Sounds der Stadt akustisch isoliert, hatte sie den Feind einfach überhört.

In seinem hellsichtigen Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“, vor einhundertundzehn Jahren veröffentlicht und alles andere als ein antiquarischer Text, denkt Georg Simmel über die psychologische Grundlage nach, »auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt«: Diese bestehe in einer »Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht«. Die ubiquitäre Digitalisierung des Alltagslebens hat nicht allein die »rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder« (Simmel 1984, S. 192f) befördert; sie hat der Außensteuerung der Subjekte einen Schub gegeben, den Simmel nicht erwarten konnte. Zudem scheint seine Beobachtung, Großstädter seien es gewohnt, sich trotz räumlicher Nähe reserviert, ja blasiert zu geben – eine »Seelenstimmung«, die er als »subjektive[n] Reflex der völlig durchgedrungenen Geldwirtschaft« (a.a.O, S. 196) diagnostiziert –, mit der massenhaften Verbreitung mobiler Kommunikationsgadgets buchstäblich gegenstandslos geworden zu sein. Reserviert? Wer mit wem, wann, wohin und warum – das omnipräsente Mitteilungsbedürfnis kennt keine Grenzen. Und keine Scham. Das Individuum (lat. das Ungeteilte) zeigt sich in der unaufhaltsamen Bereitschaft zur Selbstentblößung – und darin, die so genannten privaten Daten arglos Suchdiensten, Spionen, den Betreibern sozialer Netzwerke, mit anderen Worten Großrechnern zu überlassen: Clouds, die alles über es wissen.

»Individuen sind ›dividuell‹ geworden« sagt Gilles Deleuze (1993, S. 258). Das vorgeblich Unteilbare ist zu einer Sammlung teilbarer Informationen mutiert. Informationen, die im Zweifelsfall gegen sie verwendet werden.

»Wenn ich mir die rasante Entwicklung so anschaue«, hält ein aufmerksamer Zeitgenosse fest, »– also dieses Anwachsen der Smartphones an die Hände der Besitzer –, bin ich sicher, dass die sich in nicht allzu ferner Zukunft auch gerne freiwillig für teures Geld chippen lassen. […] das ist keine ›Schwarzseherei‹ – sondern banale, alltägliche Straßenbeobachtung.«[2] In den Gebrauchsformen der für viele unverzichtbaren Mobiltelefone entdeckt der zitierte Blogger deren prothetischen Charakter: elektronische Gadgets als Körpererweiterungen. Die User lassen sie nicht aus den Augen. Kaum dass sie in die Hosentasche geglitten oder in der Handtasche zwischengeparkt sind, liegen sie wieder in der Hand ihrer Eigentümer. Deren Aufmerksamkeit gilt nahezu ausnahmslos den kleinen leuchtenden Bildschirmen (ohne welche sie sich, vielfachen Bekenntnissen zufolge, verloren glauben) und den Stimmen und Sounds aus ihren Earphones (ohne die sie nicht mehr auf die Straße treten). Ob es sich um Multitasking-Praktiker handelt, würde eine empirische Forschung herausfinden können, die eine repräsentative Gruppe städtischer Smartphone-Akteure darüber befragte, was sie jenseits der Ränder ihrer Screens von der Stadt mitbekommen. Möglich, dass ihre Wahrnehmung der nichtdigitalen Welt schwindet.


Anmerkungen:
[01] In seinem 1929 erschienenen, mit Zeichnungen von Kenchiki Yoshida illustrierten Buch New Guide to Tokyo hatte Kon von Architekten und Urbanisten Übersehenes präsentiert: Sprünge im Geschirr von Kaffeehäusern etwa, oder Arbeiter, die sich auf der Straße ausruhen.
[02] http://zwillingssonne.blogspot.ch/2012/10/an-die-hand-angewachsen.html (Stand 5.12. 2013)

Literatur:
Angelidou, Ioanna (2012): Streifzüge durch den städtischen Alltag. In: ARCH+, Heft 208, August 2012.
Deleuze, Gilles (1993)[1990]: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (1990) In: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 258.
Kracauer, Siegfried (1963): Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 50.
Kracauer, Siegfried (1990): Der Künstler in seiner Zeit. In: Mülder-Bach, Inka (Hg.): Siegfried Kracauer Schriften, Bd. 1, Aufsätze 1915-1926 Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 305
Simmel, Georg (1984)[1903]: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Simmel, Georg; Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin: Klaus Wagenbach, 1984, S. 192
Schwanhäußer, Anja (2010): Stadtethnologie – Einblicke in aktuelle Forschungen. In: dérive, Heft 40/41, Oktober 2010, S. 106–113. Verfügbar unter: www.derive.at/index.php?p_case=2&id_cont=940&issue_No=40 (St and 5.12. 2013).
Vanky, Anthony (2013): Verfügbarkeit und Relevanz von Daten. Zur Evaluation des Gebrauchs stadtbezogener Echtzeitdaten in Singapur. In: Offenhuber, Dietmar & Ratti, Carlo (Hg.): Die Stadt entschlüsseln. Wie Echtzeitdaten den Urbanismus verändern. Basel: Bauwelt Fundamente, Bd. 150.

dérive, Mo., 2014.02.24

24. Februar 2014 Peter Neitzke

Der Raubzug in Berlins Mitte

Die Jewish Claims Conference (JCC) eröffnet im Februar 2013, 80 Jahre nach der Machtübernahme der Nazis, einen 50-Millionen-Dollar-Fonds für jüdische Familien, denen Eigentum auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gehört. Eine etwa 1.500 Seiten umfassende Liste mit Namen gibt Auskunft darüber, welche Menschen durch die nationalsozialistische Verfolgung und die damit einhergehende Enteignung ihre Wohnungen, Häuser, Firmen und Geschäfte samt Einrichtungen verloren haben. Tausende Personen-, Firmen- und Ortsnamen: Meiningen, Gera, Eisenhüttenstadt, Leipzig, Dresden, Chemnitz, Magdeburg – und immer, immer wieder: Berlin.

Noch ist der größte Teil der Geschichte des »Arisierungs«-Unrechts der Nazis, das keiner der beiden deutschen Staaten weder annähernd aufgearbeitet noch durch angemessene Entschädigung versucht hat zu mindern, ungeschrieben. Im Rahmen des Berliner Themenjahres »Zerstörte Vielfalt« ist seit September 2013 im Ephraim-Palais die kleine Ausstellung des Berliner Stadtmuseums Geraubte Mitte. Die »Arisierung« des jüdischen Grundeigentums im Berliner Stadtkern 1933–1945 zu sehen.

Mit ihr haben es sich die Kuratoren Benedikt Goebel und Lutz Mauersberger zur Aufgabe gemacht, den Verlust des jüdischen Lebens, Eigentums und Einflusses darzustellen, wie ihn das nationalsozialistische Deutschland inklusive der gleichgeschalteten Berliner Senatsverwaltung zwischen 1933 und 1945 zu verantworten hatte. Ihren Schwerpunkt legen sie dabei auf den historischen Berliner Stadtkern, der zwischen heutigem Schloss- und
Alexanderplatz liegt.

Goebel und Mauersberger belegen, dass vor 1933 von insgesamt 1.200 Grundstücken im Stadtkern mindestens 225 in jüdischem Besitz waren, also fast ein Fünftel. Im Jahr 1944 war es kein einziges mehr, die »Arisierung« war vollständig verlaufen.

»Wesentlich beteiligt daran waren die Finanz- und die Justizverwaltung. Wenn die Stadt Interesse an einem Grundstück in jüdischem Eigentum hatte, dann wurden zum Beispiel Steuern fällig gestellt. Wollte oder konnte der Eigentümer nicht zahlen, kam es schnell zur Zwangsversteigerung, bei der in der Regel die Reichshauptstadt den Zuschlag erhielt«, so Benedikt Goebel in einem Interview mit der Zeitschrift Bauwelt. Anders als in anderen Berliner Bezirken raubten hier also nicht Privatleute, sondern das Deutsche Reich bzw. der Berliner Magistrat die meisten Grundstücke. Das enge Zusammenspiel zwischen Stadtplanung und »Arisierung« diente dem geplanten Umbau des Berliner Zentrums im Zuge der Pläne zur Schaffung der Welthauptstadt Germania. Hierfür sollte das monumentale »Altstadtforum« realisiert werden, wofür Grundstücke rund um den Molkenmarkt nötig und daher gemäß den Überlegungen Albert Speers umfangreiche Abrisse notwendig waren. Da für die Bewohner der abzureißenden Häuser Ersatzwohnungen benötigt wurden, konfiszierte man auch dafür jüdischen Besitz.

Die Ausstellung demonstriert beispielhaft am Schicksal der fünf Familien Gadiel, Berglas/Intrator, Freudenberg, Fuchs und Panofsky die Mechanismen der Enteignung, die kulturgeschichtlichen Verluste sowie die Vertreibung und schließlich Ermordung dieser Familien durch die Nazis. Sie beklagt, dass weder Gedenktafeln noch Stolpersteine gerade im historischen Zentrum einen Hinweis darauf liefern, wie dicht und vielfältig das jüdische Leben hier einmal war.

Was auch immer man von diesen Elementen der deutschen Erinnerungskultur halten mag, der Hinweis ist richtig: Wer in Berlin etwas über die Verfolgung und Vernichtung der Berliner jüdischen Bevölkerung lernen will, geht in die Oranienburger Straße in die Große Synagoge, in die Auguststraße oder ins jüdische Museum, aber nicht über den Schlossplatz, wo in der Nummer 5 die Malerin Eugenie Fuchs lebte, oder zum Werderschen Markt, wo das Kaufhaus Gerson stand.

So deutlich wie in dieser Ausstellung war es bislang nur selten zu lesen: Die »Arisierung« stellt den größten Vermögensraub der deutschen Geschichte dar. Sie muss als Teil der Geschichte des nahezu ununterbrochenen Antisemitismus gelesen werden, der den Juden und Jüdinnen europaweit entgegenschlägt. Sie ist gleichermaßen Zäsur und Vollendung eines Teil des Plans der Vernichtung der jüdischen Menschen durch die Nazis. Von den ehemals 160.000 jüdischen Berlinern und Berlinerinnen überlebten in Berlin bis 1945 nur 5.990.

Die Kuratoren unternehmen mit der Ausstellung Geraubte Mitte aber auch den Versuch, die »Arisierung« im historischen Berlin nicht als etwas Abgeschlossenes zu betrachten, sondern verfolgen die Geschichte der Bauten bis heute. »Im Berliner Stadtkern sind nach 1990 nur drei unbebaute Grundstücke rückübertragen worden: die Königstrasse 33, das Rolandufer 6 und die Werderstrasse 5.

Außerdem wurden zwölf bebaute Grundstücke rückübertragen: die Burgstraße 8, der Hausvogteiplatz 1, die Klosterstraße 64, das Märkische Ufer 20, die Neue Friedrich­strasse 106/107, die Poststrasse 4/5 und 12, die Stralauer Strasse 42/43, die Waisenstrasse 2 und Wallstrasse 16. Damit wurden insgesamt 8 Prozent der arisierten Grundstücke rückübertragen, 92 Prozent blieben verstaatlicht.«

Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass der historische Stadtkern mit seinem enteigneten jüdischem Grundbesitz weitestgehend verschwunden war. Nach 1945 zunächst größtenteils Trümmerhaufen, dann geräumte Freifläche, blieb der Stadtkern bis Mitte der 1960er Jahre nahezu unverändert. Zwischen 1965 und 1978 wurde dann das sozialistische Stadtzentrum errichtet – der Fernsehturm und der Palast der Republik als Aushängeschilder, umgeben von Hochhäusern und weiten Flächen. Seitdem hat sich die Richtung der Zentrumsgestaltung im Dekadentakt geändert. Ende der 1970er Jahre vollzog noch die DDR-Regierung eine stadtplanerische Wende und nahm mit der Restaurierung des Nikolaiviertels bis Ende der 1980er Jahre Abstand vom Prinzip von Abriss und Neuaufbau. Ab 1990 waren die Gestaltungsideen wechselnden Bauleitplanungen unterworfen: Prägende Elemente der
DDR-Zentrumsgestaltung – Ahornblatt, Palast der Republik und Palasthotel – wurden abgerissen, Denkmäler abgebaut,
das »Humboldtforum« soll errichtet, weitreichende Sanierungsvorhaben umgesetzt werden.

Was sich weiterhin nicht veränderte, war die mangelnde Auseinandersetzung mit dem Teil der Geschichte des historischen Zentrums vor 1945 – ob vor oder nach 1990: Einerseits zwar erarbeitet sich die »Berliner Republik« den Ruf der Erinnerungsweltmeisterin; die Geschädigten und Ermordeten der neuen Hauptstadt blieben aber namenlos und ohne Entschädigungsangebot wie Millionen andere.

Aber jetzt, wo die Recherche aufweist, um welche Grundstücke welcher Familien es sich genau handelt, wäre es da nicht Zeit, dass in der »Erinnerungshauptstadt« im Zuge der Debatten um die Gestaltung der Berliner Mitte die Frage der Geschichte des begangenen Unrechts einmal angemessen thematisiert wird? So sehen es zumindest die Ausstellungsmacher: »Bei den aktuellen Diskussionen über die Wiederbebauung von Flächen im Stadtkern stellt sich die Frage nach der Eigentumsgeschichte der früheren Grundstücke. Das wiederholte Unrecht, das den ehemaligen jüdischen Eigentümern und ihren Nachfahren in diesem Bereich widerfahren ist, verlangt eine geschichtsbewusste Vorgehensweise.«

Ebenso formuliert es Franziska Nentwig, Generaldirektorin der Stiftung Stadtmuseum Berlin, in ihrem Begleitwort: »Die Stadtmitte war und ist nicht nur das historische oder politische Zentrum Berlins, sondern am stadtplanerischen Umgang mit ihr zeigt sich unser historisches Verständnis und die Interpretation von Geschichte durch die moderne Stadtgesellschaft.« Man müsse, so Nentwig, um die Geschichte wissen und dafür die Frage untersuchen, wem einst die Mitte Berlins gehört habe – die Ausstellung »Geraubte Mitte« stelle diese Frage, und auch die Frage, wie sich dieses Unrecht Jahrzehnte später korrigieren lasse.

Am 27. November 2013 präsentierte Regula Löscher, Berlins Senatsbaudirektorin, den sogenannten Stufenplan für die Neubebauung des Areals der »historischen Mitte Berlin«. Bis 2025 soll diese abgeschlossen sein. Das neue Schloss, jetzt Humboldtforum, soll 2019 eröffnet werden, die Sanierung der Staatsoper und die Bebauung am Schinkelplatz mit Luxuswohnungen vollendet. Dann werde der Molkenmarkt umgebaut, zwischen Marx-Engels-Forum an der Spree und Alexanderplatz wird ein »Rathausforum« entstehen. »Rund um das Humboldtforum wächst die Stadt zusammen«, verkündet die Senatsbaudirektorin. Ob Regula Löscher die Ausstellung Geraubte Mitte besucht hat? Es müsste ihr darob zumindest ein schaler Geschmack entstanden sein.

Eine Baulücke nach der nächsten schließt sich in Berlin, unaufhörlich senken sich Fundamente in die Erde, recken sich Hoch- und Townhäuser empor. Die Lücke in der Gesellschaft schließen wird niemand – nicht die Stadtplaner und nicht der Berliner Senat. Die Frage von Franziska Nentwig wird unbeantwortet bleiben: Das Unrecht, das Berlin an seiner jüdischen Bevölkerung vollstreckt hat, lässt sich nicht korrigieren. Zumindest darauf aber weist die Ausstellung Geraubte Mitte hin, und das ist kein geringer Verdienst.

dérive, Mo., 2014.02.24

24. Februar 2014 Claudia Krieg

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