Editorial

Das Leben in den Städten ist für viele Menschen heute attraktiver als noch vor wenigen Jahren. Auch die Einwohnerzahlen von Wien nehmen kontinuierlich zu und übertreffen – so weit man hört – regelmäßig sämtliche Prognosen. Diese hohe Attraktivität gilt aber offenbar nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere.

Synurbanisation nennt die Wissenschaft das Phänomen des Zuzugs von Tieren in die Stadt. Füchse im Prater, Dachse im Augarten, Biber auf der Donauinsel, Rehe am Zentralfriedhof und auch Wildschweine sind in Wien keine Seltenheit mehr, sondern Normalität. Die Tiere erfreuen sich in der Stadt am guten Nahrungsmittelangebot und fliehen vor den ländlichen Monokulturen – eine durchaus vernünftige Entscheidung. Zur Enttäuschung mancher antiurbaner Gruppierungen, welche die heile Welt noch immer außerhalb der Städte vermuten, sei an dieser Stelle der Hinweis gestattet, dass in der Stadt auch Tiere leben, die es auf dem Land gar nicht (mehr) gibt. Bei einer von der wunderbaren Linzer Initiative Schwemmland organisierten Führung durch das Hafenviertel erzählte der Linzer Stadtökologe Fritz Schwarz beispiels-weise von der vor rund 60 Jahren eingewanderten Wechselkröte, die ausschließlich in ebensolchen Gewerbegebieten existiert, weil sie die wassergefüllten Mulden, die LKW in den unasphaltierten Straßen hinterlassen, so sehr schätzt. Freuden des Fortschritts!

Im Schwerpunkt dieser Ausgabe geht es – wie mittlerweile klar geworden sein dürfte – um Tiere in der Stadt. Die beiden SchwerpunktredakteurInnen Christina Linortner und Fahim Amir haben sich freilich nicht darauf beschränkt festzustellen, dass es Tiere in der Stadt gibt, sondern arbeiten heraus und analysieren, welche Rolle Tiere bzw. eigentlich darüber hinaus »nicht-menschliche Akteure« in der Stadtentwicklung spielen. Dabei geht es um historische Aspekte wie die Rolle der Tierschlachtung und der Schlachthöfe genauso wie um aktuelle Entwicklungen, die man unter dem Begriff Bio-InfoCom-Kapitalismus zusammenfassen könnte. Weitere Themen des Schwerpunkts sind das Verhältnis Kultur-Natur, die Geschichte des Experiments Biosphere 2 und die Auseinandersetzung mit einem der präsentesten und angefeindetsten Tiere in der Stadt: der Taube. Abgeschlossen wird der Schwerpunkt mit einer Erzählung von Alexander Nikolic über das Leben von Tieren und Menschen in einer Wohnsiedlung der serbischen Stadt Pančevo. Kommentierte Buchempfehlungen zum Schwerpunktthema gibt es auf unserer Website www.derive.at.

Die Wiener Stadtregierung hatte jüngst in einer Volksbefragung die Bevölkerung über die Abhaltung von Olympischen Spielen befragt, was von den Wienern und Wienerinnen vernünftigerweise klar abgelehnt wurde. Megaevents haben bekanntermaßen in den seltensten Fällen nachhaltig positive Auswirkungen auf Städte und ihre BewohnerInnen, wie sich an zahlreichen Beispielen nachweisen lässt (siehe dazu auch unser Schwerpunktheft dérive 20: »Candidates and Hosts – Olympische Spiele und Stadtplanung« oder den Artikel »1992–2012: 20 Jahre Architekturinszenierung in Barcelona« von Rafael Ayuso Siart in dérive 48). Eine Fortsetzung dieser Auseinandersetzung mit ebendiesem Thema nehmen die KünstlerInnen Köbberling/Kaltwasser im Kunstinsert für diese Ausgabe von dérive unter dem Titel »The Games are Open« vor.

Im Magazinteil wirft André Bideau einen Blick auf die letzten Jahrzehnte der Züricher Stadtentwicklung und stellt zur aktuellen Situation fest, dass Zürich immer mehr »zum gestylten Opfer des eigenen Erfolgs« wird. Christian Haid beschreibt in seinem Artikel Contentious Informalities die Nutzung des Berliner Preußenparks durch die Berliner Thai-Community für Picknicks und die informelle Ökonomie, die sich daraus entwickelt hat. In Manfred Russos Serie Geschichte der Urbanität steht diesmal der Surrealismus und die Situationistische Internationale im Zentrum der Analyse. Bei den Rezensionen will ich besonders auf Iris Meders Sammelbesprechung Moderne-Projekte, vollendet und unvollendet hinweisen, die sich auf mehr als drei Seiten einer ganzen Reihe von aktuellen Publikationen über die Moderne in Ost und Süd-Osteuropa gewidmet hat. Dazu wunderbar passend bespricht Marián Potočárs den Bratislaver Atlas of Mass-Housing. Und weil Platz wie immer ein rares Gut darstellt, haben wir wieder einige Besprechungen auf unsere Website www.derive.at verschoben.

Obwohl man ja nur hoffen kann, dass sich der Winter bereits verzogen hat, wenn Sie dieses dérive in den Händen halten, freuen wir uns über die frostige Dokumentation der dérive wird 50-Präsentation diesen Januar: Ohne Rücksicht auf winterliche Temperaturen hatten wir aus diesem Anlass zur Teilnahme an einem öffentlichen Speakers Corner zum Thema Straße aufgerufen. Nachdem wir den Nachmittag mit Schneeschaufeln verbracht und kannenweise Heißgetränke produziert hatten, stand einer erfolgreichen Abhaltung der Veranstaltung auf dem Wiener Praterstern nichts mehr im Wege. Unser Dank gilt den neun wackeren RednerInnen(gruppen), die ihre Ideen, Forderungen und Ansichten zur Straße völlig unbe-eindruckt von Temperaturen um die -5°C dem zwar frierenden, aber nichts desto trotz begeisterten Publikum kundtaten. Wer – aus welchem Grund auch immer – nicht dabei sein konnte, kann sich nun ganz bequem alle Reden auf youtube (www.youtube.com/user/derivemagazin) ansehen.

Reclaim (Y)our Straße,
meint Christoph Laimer

Inhalt

Editorial

Schwerpunkt | Die Verstädterung der Arten
Fahim Amin, Christina Linortner

1000 Tauben: Vom Folgen und Fliehen, Aneignen und Besetzen
Fahim Amir

Necropolis I: St. Marx und das Fleisch der Multitude
Fahim Amir, Christina Linortner

Necropolis II: Der Schlachthof St. Marx und die Arbeit am Töten
Lukasz Nieradzik im Interview
Fahim Amir, Christina Linortner

We Have Never Been Earth
Biosphere 2 als ungeplantes Post-Human Experiment
Ralo Mayer

So wie Natur ist, bleibt sie nicht
Isabella Amir

Animal Beauty
Alexander Nikolic

Kunstinsert:
The Games Are Open
Folke Köbberling, Martin Kaltwasser

Magazin:
Zürich bewohnen
André Bideau

Contentious Informalities
Christian Haid

Serie | Geschichte der Urbanität: Teil 39
Postmoderne V: Vorboten der Postmoderne. Die Efferveszenz des öffentlichen Raumes durch Surrealisten und Situationisten
Manfred Russo

Besprechungen /Reviews:
Die selbstgemachte Stadt, Teil 2
Robert Temel

Rote Flora: „Autonomes Disneyland“ oder "Basis der „Intelligenz“ der Autonomen"?
Bernd Hüttner

Moderne-Projekte, vollendet und unvollendet
Iris Meder

Großwohnsiedlungen in Bratislava und ihre versteckte Anmut
Marián Potočár

Gesellschaftsanalyse durch Ortsbegehungen
Mirjam Pot

Einladende Orte für soziale Aktivitäten - Wie öffentliche Räume entstehen...
Udo Häberlin

Vom Glück des Experiments
Maxie Jost

Wien um 1900. Wiener Kunstgewerbe 1890-1938
Noëmi Leemann

Die Verstädterung der Arten

Die Denkerin Donna Haraway streicht in ihrem 1992 erschienenen Artikel »Otherworldly Conversations; Terran Topics; Local Terms« heraus, dass die Welt ein Ensemble darstellt: »... ein immer schon bewohntes Ergebnis heterogener sozialer Begegnungen, wobei nicht alle Akteure Menschen sind« (Haraway 1992, S. 67). Der Schwerpunkt dieser Ausgabe nimmt Haraways These der Implosion von Natur und Kultur, die sie naturecultures nennt, zum Anlass, Fragen nach Tieren und dem Lebendigen in urbanen Kontexten zu stellen: Wer ist Teil der Stadt und wem gehört sie, wer macht sie, und wie passiert das?

In diesem Schwerpunkt geht es uns vor allem darum, die Ko-Produktion von Stadt mit und durch nichtmenschliche AkteurInnen in den Blick zu nehmen. Dazu gehört die
Reflexion des Zusammenhangs von Natur und Kultur, Widerstand und Widerständigkeit und nichtmenschlicher Handlungsmacht in heterogenen Gefügen, die das Technologische und Digitale, das Gebaute und Geborene, das Gedachte und Erkämpfte umfassen – von mikroskopischen Körpern und metropolitanen Ökonomien.

Die Philosophin Isabella Amir arbeitet in ihrem Beitrag zu dieser Ausgabe Antinomien und Problematiken des Naturbegriffs heraus: »Obwohl der Begriff der Natur also missverständlicher nicht sein könnte und aus eben diesem Grund sehr uneinheitlich verstanden und verwendet wird, ist er in seiner Differenz zum Kulturbegriff konstitutives Element jedes philosophischen, moralischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Diskurses.« Besonders Tiere in der Stadt stellen stereotype Vorstellungen in Frage – so ist für viele Tiere ihr natürliches Habitat der künstliche bzw. kulturelle Stadtraum. Umgekehrt sind selbst von menschlicher Besiedelung räumlich entfernte Naturräume wie die Pole, abgeschiedene Dschungelgebiete oder die Weltmeere in den vergangen Jahrhunderten – besonders verstärkt seit der industriellen Revolution – tiefgreifenden Veränderungen unterworfen. Weniger abgelegene Gebiete treten durch weitausgedehnte Infrastruktursysteme in Verbindung mit Städten und führen ihnen Ströme an Wasser, Nahrung, Energie, Anderem und Anderen zu – und wieder ab. In den Raumwissenschaften haben sich diese Phänomene in Theorien und Konzepten niedergeschlagen, die die Verschränkungen und Überlagerungen dieser ersten Natur mit Netzwerken von Infrastrukturen untersuchen und die komplexen Beziehungen und Austauschprozesse einer Sozionatur erkunden. Dabei werden binäre Denkkonstellationen wie Natur und Kultur sowie herkömmliche Objekt- und Subjektpositionen in Frage gestellt, um die genauere Betrachtung nicht-humaner AkteurInnen zu ermöglichen.

1000 Habitate

In der Geschichte der Stadtplanung wurden vielfach Begriffe aus der Natur verwendet, um städtisches Wachstum und urbane Transformationen zu bezeichnen. Konzepte der modernen Stadt wurden oft als graduelle Abweichung von natürlichen Formen des Lebens wahrgenommen oder in Analogie mit dem Körper eines lebenden Organismus ausgelegt (vgl. Shanty 2005, S. 64). Eine herausragende Rolle nimmt dabei beispielsweise der in Stadtplanung und Architektur gebräuchliche Begriff Habitat ein, den Carl von Linné erstmals in seiner Systema Naturae (1753) verwendete. Das Habitat dient für gewöhnlich der Beschreibung des natürlichen Lebensumfelds, in dem eine reproduktive Population von Organismen leben kann, und besetzt damit einen speziellen Raum zwischen Spezies und Individuum.

Bei genauerer Betrachtung erweist sich das Konzept des Habitats als Projektionsfläche für Konzepte aus verschiedenen Richtungen: So analysierte Michel Foucault 1977 in einem seiner weniger bekannten Bücher, Politiques de l’habitat (1800–1850), das Habitat in medizinischen Diskursen des neunzehnten Jahrhunderts als soziale Technologie, die Räume und Krankheiten, Subjekte und Praktiken neu ordnete. Das Habitat spielte auch in der einflussreichen Chicago School eine brisante Rolle: Diese bis in die 1930er Jahre in der US-Soziologie dominante wissenschaftliche Strömung »…skizzierte ein Stadtmodell mit konzentrisch angeordneten Ringen, die jeweils andere sozial-ökologische Habitats repräsentieren« (Schmid 2009, S. 25), und fasste damit Klassengegensätze und Ethnisierungseffekte naturalisierend in politische Metaphern wie Invasion, Sukzession und Segregation.

In Stadtplanungsdiskursen der Moderne verkündete Le Corbusier am ersten Nachkriegs-CIAM1947 in Bergamo seine Absicht, eine Habitat-Charta entwickeln zu wollen. Diese Charta sollte Mängel des Funktionalismus beheben und das Leben in den Städten wieder in den Mittelpunkt rücken. Was genau eine solche Charta zum Inhalt haben würde, ließ Corbusier vorerst offen. Die Habitat-Charta beschäftigte die modernistische Architektur- und Planungsavantgarde bis 1959, als infolge anhaltender Meinungsverschiedenheiten und eines damit verbundenen Generationenwechsels nicht nur das Ziel der Formulierung einer Charta komplett aufgegeben wurde, sondern die CIAM sich insgesamt auflösten. Auch wenn der Versuch, eine Habitat-Charta zu verfassen, gescheitert war, setzte sich der Begriff Habitat im Städtebau- und Architekturvokabular erfolgreich fest, wie im Rahmen der UN-Konferenz von 1976 oder der Tätigkeit der Teilorganisation der Vereinten Nationen UN-Habitat (vgl. Model House – Mapping Transcultural Modernisms, 2012).

Im Unterschied zum Gebrauch des Begriffes im CIAM-Diskurs bezeichnet Henri Lefebvre in Die Revolution der Städte die Konjunktur des Habitat-Konzepts als »die Karikatur eines Pseudobegriffes« (zit. n. Schmid 2005, S. 172), die technokratisch das Wohnen auf eine bloße Funktion reduziert. »Lefebvre sah darin gewissermassen die Essenz des industrialisierten Alltags: Das Habitat, ein globaler, homogener und quantitativer Raum, sei in Ideologie und Praxis zugleich von oben her installiert worden und habe das ›Erlebte‹ gezwungen, sich in Schachteln, Käfige, ja gar ›Wohnmaschinen‹ einschließen zu lassen.« (Ebd.)

Habitat war bei Linné eine Tätigkeit; seine Artikel zu unterschiedlichen Spezies enthielten stets die kursiv gesetzte Formel »habitat«, also »er/sie/es lebt« da und dort. Aus der Beschreibung einer Praxis von Tieren wurde im Lauf der Zeit eine verdinglichte Essenz, eine fast zeitlose Wesenhaftigkeit. Heute erzeugt die Bekämpfung von in Deutschland oder Österreich »nicht einheimischen« Arten bis hin zu Vorstellungen »afrikanisierter Killerbienen« ein Reservoir an Bildern und Metaphern, das wir aus anderen Zusammenhängen bereits zur Genüge kennen.

Makro- und Mikronaturen

Urbanisierung als Prozess, der die gesamte Gesellschaft umfasste, bedeutete für Lefebvre nicht einfach eine Ausbreitung oder Vergrößerung der Stadt, sondern auch eine qualitative Veränderung des Urbanen selbst. Wie ist dies zu denken? Zum einen gehört dazu die Intensivierung kapitalistisch organisierter Inwertsetzung. Wir befinden uns in einer Periode, in der die formelle Subsumption der Natur gegenüber der reellen Subsumption abnimmt: Mit reeller Subsumption, also Integration bzw. Unterwerfung unter kapitalistische Verwertungszyklen, meint die marxistische Ökonomietheorie die Umformung tatsächlicher Arbeitsprozesse nach kapitalistischen Prinzipien, während die formelle Subsumption darauf verweist, dass der Arbeitsprozess selbst nicht-kapitalistisch (Familienbetrieb, SklavInnen, Selbstausbeutung usw.) organisiert ist, aber letztlich an den kapitalistischen Markt angeschlossen bleibt.

Immer mehr Land wird industriell bewirtschaftet, während Revolten und kollektive Selbstmorde in agrarisch geprägten Regionen zunehmen und zugleich einen Abgesang auf bisherige Lebensweisen und die Geburtsschreie neuer Lebensformen bilden. Mit Verstädterung ist also vor allem die qualitative Transformation von Beziehungen gemeint, wobei die Stadt ein Element innerhalb städtischer Netzwerke bildet: »Die Urbanisierung der Natur, eine Transformation, die in den letzten Jahren erhöhte Triebkraft erlangt hat, ist deutlich mehr als ein schrittweiser Prozess der Aneignung, bis der letzte Überrest der ›Primär-Natur‹ verschwunden ist. Die Produktion einer urbanen Natur ist ein simultaner Prozess sozialen und bio-physikalischen Wandels, wobei neue Arten von Räumen entstehen und zerstört werden, die von unterstützenden technologischen Netzwerken über die moderne Stadt bis zu neuen Aneignungen der Natur in der urbanen Landschaft reichen.« (Ghandy 2006, S. 63)

Neben der Intensivierung und Ausdehnung der äußeren Landnahme spielen Formen der inneren Landnahme eine zunehmend wichtige Rolle. Das Körperinnere von Menschen und Tieren wird zum Investitions- und Interventionsobjekt von Biotechnologie und Lebenswissenschaften, die DNA-Stränge patentieren und großindustriell Hormone produzieren. So entstehen in urbanen Labors neue DNA-Linien, Zelltypen, Pflanzen- und Tierarten. Damit eng verbunden sind Enteignungsprozesse – wie im Fall von Henrietta Lacks, einer US-Bürgerin dunkler Hautfarbe, der zu Beginn der 1950er Jahre – ohne ihr Wissen – Zellgewebe aus ihrem Tumor entnommen wurde. Während Lacks kurz darauf in der medizinischen Behandlung durch ihren forschenden Arzt starb, lebte sie partiell technologisch weiter: Das ihr entnommene Gewebe stirbt nicht nach einer beschränkten Zahl von Zellteilungen, sondern ist unsterblich; es bildete die Grundlage der bis heute verwendeten Zell-Linie »HeLa«. BiowissenschaftlerInnen haben daraus mittlerweile mehr als 20 Tonnen Zellen gezüchtet und insgesamt rund 11.000 Patente angemeldet, die HeLa beinhalten.

Dreißig Jahre davor war die erste erfolgreiche Synthetisierung von Ammoniak im Rahmen des Haber-Bosch-Verfahrens gelungen. Ammoniak war dadurch zum einen als essenzieller Bestandteil für Bombenproduktion von den natürlichen Geografien gelöst und andererseits als der wichtigste chemische Beschränkungsfaktor für die weitere Erschließung landwirtschaftlicher Erträge aufgehoben. Der im modernisierten Haber-Bosch-Verfahren entstehende Ammoniak wird auch heute überall auf der Welt als Dünger großindustriell in den Boden gebracht und gelangt über Pflanzen oder Tiere in den menschlichen Stoffwechsel – Schätzungen zufolge befindet sich in jedem westlichen, menschlichen Körper ein Kilogramm dieses Stoffes aus den Hochdruck-Tanks der Haber-Bosch-Synthese.

Die Philosophin Beatriz Preciado konstatiert, dass wir heute zunehmend Technokörper sind, die von Antibabypille und Viagra umgepflügt und mit Psycho-Pharmaka und Designerdrogen gedüngt werden; Silikon-Implantate und Leistungssteigerer werden zur Massenkultur (Preciado 2008). Dies verändert gesellschaftliche, biographische und biologische Stoffwechsel sowie urbane Rhythmen – und stellt somit die Opposition von Natur und Kultur auf mikrobiologischer Ebene in Frage.

Die Stadt Wien zeigt keine Zurückhaltung, sich dem internationalen biotechnological turn anzuschließen, und annonciert ihren Auftritt auf dem internationalen Markt für potente Moleküle und Gewebe. Im Beitrag der Schwerpunkt-RedakteurInnen wird der Entwicklung des ehemaligen Schlachthofes St. Marx zum neuen Medien- und Biotech-Cluster entlang der Tiergeister, die die moderne Produktion heimsuchen, nachgegangen. Der Arbeiter am Fließband werde wie ein dressierter Gorilla behandelt, wie das Diktum Henry Fords lautete; heißt dies für den so genannten Postfordismus urbaner Ökonomien, dass nun die Dressur wegfallen soll, um die wilde Subjektivität der ProduzentInnen in Wertschöpfungsketten zu integrieren, wie avancierte Kritiken der Creative Cities suggerieren?

Räumliche und konzeptionelle Transfers zwischen der Reorganisation von Schlachthöfen hin zu kreativwirtschaftlicher Nutzung, wie dies auch im Falle des New Yorker Meatpacking District geschieht, stehen im Zentrum dieses Beitrags, der damit den Abstraktionen immaterieller Arbeit etwas Fleisch der Multitude zur Seite stellen will.

Ein Interview mit dem Ethnologen Lukasz Nieradzik wirft Licht auf die Entstehung des Schlachthofes als des vielleicht konzentriertesten Punktes des Stadt-Land-Verhältnisses im Kontext von Modernisierung, Urbanisierung, Hygienisierung und Fleischindustrie.

Zootope und Transspezies-Urbanismus

Zootope, also Tier-Orte, Orte der Tiere, Orte für Tiere und Orte ohne Tiere sind immer mit bestimmten Zootropen, Tiermetaphern und Tierbildern, verbunden – das gilt auch für Orte, über die man gar nichts weiß, also wo sich sozusagen Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. In römischen Landkarten wurden Orte und Landkreise am Rande des Imperiums, über die gar nichts bekannt war, mit dem Zusatz Hinc sunt leones markiert: Hier sind Löwen.

Tiere durchkreuzen nicht nur unsere Träume, sondern auch unsere Räume, sie bevölkern Utopien und Heterotopien, werden Topologien zugeordnet und überschreiten sie. Tiere werden segregiert und gehen doch Beziehungen ein – mit Menschen und anderen Tieren, Technologien, Maschinen, Architektur und Städten. In verschiedenen Disziplinen ist ein Perspektivenwechsel bemerkbar. So entstehen beispielsweise in der Kulturgeographie zunehmend Arbeiten, die Tiere als Co-ProduzentInnen urbaner Räume und Co-AutorInnen von Welt konzipieren.

Wie die Begegnung mit Tieren die Bedeutung und Nutzung eines Ortes durch Menschen erheblich verändern kann, zeigen Ereignisse im Kahuzi Beiga National Park im Osten des Kongo. Innerhalb weniger Jahre wandelte sich der abgeschiedene und unberührte Lebensraum durch Diane Fosseys Forschungsarbeit über Gorillas zu einem Nationalpark inkl. Gorillatourismus. 2008 trat der Nationalpark im Zuge der Beinahe-Ausrottung der Gorillas durch wildernde ruandische Rebellen als Kriegsschauplatz erneut in Erscheinung.

»Different sets of humans possessing differing purposes and technologies have hence flowed into and out of this East African region, reflecting broader geographies of science, state intervention, capitalism, colonialism, politics and human struggle, and in the process they have shaped widely divergent kinds of human-animal relations.« (Philo & Wilbert 2000, S. 2)

Abseits dieser Naturräume führten in der Stadtplanung die Lebensgewohnheiten und beispielsweise die Flugreichweite von Moskitos zur Reorganisation von kolonialen Städten. Da Moskitos nur drei Kilometer fliegen können, wurde rund um die Wohnquartiere der KolonialherrInnen eine unbewohnte Zone dieser Dimensionen herausgeschlagen. KolonialistInnen und die Kolonisierten wurden dadurch räumlich getrennt. Diese in den französischen Kolonien als zone neutre oder cordon sanitaire bezeichneten Areale sollten die KolonialherrInnen vor einer Ansteckung durch kolonisierte Körper schützen und wurden als eine Möglichkeit gesehen, einen großen räumlichen und sozialen Abstand zu den infizierten Kolonialkörpern zu gewährleisten.

Die Geografin und Stadtplanerin Jennifer Wolch wies 1998 in ihrem Text Zoopolis darauf hin, dass Tiere in der Stadttheorie bislang keinen Platz gefunden hatten. Sie plädierte deshalb für die Etablierung eines Modells, das sie Zoöpolis nennt und das die Renaturalisierung der Städte fordert und »antirassistische, soziale, ökologische und feministische Praxen zusammenbringen sollte.«

(Wolch 1998) Die Geografin Alice Hovorka führt in ihrem Artikel Transspecies urban theory: chickens in an African city an, dass die neue kulturelle Tier-Geographie das Urbane als Kategorie versteht, die konstitutiv für Mensch-Tier-Beziehungen ist, und die städtische Bühne auch als Produkt von Transspezies-Beziehungen konzipiert werden müsse. Zum einen handelt es sich bei Tieren in der Stadt um Affekt-Produzenten, schließlich rufen Tiere Ekel, Zuneigung, Kontrolllust, Mitgefühl, Angst und Faszination hervor, was Auswirkungen auf die Form von Städten hat. Hovorka betont, dass obwohl diese Tiere stark von menschlichen Entscheidungen betroffen sind, auch umgekehrt der Umgang mit Tieren Wirkung trägt: »Wie Menschen über Tiere denken, fühlen und sprechen, wird ihre sozialräumlichen Praktiken gegenüber diesen Wesen auf einer alltäglichen Ebene prägen, mit wichtigen Folgen hinsichtlich des Ausmaßes, in dem verschiedene Spezies von den üblichen Orten menschlicher Tätigkeit aus- und eingeschlossen werden.« (Hovorka 2008, S. 97)

Zum anderen sind subalterne Tierstädte entstanden, die von urbanen und urbanisierten Tieren bewohnt werden, obwohl Städte primär gebaut werden, um menschlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. In diesem Kontext üben Tiere jedoch auch ihre »eigene Macht und Handlungsmacht durch Handeln oder mögliche Absicht aus. Sie akzeptieren, umgehen oder überschreiten jene Orte, die Menschen ihnen zuweisen [...] und je nachdem verstärken oder wirken sie menschlichen Zuschreibungen entgegen und generieren so relationale Verhandlungen physischer Grenzen und diskursiver Imaginäre.« (Hovorka & Bolla, 2012, S. 57f)

Tiere sind immer schon da, auch wenn sie manchmal nicht zu sehen sind. Auf unterschiedliche Weise wollen die in dieser Ausgabe versammelten Beiträge Tiere in dieser neuen Perspektive in den Blick nehmen: In seinem Text zu Stadttauben widmet sich Fahim Amir den Engeln des Fordismus als widerständigen Akteurinnen in der Stadt, die Räume besetzen und gerade durch ihre Sichtbarkeit Probleme machen. Ralo Mayer führt in seinem Beitrag in die Wüste von Arizona, wo in einem riesigen Glashausprojekt, Biosphere 2, kuratierte Naturlandschaften und eine jahrelange Sammlungstätigkeit globaler Spezies als ein abgeschlossenes Ökosystem zur potenziellen Weltraumbesiedelung erstellt und erprobt werden sollten. Auch hier machten Tiere und Tiergeister einem Masterplan einen Strich durch die Rechnung. Alexander Nikolic beschreibt anhand von Mensch-Tier-Beziehungen in Serbien politische und subjektive Raumverschiebungen. Die Bildstrecke durch den Schwerpunktteil entstammt der Arbeit Cartographies of Life, 2002, von Wolfgang Konrad und Ursula Hansbauer, die Straßenhunde und ihre Raumnahme in Sofia und Mexiko City verfolgt haben.


Alle Übersetzungen durch die RedakteurInnen des Schwerpunkts.


Literaturverzeichnis:
Amir, Fahim & von Osten, Marion (2012): Habitat. The Unwritten Charta. In: Model House – Mapping Transcultural Modernisms. Verfügbar unter: www.transculturalmodernism.org/page/58?layer=10 (Stand 22. 2. 2013).
Bolla, Andrea & Hovorka, Alice (2012): Placing Wild Animals in Botswana: Engaging Geography’s Transspecies Spatial Theory. In: Humanimalia, Vol.3. Nr.2. S.56-82.
Ghandy, Matthew (2006): Urban Nature and the ecological imaginary. In: Heynen, Nik, Kaika, Maria, Swyngedouw, Erik (Hrsg.): In the Nature of Cities. Urban Political Ecology and the Politics of Urban Metabolism. London,
New York: Routledge.
Haraway, Donna J. (1992): Otherworldly Conversations; Terran Topics; Local Terms. In: Science as Culture,
Vol. 3, Nr. 1, S. 64-98.
Hovorka, Alice (2008): Transspecies urban theory: chickens in an African city. In: Cultural Geographies, S. 15-95.
Model House — Mapping Transcultural Modernisms.
www.transculturalmodernism.org
Philo, Chris & Wilbert, Chris (2000): Animal Spaces, Beastly Places: New Relations of Human-Animal Relations. London: Routledge.
Schmid, Christian (2005): Stadt, Raum und Gesellschaft: Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes. Stuttgart: Franz Steiner.
Von Osten, Marion & Amir, Fahim et al. (2011): Model House. In: Texte zur Kunst. Artistic Research. Heft 82.
Juni 2011. S. 144-149.
Wolch, Jennifer, ed. (1998): Animal Geographies: Place, Politics, and Identity in the Nature-Culture Borderlands. London, New York: Verso.

[Christina Linortner hat Architektur und Research Architecture studiert. Sie arbeitet transdisziplinär zu den Themenbereichen Migration und Wohnkultur, transkulturelle Studien und Geisterhäuser u. a. in Nigeria, China und Los Angeles. 2010-2012 Mitarbeit am Art-Science Projekt »Model House — Mapping Transcultural Modernisms« an der Akademie der bildenden Künste Wien und seit 2011 Mitarbeit am PEEK-Projekt »Eden’s Edge« an der Universität für angewandte Kunst Wien.

Fahim Amir ist Philosoph und Kulturwissenschaftler afghanischer Herkunft und lehrt an der Akademie der bildenden Künste Wien sowie an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz.
Er arbeitet zurzeit an seiner Dissertation zu dissidenten Konzepten von tierlicher Subjektivität, Urbanismus und Ästhetik.]

dérive, Mo., 2013.05.06

06. Mai 2013 Fahim Amir, Christina Linortner

Großwohnsiedlungen in Bratislava und ihre versteckte Anmut

Im Rahmen der Architekturtage 2012 haben ArchitekturhistorikerInnen Bratislava auf sportliche Art präsentiert – mit dem Fahrrad durch Plattenbauwohnsiedlungen, um ihre »abstrakten Landschaften« zu entdecken. Plattenbauwohnsiedlungen bleiben ein Schwerpunkt der aktuellen Diskussionen über post-sozialistische Städte, während sie als auffällige Stadtsilhouetten gleichzeitig zu ihren typischen Trademarks geworden sind. Zu dieser Diskussion will auch der Atlas der Großwohnsiedlungen beitragen.

Der Aufbau der weiten Landschaften modernistischer Großwohnsiedlungen hing mit der Industrialisierung des Bauwesens und der Unterordnung der Entwurfsprozesse unter IngenieurInnen- und ExpertInnenkollektive zusammen. In sozialistischen Ländern stand darüber hinaus diese Art von Architektur noch eng mit der Politik des autoritären Regimes in Verbindung. Für das AutorInnenkollektiv war die Auseinandersetzung mit diesem komplexen Thema eine Erweiterung vorheriger akademischer Forschungsarbeiten über Plattenbausiedlungen im mitteleuropäischen Raum. Bratislava stellt im regionalen Kontext ein besonders gutes Studienbeispiel dar – hier wurde mit den meisten städtebaulichen Konzepten und vorfabrizierten Gebäudetypen experimentiert und fand der Bau der Siedlungen im größten Maßstab statt.

Die Panel Story (der Untertitel der Publikation stammt von einem kritischen Film von Veˇra Chytilová aus den 1970er Jahren) wird in drei Teilen erzählt: Der erste Teil beschäftigt sich mit dem breiteren Hintergrund, der Ideengeschichte in Städtebau und Architektur, die zu Plattenbauwohnsiedlungen führte. Referenzpunkt ist die Charta von Athen (1933), die eine Sammlung von Antworten auf die mit dem beispiellosen Wachstum der Industriestädte verbundenen sozialen Fragen sein sollte. Die Ideen dieses Manifests modernen Städtebaus forderten eine radikale Abkehr von traditionellen Formen wie Plätzen und geschlossenen Höfen und ihre Ersetzung durch freistehende Hochbauten, die durch Verkehrskorridore anstatt traditioneller Straßen verbunden wurden. Variationen dieses Leitprinzips herrschten seit Mitte der 1950er Jahre in der Stadtgestaltung in West- sowie Osteuropa vor.

Die Planung der ersten Massenwohnsiedlungen in der Tschechoslowakei hing mit der Entstehung einer zentral geplanten Wirtschaft und der Eingliederung aller Architekturbüros in zentralisierte Planungsinstitute zusammen. Weil die einzelnen Wohnhäuser ausschließlich typisierte Bauprojekte waren, bot das Gebiet des Städtebaus mehr Spielraum für individuelle architektonische Kreativität. Aufgrund von politischen Faktoren wie einer fehlenden Kritik an der technokratischen Planung und einer Legislative, die eine effektive Immobilienenteignung ermöglichte, konnte moderner Städtebau in Bratislava – ähnlich wie in anderen Städten des sozialistischen Blocks – radikaler und über eine längere Zeitperiode umgesetzt werden als in Staaten mit pluralistischen politischen Systemen; was schließlich in weitgehender Diskreditierung dieses Aufbaus resultierte. Der Atlas geht jedoch auf die Ambivalenz des ganzen Phänomens ein: Die Wohnsiedlungen wurden in den letzten Jahren der Perestroika als Fiasko des Staatssozialismus harsch angeklagt, gleichzeitig ist aber schwer zu bestreiten, dass sie einen effizienten Weg aus der andauernden Wohnungsknappheit mit passablem Qualitätsstandard lieferten. Oft übersehen wird dabei auch die Qualität städtebaulicher Formen und Pläne, die in vielen Fällen nur fragmentarisch ausgeführt wurden.

Der zweite Teil ist ein Ortslexikon, das in chronologischer Folge alle 21 Großwohnsiedlungen Bratislavas vorstellt. Diese werden durch Pläne, eine kurze Entstehungsgeschichte, Bilder, Fotos und statistische Tafeln präsentiert. Im grafischen Teil sind die städtebaulichen Entwürfe oder der Blick auf die Siedlungen gleich nach Fertigstellung abgebildet. Ziel der AutorInnen war die Rekonstruktion idealer Konzepte, die der im Laufe der Zeit immer stärker schwankende Bausektor oft nicht liefern konnte. Vornehmlich Grundrisse und Ansichten präsentiert der dritte und letzte Teil – ein kurzer Katalog typisierter Objekte im Bereich des Wohnbaus und gängiger Infrastruktur.

Die Hülle des Buches spiegelt die Einstellung der AutorInnen zur Problematik wider: Anstatt der Karte Bratislavas sehen wir einen Schwarzplan der Plattenbauten über die Stadtlandschaft verbreitet, wodurch die Aufmerksamkeit auf die Gebiete gelenkt wird, die gewöhnlich als graue Elemente des Alltags banalisiert werden.

Gleichzeitig illustriert diese Karte den breiteren Einfluss des Siedlungsbaus auf den qualitativen Wandel im urbanen Charakter und der alltäglichen Realität Bratislavas. Seit Ende der 1970er Jahre wohnten dem Atlas nach bereits 90 Prozent der EinwohnerInnen in Plattenbauten. Laut den AutorInnen soll das Buch unter anderem als Handbuch für PlanerInnen und ArchitektInnen bei Interventionen in Wohnsiedlungen dienen. Der Funktion eines klassischen Schulbuchs entspricht auch die ganze Gestaltung des Buches – in einer auffälligen Plastikhülle, mit minimalistischem Grafikstil und geringer Farbigkeit. Erzählungen über Planungskonzepte und Entwicklungen des Aufbaus werden mit vielen ansprechenden Statistiken und Graphiken belegt.

Der Atlas im Titel des Buches ist eine leichte Übertreibung. Eine 300 Seiten dicke Plattenbaumonographie allein ist wahrscheinlich keine ausreichende Ausrüstung für plattengierige KulturtouristInnen, Fans und ForscherInnen, die gern ins Feld aufbrechen wollen. Auf jeden Fall wirft er einen analytischen Blick auf eine universale Problematik aus Lokalperspektive. Plattenbauten als Produkt der Moderne werden als Denkmal und Dokumentation einer wichtigen historischen Epoche des Um- und Aufbaus der Gesellschaft gesehen. Der retrospektive Blick romantisiert aber nicht verlorene Utopien. In erste Linie geht es um eine konsequente Bestandsaufnahme und eine Dokumentation dieses Erbes am Fallbeispiel einer Stadt und der Präsentation ihrer sonst unsichtbaren Aspekte. Ohne Verständnis für dieses urbane Erbe ist auch die Logik der heutigen Stadt nicht zu erfassen.


Henrieta Moravčíková , Mária Topolčanská, Peter Szalay, Matúš Dulla, Katarína Haberlandová,
Slávka Toscherová, Sona Ščepánová
Bratislava – Atlas Sídlisk
Vitajte v Panel Story!
Bratislava – Atlas of Mass Housing
Welcome to Prefab Story!
Slovart s.r.o., Bratislava 2012
224 S., ca. 38, – Euro, slowakisch/englisch

dérive, Mo., 2013.05.06

06. Mai 2013 Marian Potocar

Einladende Orte für soziale Aktivitäten - Wie öffentliche Räume entstehen...

Das Wichtigste an der – 40 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nun endlich auch auf deutsch erhältlichen – Publikation Leben zwischen den Häusern des dänischen Architekten und Stadtplaners Jan Gehl ist die sensible Begründung der „belebenden“ Funktionsweisen durch Aktivitäten in öffentlichen Räumen. Diese Aktivitäten sind auf drei aufeinander aufbauenden Ebenen bedeutsam. Die anspruchslosesten sind die notwendigen Aktivitäten. Darauf folgen die freiwilligen, doch erst die nächste Ebene der sozialen Aktivitäten stellt die Herausforderung dar. Diese funktionale Bedeutung ist fundamentale Voraussetzung und ein Grundprinzip für lebendige Straßen und Plätze. Es müssen nicht Häuser, sondern Menschen und Ereignisse versammelt werden, um belebte Treffpunkte beziehungsweise eine urbane Stadt zu erhalten. Der Wirkungsmechanismus „Es passiert nichts, weil nichts passiert“ ist ein gestaltbarer Prozess. Hierbei ist die Dauer der Aufenthalte der relevanteste Indikator für das tatsächliche Aktivitätsniveau.

Vorausschauend sollte die Planung in allen Maßstabsebenen für ein reibungsloses Funktionieren von Stadt sorgen. Ziel sind einladende Orte; ob über einen integrationsorientierten Bauleitplan oder der Aufwertung von Mikrofreiräumen mit höherem Identifikationswert – es gibt viele planerische Wege. Basis ist ein möglichst kompaktes System öffentlicher Räume, damit die Distanzen für FußgängerInnen und Sinneswahrnehmungen so kurz wie möglich sind. Dazu setzt sich der Jan Gehl mit den Begrenzungen der menschlichen Fortbewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit auseinander. Beispielsweise analysiert er die Situation von PassantInnen, deren Austauschzonen mit AutoinsassInnen durch fragmentarische Begegnungen zu klein sind. Menschen, die bereits auf der Straße unterwegs sind, können nicht am Straßenleben teilnehmen, da es an ihnen vorbeifährt. In zeitgemäßen Siedlungen werden Sammelparkplätze in 100-200 m Entfernung zu den Wohnungen angelegt, um öffentliche Räume zu beleben. Da mehr Menschen unterwegs sind, werden die Straßen unterhaltsamer und der gegenseitige Schutz höher.

Es gilt die grundlegenden psychologisch wirksamen Elemente der Planung und Gestaltung zu erkennen. Im Zuge dessen behandelt Gehl die Dichotomie öffnen oder abschotten. Es geht um den Kontakt zwischen dem, was in öffentlichen Räumen passiert, und dem, was in angrenzenden Gebäuden vor sich geht. Hierbei ist der Erfahrungsaustausch nicht nur eine Frage von Distanzen, sondern auch von Fenstern und Gardinen. Beispielsweise lässt sich architektonisch zwischen einer wie auch immer designten Fassade oder einer interessanten Werkstatt, belebten Sporthalle, einem Kindergarten und anderem unterscheiden, wenn das Innenleben von Gebäuden durch Transparenz visuell zugänglich wird. Gegenbeispiele sind Einkaufszentren, die dem Umfeld die Funktionen von öffentlichen Räumen streitig machen und sich nach außen abschotten.

Auch die Gegenpole integrieren oder ausgrenzen, einladen oder abweisen sollen die Basis für umsichtiges und bewusstes Planen erklären. Unter versammeln oder zerstreuen wird ebenso die Platzierung der Gebäude wie auch die Ausrichtung von Zugängen auf Transit- und Aufenthaltsräume erforscht. Das Buch versucht anhand der Räume zwischen den Gebäuden aufzuzeigen, dass die Organisation von Stadt(leben) bereits von der Standortpolitik von Schulen (oder passiven Elementen wie Büros) abhängt. Die Frage der Erschließung hin zu öffentlichen Räumen durch die Verortung von Zugängen (Haustüren) sowie deren Erzeugung von Gehlinien oder der Motivation zum Gehen wie Sichtbeziehungen baut darauf auf. Selbst auf die subjektiv erlebten Wege für FußgängerInnen geht das Kapitel ein. Auch ihre Entfernung und Breite sowie Frequenz sind sensibel zu dimensionieren. Akzeptable Entfernungen (ca. 400-500 m) sind ein Zusammenspiel von Länge und Qualität unter Berücksichtigung von Schutz und Stimulation. Für Kinder und Alte ist die Geschwindigkeit geringer, somit ist die individuell erlebte Länge der Strecke höher. Es könnte der Eindruck von langweiligen Orten oder gar unangenehmen (Angst-)Räumen hervorgerufen werden. Diese existiert beispielsweise, wenn Parkplätze große Löcher und Leerräume in der Stadtfläche darstellen. Ebenso ist für den zwischenmenschlichen Kontakt ein Übergang von der privaten Umgebung (Vorgarten, Loggia) zu öffentlichen Räumen wichtig. In einem Wohngebiet kann alleine ein Autoabstellplatz vor der Haustüre diesen Kontakt zum Gehsteig behindern. Gehen, Sitzen und Stehen werden ebenso erforscht wie psychologische Effekte des Sozialraums und Empfehlungen für mehr Verweil- und Lebensqualität.

Wichtig ist die Summe der gesamten auf der Straße verbrachten Zeit, wie in der Sonne Ausrasten, Herumspazieren und Spielen. Hingegen weist Gehl (für Wohngebiete) nach, dass die Teilnahme am Leben im öffentlichen Raum nicht durch das notwendige häufige Kommen und Gehen bestimmt wird, sondern durch die freiwilligen, spontanen und oft improvisierten Freizeitaktivitäten.

Grundsätzlich erhöht die Nutzungsquantität die Qualität öffentlicher Räume. Das verbesserte Raumgefühl lädt auch andere ein, hinaus zu gehen. In öffentlichen Räumen werden zum Teil Bedürfnisse nach Kontakt, Wissen und Anregung befriedigt. So können auch an und für sich unschöne zu angenehmen Orten werden. Wenn Details stimmen und die Räume zum zu Fuß gehen oder Verweilen einladen und die Zahl der physischen, psychologischen und sozialen Nachteile auf ein Minimum reduziert ist, lässt sich der Sprung von den notwendigen hin zu den entscheidenden freiwilligen Aktivitäten schaffen. Weitere Details sind Attraktivität, das Mikroklima und die Ästhetik und zusammenfassend solche, die die (belebende) Funktion unterstützen.

Für mich ist Leben zwischen den Häusern, das nicht ohne Grund in 50 Sprachen übersetzt worden ist, 40 Jahre nach der Erstveröffentlichung noch immer für eine wertvolle Fachfibel für alle PlanerInnen, Einkaufsstraßenvereine sowie GemeinwesenarbeiterInnen. In der Neuauflage wären Ergänzungen etwa zu neuen Rahmenbedingungen, z. B. durch die Technisierung der Lebenswelt, wünschenswert gewesen. Mobiltelefone haben nicht nur Kommunikationsformen verändert, sondern zeigen, dass neue Herausforderungen im öffentlichen Raum existieren. Rückzug in Medienwelten oder Abschottungstendenzen (Kopfhörer) halten UserInnen vom direkten Gemeinschaftsleben fern. Andererseits bieten WLAN-Zonen neue Anlässe, Zeit an der frischen Luft und im öffentlichen Raum zu verbringen.

Diese Kritik gilt nicht dem Autor, sondern einer Stadtforschung, die den Sozialraum noch viel zu wenig anwendungsorientiert ergründet hat. Über gelungene Planung durch gute Raum-Zeit-Verhältnisse, inspirierende, attraktive Verweilqualitäten oder einzelne Interessen am urbanen, städtischen Leben wissen wir noch recht wenig.

Umbaumaßnahmen sollten uns Anlass genug sein, um mit Hilfe von Sozialraumanalysen bestehende Funktionsweisen zu ergründen und durch Neuplanungen Stadträume wie z. B. den Wiener Schwedenplatz zu verbessern.


Jan Gehl
Leben zwischen den Häusern
Berlin: Jovis, 2012
199 S., 28,- Euro

dérive, Mo., 2013.05.06

06. Mai 2013 Udo Häberlin

4 | 3 | 2 | 1