Editorial

Vor wenigen Wochen feierten die BesetzerInnen der Häuser des Hamburger Gängeviertels den dritten Jahrestag. Wie viele andere Gebäude in zahlreichen Städten, standen die 12 Häuser des Gängeviertels jahrelang leer und waren dem Verfall preisgegeben. Das nicht ganz ohne Grund, denn ihr niederländischer Besitzer spekulierte auf Verfall und Abriss, um anschließend mit hochpreisigen Wohn- und Büroge­bäuden kräftigen Profit zu machen. Die alten Arbeiterwohn­häuser des Gängeviertels beherbergen heute zahlreiche Ateliers, Werkstätten, soziale Projekte, Wohnungen und sind ein beliebter Kulturort und Treffpunkt. Mehr über das Gängeviertel kann im gerade erschienen Buch nachgelesen werden, dass es für kurze Zeit übrigens auch als Geschenk zum dérive-2-Jahres-Abo gibt. Die erfolgreiche Besetzung des Gängeviertels hat nicht nur StadtaktivistInnen in Hamburg, sondern in vielen weiteren Städten Auftrieb gegeben und gezeigt, was möglich ist, wenn Zeitpunkt, Vor­bereitung und Umstände stimmen. Wie langfristig solche Ereignisse nachwirken können und wie wichtig sie für urbane Bewegungen sind, kann man sehr gut an Wien sehen, wo die Besetzung der Arena vor mehr als drei Jahrzehnten noch immer einen wichtigen Bezugspunkt darstellt.

Nachdem in den 1990er Jahren die Sehnsucht nach dem Häuschen im Grünen zu einer starken Suburbanisierung geführt hat, gewinnt das Leben in der Stadt wieder stark an Attraktivität. Neben den EinwohnerInnenzahlen steigen damit aber auch die Ansprüche an die Lebensqualität in der Stadt, was wiederum zu verstärktem Engagement für die Nutzung und Gestaltung des städtischen Lebensumfeldes und der öffentlichen Räume führt. Der aktuelle Urban Gardening Hype ist ebenso dieser Entwicklung geschuldet wie die schwindende Akzeptanz, den öffentlichen Raum in Form von Straßen überwiegend den Autos zu überlassen. Der Verteilungskampf um den Straßenraum hat begonnen, was man in Wien nicht zuletzt an der Aggressivität der Debatte Auto vs. Rad und den Versuchen mancher Lobbys, Fahrrad fahren zu bürokratisieren und unattraktiver zu machen, spürt. Erfreulicherweise scheint aber auch die Stadt Wien die Zeichen der Zeit zu erkennen und dem Thema Verkehr und Lebensqualität hohe Aufmerksamkeit einzuräumen.

All diesen Tendenzen widmen wir nicht nur den Schwerpunkt dieses Heftes, sondern auch unser Festival ur3anize!, das von 5. bis 14. Oktober zum dritten Mal stattfindet. Sollten Sie dieses Heft rechtzeitig in der Hand halten, werfen Sie einen Blick auf www.urbanize.at. Das Programm steht ganz im Zeichen von Engagement und Intervention und umfasst Vorträge und Diskussionen, Best Practice und künstlerische Interventionen, dérives und Stadtspaziergänge, den Filmschwerpunkt Stadt filmen – von unten, zahlreiche Workshops und eine Nightline in der Festivalzentrale Schraubenfabrik, wo ur3anize! für 10 Tage einen Raum fürs vernetzen, austauschen und Ideen auskochen eröffnet.

Das Schwerpunktheft Stadt selber machen wirft mit Ellen Bareis einen Blick auf die (Theorie-)Geschichte urbaner sozialer Bewegungen. Juan Haro von Movement Justice for El Barrio erzählt im Interview über die erfolgreichen Kämpfe seiner Initiative gegen Wohnungsspekulanten in East Harlem / New York, die mexikanische Botschaft und über den Aufbau der bemerkenswerten Bewegung. Elke Krasny untersucht in ihrem Artikel die sprachlichen und ideologi­schen Zusammenhänge zwischen der Produktion des Raums und der Produktion der Sprache am Beispiel der historischen Laubenkolonien in Berlin. Und natürlich darf bei einem Schwerpunkt zu Stadt selber machen ein Beitrag über Hamburg nicht fehlen. Verfasst hat ihn Nicole Vrenegor, die selbst im Netzwerk Recht auf Stadt aktiv ist. Sie lässt die Ereignisse der letzten drei Jahre nicht chronologisch vorbeiziehen, sondern verknüpft sie mit verschiedenen Stationen der Buslinie 3, die quer durch Hamburg führt. Genaueres zum Schwerpunktthema und den einzelnen Beiträgen im Einleitungsartikel ab Seite 4.

Das Kunstinsert führt wieder zum Thema Radfahren. »Ein neues Zeitalter des Fahrrades hat begonnen«, lässt uns Rainer Ganahl wissen und fordert in seinem Manifest schlicht und einfach »50% Bikeways«. Ein guter Anfang wie wir meinen. Im Magazinteil sehen sich Katharina Kirsch-Soriano da Silva und Christoph Stoick die aktuelle Situation der Wiener Gebietsbetreuungen an und fragen sich, wie deren Zukunft aussehen könnte. Befürchtet wird eine zunehmende Inanspruchnahme der Gebietsbetreuungen für die Interessen des Stadtmarketings und die Aufwertung von Stadtteilen ohne einer kritischen Standortbestimmung und der Beur­teilung des eigenen Wirkens. Als Ergänzung zum Schwer­punkt und Verweis auf die Broschüre [Your] Right to the City, die wir am 6. Oktober gemeinsam mit KuKuMa und dem Rechtsinfokollektiv im Rahmen von ur3anize! veröffentlich­en, hat Angelika Adensamer einen Artikel über den öffentlichen Raum aus rechtlicher Sicht beigesteuert. Die Rechtfibel [Your] Right to the City informiert über die rechtlichen Rahmenbedingungen von Aktionen, Demon­strationen und Interventionen im öffentlichen Raum. Thomas Ballhausen wandelt schließlich auf den Spuren des für die Aktivitäten der Situationistischen Internationale wichtigen Begriffs der Psychogeographie und untersucht, inwiefern man ihn auf literarische Werke anwenden kann. Manfred Russos 38. Teil der Serie Geschichte der Urbanität durch­streift diesmal Los Angeles und Ost-Asien. Die zentralen Protagonisten sind die Generic City und Rem Koolhaas.

Viel Vergnügen beim Streifzug durchs Stadt selber machen. Die nächste Ausgabe – dérive Nr. 50! – erscheint Anfang 2013. Wir widmen dieses runde Jubiläum dem schönen Thema Straße.

Christoph Laimer

Inhalt

Editorial

Schwerpunkt | Stadt selber MACHEN
Christoph Laimer

Entlang einer imaginären Linie: Drei Jahre Recht-auf-Stadt-Bewegung in Hamburg — ein Zwischenstopp
Nicole Vrenegor

Die STADT in der REVOLTE revisited
Ellen Bareis

Homes AND CITIES belong to THOSE WHO live in and take care of them: Das Movement for Justice in El Barrio
Juan Haro im Interview

Kolonisten in BERLIN : Von der PRODUKTION des RAUMS und der PRODUKTION der SPRACHE
Elke Krasny

Kunstinsert:
Rainer Ganahl
50% Bikeways

Magazin:
Wiener Gebietsbetreuung Stadterneuerung: Quo vadis?
Katharina Kirsch-Soriano da Silva, Christoph Stoik

Die Vorstellung von Ordnung: Der öffentliche Raum und das Recht
Angelika Adensamer

Die fortlaufende Erschreibung der Stadt. Ein Versuch über Psychogeographie und Literatur
Thomas Ballhausen

Serie | Geschichte der Urbanität, Teil 38:
Postmoderne. Stadt und Angst 4
Manfred Russo

Besprechungen:
Nationalsozialistische Neugestaltungs­planungen für Wien S. 57 Vernetzte Orte, unterschiedliche Perspektiven, kollektives Miteinander: Zwischenstand einer Besetzung im Prozess S. 58 Second Hand Spaces: Städtische Utopie oder Aufwertungsprofit S. 59 Klassenkampfurbanismus und Mitmach-Revolution S. 59 Komplexe Narrative für Morgen S. 61 Das Charisma des Lehrers S. 61 Tagebuch eines Obdachlosen S. 62 Deutschland und Vietnam über den Verkehr in der Stadt von morgen www.derive.at

Stadt selber MACHEN

Die Top-Down-Verwaltung und Planung der funktionalis­tischen, fordistischen Stadt in der Nachkriegszeit sah sich spätestens in den 1960er Jahren einer Kritik ausgesetzt, die als Beginn einer Bewegung bezeichnet werden kann. Als Meilen­stein für den Beginn von Aufbegehren und Einmischung in städtische Planungsfragen gilt dabei Jane Jacobs einflussreiches Werk The Death and Life of Great American Cities, das sich zum Dauerbestseller entwickelt hat. Etwa zeitgleich wie Jane Jacobs’ Buch erschien auch jenes Werk (Le droit à la ville), in dem Henri Lefebvre erstmals von einem »Recht auf Stadt« schreibt. Lefebvre spricht sich darin für die kollektive (Wieder-)Aneignung des städtischen Raumes durch seine Bewohner und Bewohnerinnen ebenso wie die selbstbestimmte Gestaltung des Lebens­umfeldes in einer Stadt für alle aus. »Recht auf Stadt« funktioniert aktuell als Inspiration und gemeinsames Dach für zahlreiche Initiativen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass in ihren Städten die Aussicht auf bzw. die Realisierung von Profit maßgeblich bis ausschließlich die Stadtent­wicklung bestimmt. Aktivitäten gegen Kahlschlagsanierungen, Wohnungspolitik, Stadtauto­bahnen und der Kampf um selbstverwaltete Räume prägten ab den 1960 / 70er Jahren Initiativen, die sich für mehr Gestaltungsfreiheit und Mitspracherecht in der Stadtplanung und ihrem persönlichen urbanen Lebensraum einsetzten. Die breite Palette neuer sozialer Bewegungen (Feminismus, Ökologie, Frieden, Schwule, ..), die wir heute zumeist als NGOs oder Parteien kennen, haben ihre Ursprünge ebenfalls in dieser gesellschaftspolitischen Umbruchsituation.

Auf den für die noch im funktionalistischen Nachkriegs-Städtebau verwurzelten Stadtverwaltungen ungewohnten Widerspruch reagierten diese zuerst mit Unverständnis ob der Undankbarkeit ihrer BürgerInnen, nach einer ausgedehnten Schrecksekunde folgten in Städten wie Wien oder Berlin neue Konzepte wie die »sanfte« oder »behutsame« Stadter­neuerung. Institutionen wie die Wiener Gebietsbetreuungen wurden etabliert, die sowohl als Anlaufstellen für BürgerInnen dienen sollten, als auch die Aufgabe hatten sozial-räumliche Problemlagen zu identifizieren.

Die Einführung von Bürgerbeteiligungsverfahren und ähnlichen formalisierten partizipativen Modellen kann einer­seits als Erfolg des Wider­standes gewertet werden, in dem Sinne, dass oppositio­nelle, außer­parlamentarische Stimmen zumindest angehört werden. Andererseits stand dahinter natürlich die Stra­tegie, dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihn zu kanali­sieren. Außerdem stellte sich bald heraus, dass es nur bestim­mten Segmenten der Be­völkerung möglich war, sich und ihre Wünsche und Vor­stellungen in diesen Verfahren einzubringen und marginali­sierte Gruppen davon erst gar nichts erfuhren. Die Modelle haben sich im Laufe der Zeit verbessert, Kritik und Unzu­friedenheit blieben jedoch ebenso wie die hierarchische Struktur und die sehr unterschiedlich verteilten Möglichkeiten der Teilhabe erhalten. Wie sich immer wieder zeigt, gelingt selbst die einfache Vermittlung von Informationen – etwa was das Mietrecht anbelangt – oft nicht und erreicht genau jene nicht, die sie am dringendsten nötig haben.

In einem Beitrag über den Status Quo der Wiener Gebietsbetreuungen im Magazinteil dieser Ausgabe zeigen Katharina Kirsch-Soriano da Silva und Christoph Stoick auf, dass für das Quartiersmanagement leider Aspekte wie Aufwertung und die Stärkung des Standortfaktors immer mehr Bedeutung gewinnen, eine Analyse aktueller Entwicklungen »wie die räumliche Integration von Alt- und Neubaugebieten sowie die sich verändernde Bedeutung des öffentlichen Raums« jedoch zu kurz kommen.

»Die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Strasse gehen.«

Eine Initiative, die sich nicht auf kontrollierte Beteili­gungs­formen und paternalistische Konzepte der Partizipation einlassen wollte, entwickelte Mitte der 1990er Jahre in Hamburg St. Pauli/Altona mit Bezug auf die Theorien von Gilles Deleuze und Félix Guattari das Konzept einer kollektiven Wunschproduktion bzw. eines parallelen Planungs­prozesses. Ziel des Projekts, das schließlich unter dem Namen Park Fiction bekannt wurde und hier aufgrund seines nachhaltigen Einflusses etwas ausführlicher dargestellt werden soll, war es zu verhindern, dass das letzte Grundstück mit freiem Blick auf Elbe und Hafen verkauft und mit Apartment­blöcken zugebaut würde. Christoph Schäfer, einer der InitiatorInnen von Park Fiction, hat in einem Interview vor etlichen Jahren einmal gesagt: »Unsere Idee ist, dass StadtkonsumentInnen zu StadtproduzentInnen werden, und da sind Mittel und Werkzeuge zu entwickeln, wie man das umsetzen kann.« (Vrenegor 2001)

»Ohne zu diesem Zeitpunkt staatlicherseits legitimiert worden zu sein, fingen wir mit der Wunschproduktion direkt an: wir organisierten diesen Prozess als Spiel, entwickelten Fragebögen, die die Frage nach Parkentwürfen verbanden mit der Frage nach Situationen, Ferienorten, Städten, nach den Orten des Glücks, ob man dort allein war oder mit jemandem, und mit wem und wie viele sonst noch da waren; nach Urlaubsfotos, Beschreibungen und Skizzen. (...) Diese Praxis wurde getragen von einem Nachbarschaftsnetzwerk, das sich in der Zeit der Hausbesetzungen kennengelernt und radikalisiert hatte. Neben einzelnen Nachbarn gab es streitlustige Pastoren, eine visionäre Schulleiterin, eine Grafikerin, Cafebesitzer, KünstlerInnen und vor allem die Musikszene um den Golden Pudel Klub. (...) Als es nach einem Jahr endlich gelang, einen hochrangigen Politiker auf unser Gelände zu ziehen, war Park Fiction als Vorstellung und Wunschpark bereits überall, und als soziales Geflecht ganz real, hip, und im deutschsprachigen Kunstbereich bekannt.« (Schäfer 2007)

Bis aus dem Konzept dann tatsächlich der Park wurde, dauerte es schlussendlich bis 2004. 1 Park Fiction ist nicht nur ein intensiv genutzter und beliebter Park geworden, sondern diente und dient ähnlichen Projekten und Initiativen als Inspiration und Vorbild.

Wie weiter oben schon angesprochen, waren die Theorien von Deleuze und Guattari zu Wunsch und Wunschproduktion für die InitiatorInnen von Park Fiction ein wichtiger Impetus. Deleuze und Guattari entwickelten ihre Theorien zur Wunschproduktion in Auseinandersetzung mit den Schriften von Sigmund Freud und Jacques Lacan. In Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie 1 (1977, S. 150) schreiben sie: »Wird der Wunsch verdrängt, so weil jede Wunsch­position, wie winzig sie auch immer sei, etwas an sich hat, das die herrschende Ordnung einer Gesellschaft in Frage stellt: nicht, dass der Wunsch nichtgesellschaftlich sei, im Gegenteil. Aber er ist umstürzlerisch; keine Wunschmaschine, die nicht ganze gesellschaftliche Sektoren in die Luft jagte. Was auch immer gewisse Revolutionäre denken mögen, der Wunsch ist in seinem Innersten revolutionär – der Wunsch, nicht das Fest! – und keine einzige Gesellschaft kann auch nur eine einzige wahre Wunschposition ertragen, ohne dass ihre hierarchischen, ihre Ausbeutungs- und Unterwerfungsstrukturen gefährdet wären.«

Park Fiction gewann besonders in der Kunstwelt Auf­merksamkeit, was nicht zuletzt mit der Präsentation auf der Documenta 11 (2002) zusammenhängen dürfte. Kein Wunder, dass zahlreiche Projekte in den folgenden Jahren ähnliche Ansätze versuchten. Die Auseinandersetzung mit stadtpoli­tischen Themen und dem öffentlichen Raum hat in der Kunstszene stark an Bedeutung gewonnen, wobei es natürlich ein breites Spektrum an Zugängen und Methoden gibt. In Österreich ist Wochenklausur als Kunstinitiative zu erwähnen, die sehr früh (ab 1993) in diesem Feld tätig war. Sehr wichtig waren in diesem Zusammenhang auch die so genannten Innenstadtaktionen, die gegen die Kommerziali­sierung des öffentlichen Raums und ähnliche Phänomene, die sich Mitte der 1990er-Jahre verstärkt im urbanen Raum zeigten, protestierten und an denen sich viele Künstler und Künstlerinnen beteiligt haben. Auch die dérive-RedakteurInnen Barbara Holub und Paul Rajakovics haben als transparadiso mehrere Projekte verwirklicht, in denen Wünsche in der Auseinandersetzung mit dem eigenen urbanen Lebensumfeld eine wichtige Rolle spielten (siehe dazu z. B. den Text »Freistellen« – ein Plädoyer in dérive 14).

Die breite Auseinandersetzung der Kunstszene mit urbanen Themen hat mittlerweile eine Entwicklung erfahren, die dazu geführt hat, dass künstlerische ebenso wie architektonische Arbeiten gerne für Maßnahmen des Stadtmarketings eingesetzt werden – für Kunst im öffentlichen Raum gibt es in vielen Städten gut gefüllte Fördertöpfe. Bei manchen Künstlern und Künstlerinnen ist es mittlerweile zu einer Spezialisierung bei der Auseinandersetzung mit städtischen Problemlagen gekommen, die diese die Forderung erheben lässt, dass ihre Expertise offiziell als solche anerkannt und bezahlt wird, was derzeit nicht unbedingt üblich ist. Mit der Position einer Person, die aus unmittelbarer, persönlicher Betroffenheit handelt – wie das bei Park Fiction der Fall war – hat das allerdings nichts mehr zu tun. Vermutlich ist es aber auch nur in so einer Situation möglich, für ein Projekt über eine so lange Zeit aktiv zu sein.

Eine sehr engagierte Gruppe, die derzeit mit einer Wunschproduktion arbeitet, versucht gemeinsam mit anderen Initiativen auf die Nutzung der riesigen, leerstehenden alten Rindermarkthalle in Hamburg St. Pauli Einfluss zu nehmen. Die Aktivitäten laufen seit ca. zwei Jahren und steuern auf eine entscheidende Phase zu, weil der Bezirk und der offiziell vorgesehene (Zwischen-)nutzer, die Lebensmittelkette Edeka, die künftige Nutzung der Rindermarkthalle vorstellen werden (bzw. mittlerweile – nach Redaktionsschluss – vorgestellt haben).[2]

Aktueller Stand

Das Interesse an der Auseinandersetzung mit städtischen Räumen hat in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen und aus unterschiedlichsten Perspektiven einen deutlichen Aufschwung erfahren und neue Bündnisse, Konzepte und Widerstandsformen entstehen lassen. Auf universitärer Ebene gibt es neue Masterstudien und Lehrgänge, dazu kommen zahlreiche Ausstellungen, Publikationen, Kongresse etc.: erwähnt seien hier beispielhaft die Ausstellun­gen (alle 2012) Hands-On Urbanism im Architektur­zentrum Wien, Oh my Complex im Württembergischen Kunstverein oder Besetzt im Wien Museum, Making City als Thema der Rotterdam Biennale, Active Urbanism als Motto des INURA-Kongresses und natürlich Stadt selber machen, das dérive-Festival ur3anize! Dazu kommen reihenweise Blogs, einer der jüngsten Zugänge ist UrbaniZm aus Wien, neue Zeitschriften (sub/urban, Stadtaspekte, urban spacemag) und natürlich zahlreiche Initiativen und Bündnisse wie Platz da!? in Wien oder Recht auf Stadt bzw. Right to the City in zahlreichen europäischen und amerikanischen Städten.

Es ist ermutigend zu sehen, dass sich in vielen Städten immer mehr Menschen nicht mehr damit abfinden wollen, in Sachen Stadtplanung, -entwicklung und -politik regelmäßig vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. All die erfreulichen Entwicklungen sollen die Frage, wovon eigentlich genau die Rede ist, wenn man von »Stadt selber machen« spricht, nicht unbeantwortet lassen. Die auf den ersten Blick überraschenden und eigenartigen ideologischen Verbindungs­linien, die sich auftun, sieht man sich den Themenkomplex genauer an, sind nämlich nicht unerheblich.

Krise

Es ist keine große Erkenntnis, dass staatliches Versagen bzw. der Rückzug des Staates von seinen (sozialen) Aufgaben und ökonomische Krisen den Zulauf zu oppositionellen Bewe­gun­gen und Gruppen verstärken und die Zahl neuer Initiativen erhöhen. Doch diese Umstände alleine reichen noch nicht aus, um eine Stärke zu gewinnen, die die etablierten Strukturen ins Wanken bringt. Dazu gehört mehr und zwar der Glaube an die eigene Stärke und der Glaube, dass der Erfolg möglich ist. Hannah Arendt schreibt in ihrem wunderbar schlauen Buch Macht und Gewalt: »Überhaupt ist Empörung keineswegs eine automatische Reaktion auf Not und Leiden; niemand reagiert mit Wut auf eine Krankheit, der die Medizin machtlos gegen­übersteht, oder auf ein Erdbeben oder auf an sich unerträgliche gesellschaftliche Zustände, solange sie unab­änder­lich scheinen. Nur wenn der begründete Verdacht besteht, daß Bedingungen geändert werden könnten und dennoch nichts geschieht, stellt sich Wut ein.« (Arendt 1993, S. 64) »Stadt selber machen« kann eine Forderung bzw. eine Selbstermächtigung ebenso wie eine Notwendigkeit sein. Eine Forderung in einer Stadt, die bis zum letzten Ziegel reguliert ist und ihren Bewohnern und Bewohnerinnen keinerlei Möglich­keit lässt, ihren Lebensraum selber oder zumindest mitzuge­stalten, und eine Notwendigkeit in einer Stadt, die nicht die geringste Infrastruktur und schon gar keinen sozialen Wohnbau zur Verfügung stellt. Was bedeutet es, wenn die Forderung nach »Stadt selber machen« just zu jenem Zeitpunkt an Beliebtheit gewinnt, an dem der Staat sich von seinen sozialen Aufgaben immer stärker zurückzieht, sie auslagert oder vernachlässigt und zivilgesellschaftliches Engagement einfordert (siehe dazu das dérive Schwerpunktheft zu Gouvernementalität, dérive 31). Trägt man unabsichtlich dazu bei ein System (Neoliberalismus) zu unterstützen, dass man eigentlich abzulehnen glaubt?

Die Berliner Politikwissenschaftlerin Margot Mayer hat sich mit der ideologischen Nähe von »progressive movements« und (Neo-)Liberalismus eingehend beschäftigt und sieht »several affinities between neoliberal ideas and the claims of 1960s movements besides the emphasis on freedom and spontaneity«, nämlich z. B. »strong overlaps in the appreciation for autonomy, self-determination and self-management« sowie »an explicit anti-statism«. Beide sähen in einer zu starken staatlichen Intervention eine Einschränkung von persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten, Eigenverantwortung und -initiative. Der Unterschied sei, dass Neoliberale anstatt staatlicher (Über-)Regulierung den Markt, die progressive movements jedoch alternative Netzwerke bevorzugen. Als Folge dieser Ablehnung sieht Mayer die Gefahr von »self-exploitation and precarious work conditions«. Zusammenfassend meint sie: »This liberal current within the alternative milieu, which presents its creative while precarious existence as rebellious and innovative, dovetails nicely with the neoliberal activation of all human creativity into pervasive competition and contributes, if inadvertently, to the deterioration of labour conditions and social security more broadly.« Bleibt die Frage, ob das zwangs­läufig so ist oder ob es doch ein Möglichkeit gibt best of both worlds zu haben oder überspitzt gesagt, ob man die Garantie nicht zu verhungern doch mit der Gefahr erkaufen muss, vor Langeweile zu sterben wie der Situationist Raoul Vaneigem einst befürchtete.

Eine Bestätigung für Mayers These liefert Simone Beate Borgstede in einem Text über die in den 1980er Jahren besetzten Häuser der Hamburger Hafenstraße. Borgstede, selbst ursprünglich Besetzerin und jetzt legale Bewohnerin, schreibt: »Andere Aspekte des ›Hafenstraßen-Diskurses‹ wie der des ›Empowerments‹ durch die gegenseitige Hilfe, der auf mehr Autonomie von Sozialhilfe im Sinne von mehr Würde und Kreativität abzielte, trafen sich allerdings mit der liberalen und konservativen Forderung nach ›weniger Staat‹« (Borgstede 2010, S. 857) Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die große Begeisterung, die vor ein paar Jahren vor allem in Architekt­Innen­kreisen informellen Siedlungen entgegengebracht wurde. Das Staunen über die innovativen Lösungen sowie die kreative Wiederverwertung von Reststoffen und Müll ließen die kargen Lebensbedingungen und die Vorzüge einer Toilette mit Wasserspülung oft in Vergessenheit geraten. Eine dringend notwendige Kritik dieser Tendenzen hat Alexander Jachnow in einem Aufsatz für den in diesem Zusammenhang wichtigen Band »Learning From *« (Metrozones) verfasst. Der Titel des Artikels: »Die Attraktivität des informellen, der große Einfluss der Zivilgesellschaft und andere Fehleinschätzungen«. Er weist z.B. auf die mafiösen Strukturen und den starken Einfluss politischer Parteien auf informelle Siedlungen hin (er bezieht sich hier auf Mexiko City), der dem Blick von außen meist entgeht. Stadt selber machen hat hier oft auch zur Folge, dass billige, gefährliche Grundstücke extrem dicht bebaut werden, wohingegen zur Bebauung ausgewiesene (teure) Baugründe nur locker bebaut würden.

Seine Kritik setzt bei den niedrigen Löhnen der Menschen und »dem Preis des Bodens, der eine scheinbare absolute Größe darstellt« (S. 82) an. »Resümierend ist schließlich festzustellen, dass die Kreativität und die Möglichkeiten der Selbstentfaltung, die den Bewohnern gern nachgesagt wird, stark eingeschränkt bleiben.« (a. a. O.)

Wessen Recht auf Stadt

Bei aller Begeisterung über urbane Initiativen wird auch häufig übersehen, dass es nicht nur diejenigen gibt, die gerne mit dem Rad durch die Stadt fahren, sich für einen wirklich für alle zugänglichen öffentlichen Raum und eine offene Stadt sowie für ein lebendiges, vielfältiges kulturelles Leben einsetzen und dafür sind, dass Leerstand genutzt werden kann. Da sind auch diejenigen, die sich hinter ihren Thujenhecken verschanzen und dagegen sind, dass vor ihrem Haus ein Gehsteig errichtet wird, weil der könnte ja auch genutzt werden und die etwa im zehnten Bezirk in Wien regelmäßig sämtliche Radabstellanlagen zerstören, weil die Straßen auf immer und ewig dem Auto gehören sollen. Stadt selber machen zu fordern und dafür einzutreten ist schön und gut, gleichzeitig sollte man sich aber auch überlegen, ob man bereit ist die dafür notwendigen Debatten auszutragen und den langen Atem mitzubringen, der dafür Voraussetzung ist. Ebenso wie es notwendig ist, die Fallstricke rechtzeitig zu erkennen und den Staat nicht aus seinen sozialen Verpflichtungen zu entlassen sowie politische Forderungen zu stellen.

Der Schwerpunkt

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe setzt nach dieser Einleitung mit einem Artikel von Nicole Vrenegorfort, der eine Skizze jener Stadt zeichnet, auf die viele StadtaktivistInnen mit Anerkennung blicken: Hamburg. Vrenegor liefert keine chronologische Aufzählung der Ereignisse der letzten Jahre, sondern bewegt sich Entlang einer imaginären Linie – das ist auch der Titel ihres Artikels – mit einem Bus der Linie 3 durch Hamburg. Sie schreibt über eine Stadt im Ausverkauf und die Kampagnen und Kämpfe dagegen ebenso wie über die Bewohner und Bewohnerinnen derjenigen Stadtteile, für die sich die städtische Verwaltung kaum interessiert und die sie meist links liegen lässt.

Konkret heißt das, dass deren Lebensqualität viel weniger Aufmerksamkeit und Budget zuteil wird, als denjenigen Landmarks und Bevölkerungsschichten, die für eine Stadt im Städtewettbewerb offenbar notwendig sind. Wer sich genauer über die Ereignisse im Rahmen der Recht-auf-Stadt-Bewegung informieren will, findet im Internet zahlreiche Seiten (z.B. www.rechtaufstadt.net).

Die Stadt in der Revolte hieß 2010 das Schwerpunkt­thema einer Ausgabe von Das Argument, für die Ellen Bareis redaktionell mitverantwortlich war. Mittlerweile ist viel passiert: Stichworte Arabischer Frühling und Occupy. Wir haben Ellen Bareis gebeten unter Berücksichtigung der jüngsten Entwicklungen einen Blick auf die (Theorie-)Geschichte urbaner sozialer Bewegungen zu werfen. Eine Grundthese dabei ist, dass mit den neoliberalen Doktrinen der 1980er Jahre ein neuer Zyklus im Prozess der Urbanisierung begann, der sich insbesondere in den Ländern des Südens verheerend auswirkte, wo die Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank die Nationalstaaten zu Instrumenten der Privatisierungsdynamik werden ließen.

Der dritte Beitrag ist ein Interview mit Juan Haro, einem Vertreter des Movement for Justice in El Barrio. Das Movement ist 2004 aus dem Kampf um Wohnhäuser in East Harlem entstanden. Der Hausbesitzer wollte die Mieter und MieterInnen, vorrangig EinwanderInnen aus Mexiko, vertreiben, um mehr Profit aus seinen Häusern zu holen. Dieser erste Kampf der BewohnerInnen, den sie ebenso eindrucksvoll gewannen wie denjenigen gegen den darauf­folgenden Eigentümer, ist ein beeindruckendes Beispiel für eine urbane soziale Bewegung. 2006 wurde die Initiative von der New Yorker Village Voice zum Best Power to the People Movement gewählt.

Im vierten Artikel zum Schwerpunkt Stadt selber machen macht sich Elke Krasny auf die erfolgreiche Suche nach Zusammenhängen zwischen der Produktion des Raums und der Produktion der Sprache. Konkret forscht Krasny nach den »Beziehungen, die zwischen dem Kolonialen und dem Kulturellen in der europäischen Ideengeschichte und dem Raum der realen ökonomischen und sozialen Verhältnisse« zu finden sind.

Zusätzlich zu dieser Ausgabe von dérive haben wir gemeinsam mit KuKuMA und dem Rechtsinfokollektiv eine Rechtefibel herausgebracht, die über Rechtsfragen in Zusammenhang mit der Nutzung des öffentlichen Raums informiert. Einen Einblick in diese Thematik gibt Angelika Adensamer auch im Magazinteil dieser Ausgabe. Abschließend bleibt zu hoffen, dass unser Beitrag zu Stadt selber machen hilft, Diskussionen anzuregen und zu fördern und die Idee weiterzutragen, damit es nicht bei einem Strohfeuer bleibt.

Anmerkung:
[01] Der Prozessverlauf ist im Inter­net ausführlich doku­mentiert und kann auf der Website www.parkfiction. org nachgelesen werden. Des Weiteren gibt es den Film »Park Fiction — die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Strasse gehen« von Margit Czenki.
[02] Mehr dazu im Artikel von Nicole Vrenegor auf Seite 12.

Literaturverzeichnis:
Arendt, Hannah (1993) [1970]: Macht und Gewalt. München/Zürich: Pieper.
Becker, Joachim et al (Hg.)(2003): Learning From*. Reihe Metrozones, Band 2. Berlin: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst.
Borgstede, Simone Beate (2010): Der Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen. St. Pauli Hafenstraße, 1981 bis 1987. In: Das Argument, Heft 289 (6/2010).
Deleuze, Gilles & Guattari, Félix (1977): Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie 1. Suhrkamp. Frankfurt 1977, S. 150.
Kamleithner, Christa (2008): Gouvernementalität. Schwerpunkt in: dérive — Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 31.
Mayer, Margit (2010): Neoliberal Urbanization and the Politics of Contestation. In: Sohn, Heidi, Robles-Duran, Miguel & Kaminer, Tahl (Hg.): Urban Asymmetries. Studies in Uneven Urban Development. Rotterdam: 010 Publishers.
Schäfer, Christoph (2007): Unter den Palmen — der Schnee. Verfügbar unter: http://www.saloon-la-realidad.com/texte/unterdenpalmenderschnee.html (Stand 23.8.2012).
Vrenegor, Nicole (2001): Die Wünsche verlassen die Wohnung. Interview mit Christoph Schäfer. In: analyse & kritik — Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 449, 12.4.2001, Verfügbar unter: http://wiki.rechtaufstadt.net/index.php/Interview:_Park_Fiction (Stand 23.8.2012).

dérive, Mi., 2012.12.05

05. Dezember 2012 Christoph Laimer

Die Vorstellung von Ordnung

(SUBTITLE) Der öffentliche Raum und das Recht

Der öffentliche Raum wird von den vielen Menschen, die ihn teilen, auf verschiedenste Weisen und nach unterschiedlichsten Bedürfnissen genutzt. Um diese zu vereinbaren, gibt es eine Vielzahl von rechtlichen Regelungen, die die Nutzung des öffentlichen Raums betreffen. Bestimmte Funktionen des öffentlichen Raums sind gesetzlich geschützt. So z. B. die Mobilitätsmöglichkeiten der verschiedenen VerkehrsteilnehmerInnen, die Ausübung grundrechtlicher Freiheiten, wie Versammlungen, aber auch und bei weitem nicht zuletzt die ungestörte Ausübung kommerzieller Tätigkeiten. Oft – so scheint es zunehmend in den letzten Jahren – werden aber nicht nur Freiheiten geschützt, deren Ausübung der öffentliche Raum ermöglichen soll, sondern auch ein nur vage definierter Zustand der »öffentlichen Ordnung«, der ein Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt, das für unsere Zeit charakteristisch ist.

Nach dem Sicherheitspolizeigesetz (SPG), dem Gesetz, das die Aufrechter­haltung der öffentlichen Ordnung durch die Polizei regelt, sind öffentliche Orte als solche definiert, »die von einem nicht von vornherein bestimmten Personenkreis betreten werden können«. Hier kommt es also nicht auf die Eigentumsverhält­nisse an. Auch ein Gasthaus, ein Bahnhof oder ein geöffneter Hof, wie beispiels­weise das Wiener Museumsquartier, können einen öffentlichen Ort darstellen, obwohl sie in Privateigentum stehen; solche Orte werden auch halböffentliche genannt.

Dort haben die EigentümerInnen ein Hausrecht, das sich von ihrem zivilrechtlichen Eigentum ableitet. Zivilrechtlich hat jede/r EigentümerIn das Recht, andere von ihrem Eigentum auszuschließen und es nach eigenem Willen zu nutzen. Oft gibt es außerdem Hausordnungen, die den NutzerInnen u. a. den Konsum von Alkohol, das Musizieren oder aber auch einfach »Herumlungern« verbieten. Die Verpflichtung, sich an diese zu halten, lässt sich aber nicht allein aus dem Eigentumsrecht ableiten. Vielmehr wird an kommerziell genutzten Orten die juristische Konstruktion eines konkludenten Vertragsabschlusses angenommen, also eine nicht ausdrück­liche Einwilligung, sich an die Hausordnung zu halten, die schon dadurch gegeben wird, dass man das Gelände betritt und möglicherweise mit dem/der BesitzerIn ein Vertragsverhältnis eingeht. Bei einer Übertretung wird man vertragsbrüchig. Die Einhaltung dieser Regeln wird oft von privaten Sicherheitsdiensten überwacht. Diese Securities haben jedoch nur Rechte wie jede/r andere auch, etwa das Recht auf Notwehr, ein Anhalterecht bei gerichtlich strafbaren Handlungen oder zivilrechtliche Selbsthilfe. Der vorauseilende Gehorsam ihnen gegenüber ist aber aufgrund ihres uniformierten, autoritären Auftretens größer, und die Grenzen ihrer gesetzlichen Befugnisse, die in vielen Fällen überschritten werden, werden nur selten thematisiert.

Das Hausrecht geht allerdings nur so weit, als mit der Verfügung über das Eigentum nicht in die Rechte anderer eingegriffen wird. So darf z. B. auch eine Hausordnung nicht diskriminierend sein. Je mehr des kulturellen und sozialen Lebens sich an halböffentlichen Orten abspielt, desto eher stellt ein Ausschluss einen Eingriff in grundrechtlich geschützte soziale, kommunikative und politische Freiheiten dar. In den 1980er Jahren wurde z. B. ein Lokalverbot im einzigen Dorfgasthof vom Obersten Gerichtshof (OGH) für rechtswidrig erklärt, da dies auch der (einzige) Treffpunkt für Vereine u. ä. war. An anderen Orten, wie z. B. Bahnhöfen, ist der/die private BetreiberIn sogar verpflichtet, allen Personen den Zugang zu ermöglichen, da er/sie der Pflicht zur Personenbeförderung nachkommen muss.

Einen großen Aufschrei wegen einer solchen Hausordnung gab es 2009, als für eine kurze Zeit das Alkoholverbot im Museumsquartier streng überwacht wurde. Die Leitung des Wiener MQ lenkte nach Protesten zwar ein, dies kann jedoch von Privaten, nicht immer erwartet werden. Im Gegensatz zur öffentlichen Hand haben sie der Allgemeinheit gegenüber keine politische Verpflichtung. Daher ist die Tendenz, dass halböffentliche Orte immer mehr werden und eine immer größere Rolle spielen, beunruhigend. Doch nicht nur Private, sondern auch die Polizei hat eine genaue Vorstellung davon, wie der öffentliche Raum auszusehen hat. Wer dieses Bild stört, etwa Menschen, die nicht sauber gekleidet, gesund, kaufkräftig und von europäischem Aussehen sind, wird verdrängt. Zu diesem Zweck macht sich die Polizei auf die Suche nach Paragraphen, die eine rechtliche Grundlage für das Abstrafen von unliebsamen Verhaltensweisen bieten können.

Die Polizei ist gesetzlich zur Aufrechterhaltung der »öffentlichen Ordnung« verpflichtet. Geschützt wird diese beispielsweise durch landesgesetzliche Verbote der Anstandsverletzung. Diese wiederum wird vom Verwaltungsgerichtshof (VwGH) folgendermaßen definiert: »Die Verletzung des öffentlichen Anstands wird durch ein Verhalten erfüllt, das mit den allgemeinen Grundsätzen der Schicklichkeit nicht im Einklang steht […] Bei der Beurteilung ist ein […] objektiver Maßstab (sic) anzulegen.« (VwGH 19. 10. 2005, 2003/09/0074) Unter diesen Tatbestand fallen z. B. das Betreten von Parkbänken mit Straßenschuhen, das Stören von Trauer- und Gedächtnisfeierlichkeiten durch provokante Aktionen und das alkoholisierte Schlafen auf einer öffentlichen Straße.

Die Polizei benutzt den Tatbestand der Anstandsverletzung oft repressiv, um abweichendes Verhalten zu bestrafen; so ahndete sie z. B. auf einem Denkmal sitzen und Bier trinken, auf einer Kundgebung einen Politiker als Rassist beschimpfen oder das Pfeifen mit einer Trillerpfeife während einer Gedenkveranstaltung. In all diesen Fällen entschieden die höheren Instanzen, dass hier der Begriff der Anstandsverletzung zu weit ausgelegt worden war. Doch nicht jeder hat die Möglichkeit, alle Rechtsmittel zu ergreifen. Wer z. B. nur wenig Deutschkenntnisse und/oder keinen Zugang zu Beratung hat, muss sich mit den Geldstrafen abfinden.

Dass die Gesetzgebung zu besonders weiten Begriffen wie »Störung der öffentlichen Ordnung« und »Anstandsverletzung« greift, hat insbesondere zwei Gründe. Einerseits verändern sich die technischen, kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten so schnell, dass schon nach einigen Jahren neue Problemstellungen auftreten können, die den öffentlichen Raum betreffen. So verändern sich die Art des Verkehrs, aber auch die Nutzung des öffentlichen Raums und die Architektur stetig. Andererseits kann die »öffentliche Ordnung« auf so viele – möglicherweise noch unbekannte – Arten gestört werden, dass nicht alle einzeln von vornherein verboten werden können.

Auch die StVO, deren eigentlicher Zweck es ist, die Flüssigkeit des Verkehrs zu gewährleisten, wird oft zur Erhaltung einer geradezu bedrückenden Ordnung verwendet. So wurde z. B. – bevor es ein Bettelverbot in Wien gab – §78 StVO, der FußgängerInnen das Behindern des Verkehrsflusses am Gehsteig, u. a. durch »unbegründetes Stehenbleiben«, verbietet, dazu verwendet, BettlerInnen von der Straße zu vertreiben. Auch Demonstrationen, die wegen der Behinderung des Verkehrs und ihrer Lautstärke oftmals von PassantInnen, aber auch von der Polizei per se als Störung der »öffentlichen Ordnung« gesehen werden und nicht als Ausdruck eines lebendigen politischen Diskurses und Ausübung eines Grundrechts, kommen unter Beschuss der StVO. Hier geht es um den Begriff der »Versammlung« selbst. Liegt eine solche vor, ist sie verfassungsrechtlich geschützt, und die TeilnehmerInnen können nicht wegen Verstößen gegen die StVO belangt werden, da diese dem Verfassungsrecht untergeordnet ist. Oftmals wurden daher für TeilnehmerInnen von nicht angemeldeten Demonstrationen Strafzettel nach der StVO (z. B. wegen Gehen auf der Fahrbahn, oder – besonders skurril – wegen in der Gruppe gegen die Einbahn gehen) verteilt, da eine pflichtwidrig nicht angemeldete Versammlung gar keine Versammlung sei und daher auch nicht geschützt werden sollte. 2011 erklärte der Verfassungsgerichtshof (VfGH) jedoch, dass auch spontane Versammlungen unter bestimmten Voraussetzungen geschützt sind und daher insbesondere keine Strafen nach der StVO verhängt werden dürfen.

Auch zum Bettelverbot gab es im Sommer 2012 erfreuliche Entscheidungen durch den VfGH. Ein generelles Bettelverbot, ohne Beschränkung auf aggressives, aufdringliches oder gewerbsmäßiges Betteln, wie in Salzburg, ist demnach verfassungswidrig. Der betreffende Paragraph des Salzburger Landessicherheitsgesetzes ist somit aufgehoben und wird voraussichtlich in der nächsten Landtagssitzung im Oktober 2012 in einer verfassungskonformen Fassung neu beschlossen. Im Urteil wird erklärt: »Öffentlichen Orten ist jedoch die Begegnung mit anderen Menschen immanent. […] Ein ausnahmsloses Verbot, als »stiller« Bettler den öffentlichen Ort zu nutzen, grenzt ohne sachliche Rechtfertigung bestimmte Menschen davon aus, öffentliche Orte wie andere zu ihrem selbstgewählten Zweck zu nutzen und verstößt daher gegen den Gleichheitsgrundsatz.« (VfGH 30. 6. 2012, G 155/10 – 9) Dennoch ist die Höchstgerichtsbarkeit keine Rettung, denn alles, was sie tun kann, ist Gesetze bzw. Urteile aufheben, nicht jedoch neue Gesetze schaffen oder alte um­formulieren. Dies wird nur durch gesellschaftliche Meinungsbildung und politischen Druck geschehen.


Literaturverzeichnis:
Eisenberger, Iris (2003): § 78 StVO oder was man damit alles machen kann! In: Juridikum, 2003, S. 73ff.
Fuchs, Walter (2005): Private Sicherheitsdienste und öffentlicher Raum. Ein Überblick über die öffentlich-rechtlichen Rahmenbedingungen in Österreich mit rechtstatsächlichen und kriminologischen Anmerkungen. Dissertation, verfügbar unter : http://www.irks.at/legacy/downloads/fuchs_diss.pdf
Frühwirth, Ronald (2011): Öffentlicher Anstand. Der Versuch einer Annäherung an einen vagen Begriff. In: Juridikum, 1/2011, S. 63-70.

dérive, Mi., 2012.12.05

05. Dezember 2012 Angelika Adensamer

Besprechung

(SUBTITLE) Nationalsozialistische Neugestaltungsplanungen für Wien

Planerische und bauliche Aktivitäten in Wien während des Nationalsozialismus und etwaige Kontinuitäten der handelnden Personen in Architektur und Planung wurden bisher nur ansatzweise und verstreut in verschiedenen Publikationen aufgearbeitet. Ingrid Holzschuh dokumentiert in ihrem Buch Neugestaltungsplanungen für Wien von 1938 bis 1942 mithilfe neuer Quellen. Zu Beginn des Buches wird ein Überblick über verschiedene Planungsvorschläge, die zum Teil unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland aus den Schubladen gezogen wurden, gegeben. 1938 etwa entwarfen die beiden Professoren Erwin Ilz (Technische Hochschule Wien) und Franz Schuster (Hochschule für angewandte Kunst Wien) jeweils eigene – niemals umgesetzte – Pläne für eine Aufmarschachse mit Partei- und Kulturforum im zweiten Wiener Bezirk Leopoldstadt.

Die NS-Zeit war sozusagen günstig für solche Planungen. Vor dem Anschluss betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung im Bezirk Leopoldstadt ca. 40 Prozent. Anfang der 1940er Jahre – nach Vertreibung, Ermordung und Deportation dieser Teile der Bevölkerung – war Platz für die großräumige Umstrukturierung des Bezirks, Wien sollte an die Donau gebracht werden. Legitimiert durch die Politik der Nazis, wurde in der Neu- und Umgestaltungsplanung der Stadt an der Vernichtung des Bauerbes der jüdischen Gemeinde gearbeitet. Holzschuh zitiert den Wiener Humangeografen Hugo Hassinger, der im Juli 1938 von »wurzellosem Fremdvolk« in der Leopoldstadt und in Brigittenau sprach, »nichts Erhaltenswertes« sei in diesem Stadtteil enthalten, der Stadtteil bedürfe »der Auflockerung und Verschönerung«.

Schwerpunkt des Buches ist das Neugestaltungsprojekt für Wien des Berliner Architekten Hanns Dustmann. Dieser wurde 1940 auf Betreiben des damaligen Gauleiters Baldur von Schirach als Baureferent nach Wien geholt. Er arbeitete weiter unter Albert Speer am Neugestaltungsprogramm für Berlin, in Wien bedurften bald nach seiner Ernennung alle Bauprojekte der Stadt seiner Zustimmung. Im städtischen Planungsamt machte sich durch die Einsetzung Dustmanns als ein der Stadtbürokratie übergeordneter Planer bald Missstimmung breit, da die Planer der Bauverwaltung zu reinen Zuarbeitern degradiert wurden. Nach Darstellung von Ingrid Holzschuh wurde dadurch jede eigenverantwortliche Planung des Wiener Stadtplanungsamtes unterdrückt.

Das Baumodell des Neugestaltungsprojekts für Wien vom November 1941 – bezeichnet als »Projekt 11.41« – wird im Buch ausführlich beschrieben und als umfangreichste Planung einer Neugestaltung bezeichnet. Das Projekt dürfte Resultat einer Interessengemeinschaft des Planungsamtes Wien und des Büros von Hanns Dustmann gewesen sein. Holzschuh versucht in ihrem Buch, die Bedeutung dieses Modells – von dem nur Fotos vorhanden sind – für die Wiener Stadtplanung herauszuarbeiten. Die Recherche dazu war insofern schwierig, als es keine Plandokumente gibt. Das Modell selbst setzt sich aus drei Teilen zusammen: Innere Stadt mit Gauforum, Nordbahnhof und Baldur-von-Schirach-Insel; Nordstadt und Südstadt.

Reichsarchitekt Dustmann setzte das »Nationalsozialistische Handwerk« der Stadtplanung im Modell »11.41« für Wien um: symmetrisch angeordnete breite Aufmarschachsen, in sich geschlossene Plätze (Foren), Ehren- und Denkmäler, Gebäudekomplexe, die entlang der Hauptachse platziert werden, und Monumentalbauten, die als Abschluss der großen Symmetrieachsen dienen. Raumplanerische und architektonische Ordnungen des Nationalsozialismus hatten die Absicht, einen inszenierten Raum herzustellen, in dem das Individuum nur begrenzte Freiheit zugewiesen bekam. Bewegungsrichtungen und Blickachsen wurden vorgegeben, symbolische Zeichen der Partei (Statuen, Reliefs, Fahnen etc.) unterstrichen diese zusätzlich. Nicht nur der öffentliche Raum wurde auf diese Weise gegliedert, es wurde sozusagen ein Koordinatensystem hergestellt, in dem das Individuum seinen Platz zugewiesen bekam.

Im letzten Kapitel beschreibt Holzschuh die Neugestaltung der Stadt Dresden als Prototyp von Planungen während des Nationalsozialismus. Sie vergleicht die Planungsabläufe in Wien und Dresden, um zu zeigen, wie gleichförmig Planung in jeder der ausgewählten Neugestaltungsstädte ablief.

Im Frühjahr 1942 kehrte Hanns Dustmann nach Berlin zurück. Aufgrund der Kriegsereignisse wurden die »Baubedarfsträger« von Albert Speer aufgefordert »die nicht kriegswichtigen Bauvorhaben unverzüglich stillzulegen«, die Aktivitäten in Wien im Bereich der Stadtplanung wurden eingestellt – auch nachdem Wien im Jänner 1943 zur »Neugestaltungsstadt nach dem Krieg« ernannt wurde. Das Projekt 11.41 blieb ein Schubladenprojekt und kann als eine der Wiener Architekturfantasien des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden.

Fragen nach dem Verhältnis von Politik, Machtstrukturen und Planungstätigkeiten und nach der persönlichen Verantwortung von PlanerInnen und ArchitektInnen werden in dem Buch nur am Rande gestellt. Dieses Thema bedarf weiterer Aufarbeitung. Ingrid Holzschuhs Buch ist jedenfalls ein wichtiger Beitrag, die weißen Flecken in Österreichs Architektur- und Planungsgeschichte zu bearbeiten.


Ingrid Holzschuh
Wiener Stadtplanung im Nationalsozialismus von 1938 bis 1942. Das Neugestaltungsprojekt von Architekt Hanns Dustmann
Wien: Böhlau, 2011
122 Seiten, 29,90 Euro

dérive, Mi., 2012.12.05

05. Dezember 2012 Gerhard Rauscher



verknüpfte Publikationen
Wiener Stadtplanung im Nationalsozialismus von 1938 bis 1942

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