Editorial

Wenn von Städtebau in Afrika die Rede ist, sind meist Katastrophenhilfe oder die Verbesserung der Infrastruktur in überbevölkerten Slums gemeint. Doch darin erschöpft sich die Thematik bei weitem nicht. Missions-, Kolonial- und Postkolonialgeschichte haben zahlreiche bauliche Spuren hinterlassen; nach der Unabhängigkeit der afrikanischen Länder folgten die östliche und westliche Entwicklungshilfe, nach dem Kalten Krieg die Entwicklungszusammenarbeit. Die Spuren aller Epochen und Ereignisse ­bilden ein einzigartiges afrikanisch-europäisches Erbe.

In diesem Heft besuchen wir drei Bauten, die im Schatten der Stone Town – Sansibars Touristenattraktion und Unesco-Weltkulturerbe – ihr Dasein fristen: ein Art-déco-Kino, in dem Afrikanerinnen und Afrikanern nicht nur mit Filmen, sondern auch in politischen Veranstaltungen europäisches Gedankengut nahegebracht wurde; eine koloniale Hafenanlage, in der unzählige Kisten und Koffer auf dem Weg nach und von Europa zwischengelagert wurden; und eine ostdeutsche Plattenbausiedlung vor der historischen Altstadt. Die Reihe könnte mit Kirchen verschiedener Religionsgemeinschaften bis zu modernen Infrastrukturanlagen erweitert werden. Solche Bauwerke, die zur kulturellen Vielfalt eines Ortes beitragen, gibt es überall in Afrika.

Auf Sansibar treten diese geschichtlichen, kulturellen und religiösen Zeitzeugen aussergewöhnlich facettenreich und dicht in Erscheinung.

Doch wie begegnet man den Spuren der eigenen und der fremden Geschichte, und wer entscheidet, was mit diesen oft vom Zerfall bedrohten Bauten und Anlagen geschieht? Wo die Interessen von Architektur, Entwicklungszusammenarbeit und Denkmalschutz aufeinander prallen, spitzen sich diese Fragen zu. Die Auseinandersetzung mit diesen konkreten Fällen kann afrikanischen und europäischen Fachleuten Antworten auf übergeordnete Fragen liefern. Zum Beispiel: Können traditionell erbaute Häuser – kombiniert mit modernen Techniken und einer von Fachleuten erstellten Siedlungsstruktur – dazu beitragen, finanziell tragbare Sanierungs- und Erweiterungsmodelle für überbordende Vorstädte zu finden? Die Altbausubstanz vieler Städte weist, sofern sie unter einem weiteren Blickwinkel betrachtet wird, ein grosses Potenzial für Umnutzungen und künftige Entwicklungen auf. Umgekehrt beschäf­tigen sich Lehrstühle in Europa schon lange damit, was man von den Bauweisen und ­Lebensstrategien in Slums lernen kann. Auch wird Entwicklungszusammenarbeit in Zukunft vermehrt mit kommerziellen Aspekten einhergehen – China, Länder der ­ara­bischen Halbinsel und Indien schreiten unbeirrt voran. Diese Tatsache eröffnet ­Chancen für alle und gebietet gleichzeitig einen umsichtigen und kritischen Blick in den Spiegel der Vergangenheit.

Danielle Fischer

Inhalt

05 WETTBEWERBE
ATU Prix 2012

12 MAGAZIN
Lernen von der afrikanischen Moderne | Hygiene in Lüftungsanlagen

18 MAJESTIC, ART-DÉCO-KINO IN DER STONETOWN
Danielle Fischer
Stone Town und Umgebung bieten eine grosse kulturelle und ­stilistische Vielfalt an Bauten. Diese wird wegen der zu touristischen Zwecken idealisierten Darstellung übersehen und zerfällt. Das zeigt die Geschichte eines Kinos in afroindischer Art-déco-Moderne.

23 MALINDI, HAFEN ZWISCHEN KOLONIALZEIT UND MODERNE
Annika Seifert
Malindi Port, im Nordwesten der Stone Town, stösst als Güterumschlagplatz von überregionaler Bedeutung im Kontext denkmalpflegerischer Richtlinien seit 20 Jahren an räumliche und infrastrukturelle Grenzen. Seine Verwendung nach dem Neubau eines Frachthafens ist noch offen.

27 MICHENZANI, HÄUSERMEER UND PLATTENBAUTEN
Antoni Folkers
Zwei Siedlungsstrategien der Vergangenheit spannen ein weites Feld von baulichen Möglichkeiten für Sansibar-Stadt auf: von der bevölkerungsgesteuerten, organischen Bauweise bis zu den Michenzani-Plattenbauten.

33 SIA
Kompositorische Denkmalpflege | 20 Jahre Engagement für die Baukultur | Den Wettbewerb hegen und pflegen

39 WEITERBILDUNG
MAS Raumentwicklung und Infrastruktursysteme | Ausbildungsprogramme des VSGU

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Majestic, Art-DÉco-Kino in der Stone Town

Sansibars Stone Town gehört seit zwölf Jahren zum Unesco-Weltkulturerbe. Berühmt ist die Stadt für ihre arabisch und indisch geprägten Bauten aus Korallenstein. Das märchenhafte Image ist jedoch eine Vereinfachung, die über die Stadtgrenzen hinaus Auswirkungen auf die bauliche Entwicklung hat. Die Stone Town und ihr Umfeld bieten eine grössere kulturelle und stilistische Vielfalt. Diese wird jedoch wegen der zu touristischen Zwecken idealisierten Darstellung übersehen und zerfällt. Das zeigt die Geschichte eines Kinos zwischen schottischem Sarazenismus und afro-indischer Art-déco-Moderne.

Sansibars Stone Town gehört seit zwölf Jahren zum Unesco-Weltkulturerbe. Berühmt ist die Stadt für ihre arabisch und indisch geprägten Bauten aus Korallenstein. Das märchenhafte Image ist jedoch eine Vereinfachung, die über die Stadtgrenzen hinaus Auswirkungen auf die bauliche Entwicklung hat. Die Stone Town und ihr Umfeld bieten eine grössere kulturelle und stilistische Vielfalt. Diese wird jedoch wegen der zu touristischen Zwecken idealisierten Darstellung übersehen und zerfällt. Das zeigt die Geschichte eines Kinos zwischen schottischem Sarazenismus und afro-indischer Art-déco-Moderne.

Der Archipel Sansibar vor der Küste Tansanias besteht aus den Inseln Unguja und Pemba sowie zahlreichen Nebeninseln. Die Hauptstadt Stone Town befindet sich im Westen Ungujas – diese Insel wird fast immer vereinfachend als Sansibar bezeichnet. Die ersten Bewohner der Region waren vom Festland stammende Bantu. Ab dem 8. Jahrhundert prägten arabische, indische, später chinesische und portugiesische Händler, die mit dem Monsun übers Meer gesegelt kamen, die Kultur. Als verbindende Sprache der Küstenregion entstand das Swahili. 1832 entschied der omanische Sultan Sayyid Sa’ îd, wegen der strategisch günstigen Lage für den Sklavenhandel, seinen Hof nach Sansibar zu verlegen. Ihm folgten viele wohlhabende Händlerfamilien. Unter seinem Nachfolger Sultan Barghash zählte die Stadt um 1890 über 3000 Häuser und 80 000 Einwohner. Sansibar blieb in der Folge trotz seiner bewegten Geschichte (vgl. Kasten S. 19) ein Ort unterschiedlichster Kulturen.

Schottischer Baustil aus 1001 Nacht

Die mitunter verwirrende kulturelle Vielfalt manifestiert sich im Stadtbild der historischen Stone Town. Die meisten der dicht aneinandergebauten, mehrstöckigen Wohnhäuser aus Korallenstein wurden von Einwanderern aus Indien und Oman erstellt.

Dekorationen und Formen bestimmter Bauteile, wie etwa der Türbogen, weisen auf Bautraditionen in den verschiedenen Herkunftsländern hin. Die Stadt ist aber noch von vielen anderen kulturellen und stilistischen Einflüssen geprägt, denen jedoch weder die Denkmalpflege noch der Tourismus Beachtung schenken.

Anschaulich zeigt dies die Geschichte zweier Kinogebäude, des «Majestic Cinema» und seines Vorgängerbaus, des «Royal Theater», im wohlhabenden Quartier Vuga am südlichen Rand der Stadt. Hier legte die Kolonialverwaltung um die Jahrhundertwende ein Gartenquartier nach europäischem Vorbild an. Repräsentative Bauten wie das Spital, die Aga-Khan-Schule und das Memorial Peace Museum zeugen davon.

In vielen ostafrikanischen Städten entstanden ab den 1920er-Jahren Kinobauten. Sie wurden bis in die späten 1950er-Jahre auch für Konzerte, Theatervorstellungen, Lesungen und politische Veranstaltungen genutzt.[1] In Sansibar hatte der indische Seidenhändler Hassanali Adamji Jariwalla von 1916 bis 1936 eine Lizenz für Unterhaltungslokale. Er besass mehrere Theater und Kinos, bis er 1942 nach Daressalam übersiedelte, um dort sein Kinoimperium auszubauen.[2] 1921 gab er das Royal Theater in Auftrag. Architekt war kein geringerer als der britische Konsul. John Sinclair, ein Schotte, war seit 1896 auf Sansibar stationiert und als Konsul unter anderem für die Stadtplanung zuständig.

Aussergewöhnlich war, dass er die Stadt mit seinen Bauten massgeblich auch als Architekt prägte. Er entwarf neben dem Royal Theater und der angrenzenden Aga Khan Secondary School[3] auch das Gerichtsgebäude und das Peace Memorial Museum im Quartier Vuga, den Seyyideieh-Markt im Quartier Darajani und das Postgebäude im Quartier Shangani. Der Autodidakt kombinierte dabei europäische Architektur mit Elementen aus dem arabischen und indischen Stilrepertoire – den neuen Stil nannte er «Sarazenismus»[4]. Ein Kolonialbeamter schilderte das später süffisant in seinen Memoiren: «In Sansibar mussten alle Baueingabepläne vom Konsul, dessen Steckenpferd die Architektur war, überprüft werden. Es war seine – ohne Zweifel herausragende – Idee, dass alle modernen Gebäude einem Stil entsprechen mussten, den er ‹saracenic› nannte. Dieser wurde von ihm als die angemessene Umsetzung der arabischen Bauweise betrachtet. So sah das neue Spital aus wie der Palast eines Kalifen, ein Kino in der Nähe das Hafens hatte Ähnlichkeit mit der Alhambra, während der neue Flughafen aussah, als wären seine Details der Grossen Moschee in Kairo entnommen …»[5] Die meisten Bauten Sinclairs stehen heute unter Denkmalschutz und sind gut dokumentiert. Sein Royal Theater (Abb. 1) zeigte gegen die Hauptstrasse eine zweistöckige Front mit Ecktürmen, die im Erdgeschoss und im ersten Stock durch eine Veranda mit drei arabischen Spitzbögen verbunden waren. Französische Balustraden begrenzten die Balkone auf den Türmen. Auch Sinclairs Nachfolger, Konsul Eric Dutton, beeinflusste die Stadtplanung. Er erarbeitete einen ehrgeizigen Zehnjahresplan für 1946 bis 1955, den der Kolonialbeamte Henry Kendall weiterentwickelte. Doch kurz nach der Veröffentlichung wurde klar, dass die britische Regierung nicht gewillt war, die damit verbundenen Kosten zu tragen. Die Zeit des Kolonialismus ging ihrem Ende entgegen, das British Empire schränkte die Aufgabenbereiche seiner Kolonialbeamten allmählich ein. Kendall setzte lediglich noch eine Zonierung des Stadtgebiets in die Zonen A (High Class), B (Middle Class), C und D (Native Huts) in Kraft (vgl. «Michenzani, Häusermeer und Plattenbauten», S. 27).[6] Damit sollten die Stone Town und die Villengebiete, in denen Europäer, aber auch vermögende Inder und Araber wohnten, nicht zuletzt im Hinblick auf eine touristische Erschliessung der Insel vor unerwünschten baulichen Entwicklungen geschützt werden. Die Stone Town und mit ihr das Royal Theater wurden der Zone A zugeordnet, in der einer guten baulichen Gestaltung viel Wert beigemessen wurde.[7]

Jitterbug und Kommunismus

Die politische Übergangszeit von der Mitte der 1950er-Jahre bis zur Revolution bedarf in architekturhistorischer Hinsicht der Aufarbeitung. Sie ist bedeutungsvoll, denn die Bevölkerung bereitete sich politisch und kulturell auf die Unabhängigkeit vor und wurde mit vielfältigen Einflüssen aus dem Ausland konfrontiert. Mit dem Mau-Mau-Krieg 1951 – 1956 in der Kolonie Kenia gerieten die Grundfesten der britischen Kolonialmacht in Ostafrika ins Wanken. Viele junge Sansibarer und Tansanier reisten zu Bildungszwecken nach Russland, China, Kuba oder England, die meisten von der aufstrebenden Afroshirazi Party abgesandt und von kommunistischen Parteien aus der ganzen Welt eingeladen. Manche traten der Partei bei und erlernten das politische Handwerk, das sie zehn Jahre später in der Revolution und beim Aufbau des sozialistischen Staates in Tansania brauchen konnten. Aus dem Ausland brachten sie aber auch einen neuen Lebensstil mit. Der spätere Minister Ali Sultan Issa schildert die 1950er-Jahre in seiner Autobiografie wie folgt: «Ich trug Dungarees (Jeans aus Denim) und T-Shirts mit aufgedruckten Motiven. Ich lernte den Jitterbug tanzen, der in Sansibar total unbekannt war. Wir kannten schon Walzer, Rumba und Tango, aber der Jitterbug, der ursprünglich aus dem Süden der Vereinigten Staaten kam, war neu. Ich hatte auch eine Leidenschaft für Nat King Cole, Perry Como und Frank Sinatra …»[8] Auch in der Architektur distanzierte man sich vom kolonialen Stil. Neue Bauten entwarfen nun häufig Fachleute aus wohlhabenden indisch- und arabischstämmigen Familien. Manche hatten in den Heimatländern ihrer Vorfahren oder in Europa studiert.

Art déco, Kolonialstil und Moderne

1954 brannte das mittlerweile Majestic Cinema genannte Royal Theater ab. Die Besitzerin Zanzibar Theater Ltd. gab einen Neubau an derselben Stelle in Auftrag. Über den Architekten Dayaliji Pitamber Sachania – einen Sansibarer, dessen Familie aus dem westindischen Gujarat stammte – ist wenig bekannt; wahrscheinlich hatte er in England Architektur studiert. In den 1940er- und 1950er-Jahren baute er einige Regierungsgebäude und den Hindutempel Shree Shiv Shakti Mandi im Quartier Malindi. Nach Angaben seines Enkels hat auch Sachanias Tochter Tarla Gunvantlal Valambhia am Majestic Cinema mitgearbeitet.[9] Das neue Kino wurde am 20. Oktober 1955 vom Sultan Seyyid Khalifa bin Haroub im Beisein von Konsul Henry Steven Porter mit dem indischen Film «Uran Khatola» feierlich eröffnet.

Das Gebäude kann als ein später Vorbote der Moderne in Sansibar betrachtet werden. Entscheidender ist jedoch, dass seit Beginn der Kolonialzeit erstmals einheimische Architekten allein für die Planung und Ausführung wichtiger Bauten verantwortlich waren. Für Fachleute aus indisch- und arabischstämmigen Familien war das aber nur in der kurzen Zeitspanne bis zur Revolution möglich. D. P. Sachania starb noch vor der Revolution 1960 bei einem Autounfall in Sansibar.[10] Stilistisch ist das sorgfältig proportionierte und mit dekorativen Details versehene Kino vom Art déco geprägt. Der Bau verfügt über moderne Elemente wie die horizontale Betonung durch Balkone, Brises-Soleil und Vordach und die zu einer Grossform zusammengefassten Fenster auf der rechten Seite. Das Kino erinnert an Gebäude in Daressalam wie das 1946 erbaute Diamond Jubilee Building oder an die von Italienern wie Mario Fanan oder Arturo Mezzidimi entworfenen, ebenfalls bis spät in die 1950er-Jahre errichteten Gebäude in Eritreas Art-déco-Stadt Asmara (TEC21 23/2004).[11]

Zeugen einer multikulturellen Architekturgeschichte

Solche Bauten, ob von bekannten oder unbekannten Architekten, sind Zeugen einer weitgehend unabhängig von den Kolonialmächten umgesetzten modernen Architektur. Diese Bewegung setzte gegen Ende der Kolonialzeit ein. In Sansibar stammten die Fachleute, die sie trugen, in der Regel aus indischen, arabischen oder europäischen Familien. Sie waren, im Gegensatz zu den britischen Kolonialbeamten, in Afrika aufgewachsen. Im britisch verwalteten Sansibar bedeutete die Auseinandersetzung mit den neuen Formen der Moderne auch ansatzweise eine Befreiung vom Stildiktat der Kolonialverwaltung. Dass dazu auch Anleihen beim französisch-nordamerikanischen Art déco dienen konnten, zeigt genauso wie die romantische Exotik eines schottischen Kolonialbeamten, wie vielfältig die wechselseitigen Bezugnahmen im Architekturschaffen in einem von Handel, Migration und Kolonialismus geprägten Kontext waren. Das Majestic Cinema ist ein Beispiel für die Vielfalt der Altbauten in afrikanischen Städten, die mit meist qualitativ guter Bausubstanz auch ein Potenzial für Umnutzungen aufweisen – gerade auch im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit.

Viele Jahre sind vergangen, seit im Majestic Cinema der letzte Film lief. Es steht seit langem leer und zerfällt. Im Conservation Plan der Unesco, der die schützenswerten Bauten und Plätze von Sansibars Stone Town bezeichnet, ist es nicht vermerkt. Gemäss Sam Pickens, dem stellvertretenden Direktor des Aga Khan Trust for Culture, der den Plan erstellt hat, würde das Majestic Cinema heute wohl aufgelistet.[12]


Anmerkungen:
[01] Brigitte Reinwald: «Tonight at the Empire; Cinema and Urbanity in Zanzibar, 1920s to 1960s», in: Verdier /Afrique & histoire, 2006/1, Bd. 5, S. 85 – 90
[02] Brigitte Reinwald, a.a.O., S. 90
[03] Heute Sitz des Kiswahili-Instituts der Universität Sansibar
[04] Abdul Sheriff: «The History & Conservation of Zanzibar Stone Town», in: Eastern African Studies, London 1992, S. 24 ff. Nach Sheriff war Sinclairs «Sarazenismus» hauptsächlich von Architekturstilen in Marokko und Instanbul inspiriert
[05] F. D. Ommanney: «Isle of Cloves», London, M. W. Books, 1957, S. 86
[06] William Cunningham Bissell: Urban Design, Chaos and Colonial power in Zanzibar. Bloomington, USA 2011, S. 280
[07] Gart A. Myers: Verandahs of Powers. Colonialism and Space in Urban Africa. Syracuse University Press, Syracuse / New York 2003, S. 101
[08] G. T. Burgess: Race, Revolution and the Struggle for Human Rights in Zanzibar – The Memoirs of Ali Sultan Issa and Seif Sharif Hamad. Ohio University Press, Athens OH 2009, S. 46
[09] Persönliches Telefonat am 18.1.2012 mit Bash Valambia (Enkel Sachanias)
[10] Laut persönlichen Auskünften von Narendra Gajjar (E-Mail und Telefonat am 20.1.2012) sowie Bash Valambia (Telefonat am 25.1.2012)
[11] Vgl. auch: Edward Denison, Guang Yu Ren, Naigzy Gebremedhin: Asmara, Africa’s secret Modernist City. London / New York 2003, S. 228
[12] Sam Pickens, stellvertretender Direktor, Aga Khan Trust for Culture, Genf, E-Mail am 12.1.2012

TEC21, Fr., 2012.09.21

21. September 2012 Danielle Fischer

Malindi, Hafen zwischen Kolonialzeit und Moderne

Die Inseln Sansibars blicken auf eine jahrhundertealte Tradition des Seehandels zurück. Der Gewürz- und Sklavenhandel entlang der Monsunrouten des Indischen Ozeans brachte die auch heute noch halbautonom verwalteten Inseln vor der Küste Tansanias bereits im 8. Jahrhundert n. Chr. in Berührung mit den Kulturen Indiens und der arabischen Welt. Die daraus erwachsene und sich entlang der ostafrikanischen Küste ausbreitende Swahili-Kultur hat eine eigenständige, von omanischen und indischen Einflüssen geprägte Architektur hervorgebracht, die heute nirgends so lebendig und intakt erhalten ist wie in der Stone Town.

Der Conservation Plan von 1994

Bereits 1994 wurde ein übergeordneter Plan zum Erhalt und Schutz der historischen Stadtsubstanz erarbeitet. Der durch den Aga Khan Trust for Culture initiierte und schliesslich durch die lokalen Behörden umgesetzte Conservation Plan hat bis heute Gültigkeit für Planungs­fragen im Gebiet der Stone Town. Basierend auf einer detaillierten Analyse der Altstadt, identifiziert er herausragende Einzelbauwerke und Plätze, klassifiziert sämtliche Gebäude und öffentlichen Räume gemäss ihrem historischen Wert und sieht insgesamt vier verschiedene Action Areas für konkrete Eingriffe zur Aufwertung des Stadtgefüges vor. Einer dieser Schwerpunkte ist die Port Entrance Action Area, für die Vorschläge zur Klärung der Schnittstelle zwischen Hafen und Altstadt gemacht wurden: Zentrale Massnahmen, die in den Folge­jahren umgesetzt werden konnten, waren die Verbesserung der sich zuspitzenden Verkehrs- und Parkplatzsituation sowie die Verlegung des Fähranlegers vom Industriehafen an einen neu geschaffenen Anleger zwischen Containerkais und Altstadt. Doch das Augenmerk des Conservation Plan galt nicht der eigentlichen Hafenanlage, sondern der Gestaltung und Definition ihrer Berührungspunkte mit der historischen Stadt und ­ihren Besuchern. Obschon ihre Lage und Form im Norden der Stadt auf das frühe 20. Jahrhundert zurückgehen und sie damit ein ebenso alter Bestandteil Stone Towns ist wie viele der heute geschützten Bauten, scheint der Hafen im konventionellen Verständnis des lokalen Denkmalschutzes ein Fremdkörper im Gefüge der alten Stone Town zu sein, mit dem sich kein entschiedener Umgang finden lässt. Die heutige Hafenanlage, die auf künstlich gewonnenem Land die industriellen Containerwerften, den historischen Dhau-­Hafen und die Fähranleger für den regen Personenverkehr zwischen der Insel und dem tansanischen Festland beherbergt, wurde bereits in den 1920er-Jahren – also in der britischen ­Protektoratszeit und von britischen Planern – konzipiert. Die alten, dicht an dicht gebauten Lagerhallen, die heute noch das Erscheinungsbild des Hafenareals dominieren, sind im Conservation Plan entsprechend als «european-influenced» vermerkt; ungeachtet ihrer typologischen und funktio­nalen Qualität fallen sie dennoch, anders als die deutschen und englischen Verwaltungsbauten dieser Epoche, nicht in die Kategorie schützenswerter Bauten. Einzig der Dhau-Kai, an dem noch heute die traditionellen Holzsegelschiffe an- und ablegen, wurde als «significant streetscape» eingestuft und ist neben den «monuments» und den «significant buildings» in den Katalog der Denkmalpflege aufgenommen worden. Das urbane und touristische Potenzial des Hafens als wesentlichen Bestandteils der jahrhundertealten Geschichte des Archipels wird weitestgehend vernachlässigt; seit 2011 ist das gesamte Areal aufgrund der wachsenden Drogenproblematik der Insel für Unbefugte nicht mehr ohne ­Autorisierung zugänglich.

Modernisierung versus Denkmalschutz

Als industrieller Containerhafen spielt der Hafen eine zentrale Rolle für die Wirtschaft des Archipels. 90 % aller Import- und Exportgüter werden hier umgeschlagen; als in günstiger Position der Küste vorgelagerte Anlaufstelle hat die Hauptinsel Sansibars ausserdem überregionale Bedeutung für das tansanische Festland und dessen innerkontinentale Nachbarn. Doch dem Vergleich mit effizienteren und moderneren Häfen wie in Daressalam, Mombasa oder Tanga kann die Anlage kaum noch standhalten. Ihre Lage im Gebiet der geschützten Stone Town beschränkt die Möglichkeit infrastruktureller Eingriffe und Erweiterungen auf ein Minimum.

Noch 1991 befand eine durch den European Development Fund finanzierte Studie, durch eine gezielte Sanierung der Anlage könne der Hafen an seinem aktuellen Standort auch in der Zukunft den Anforderungen des Waren- und Personenverkehrs gerecht werden.

Zwei entsprechende Projekte, in den 1990er-Jahren und seit 2004, haben seither die Anlage eines Tiefwasserbeckens, die Verbesserung des Containerlagerplatzes und die Stabilisierung und Erweiterung der existierenden Kaimauern eingeleitet. Doch eine nachhaltige und langfristige Lösung scheint innerhalb der denkmalpflegerisch gesetzten räumlichen Grenzen am heutigen Standort nicht möglich zu sein.

«Das Problem Stone Towns ist mangelndes Bewusstsein», sagt Mwalim Ali Mwalim, Principal Secretary des Planungsministeriums und einer der Pioniere des lokalen Denkmalschutzes. Zahlreiche Akteure sähen das begehrte Unesco-Label und die damit einhergehenden Auflagen als Hemmschwelle auf dem Weg zu ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit. «Sie begreifen nicht, dass der Weg zu wirtschaftlicher Prosperität die Einmaligkeit der Altstadt und den Tourismus nicht ausser Acht lassen kann.» Aber es ist nicht zuletzt der Status Stone Towns als Unesco-Weltkulturerbe, der dem Tourismus und der Wirtschaft des Archipels ­einen Boom verschafft hat, der sich nun in der Überlastung der bisherigen Hafenanlage niederschlägt.

Neue Perspektiven?

Im Juli 2012 veröffentlichte die Zanzibar Port Authority den Plan eines neuen Containerhafens in Marahubi im Norden der Stadt, der die effiziente Abwicklung des Cargoverkehrs ausserhalb der historischen Stadtgrenzen zum Ziel hat. Dieser Vorschlag ist ebenso logisch wie bekannt: Bereits der sogenannte chinesische Town Plan von 1982 (Abb. 10, S. 30), von Planern aus dem sozialistischen «Bruderstaat» entworfen, schlug eine derartige Erweiterung vor; auch der neue Transport Master Plan von 2007 griff die Frage wieder auf. Im Wettbewerb mit dem ostafrikanischen Festland scheint diese Option inzwischen nahezu unausweichlich.

Mit der Verlegung des Container-Hubs eröffnen sich der alten Anlage interessante Perspek­tiven, sowohl für eine Entspannung der Verkehrsproblematik der Innenstadt als auch für das touristische Potenzial des Areals. Ob aber die alten Lagerhallen einen Platz in einem solchen Szenario fänden, ist unklar. Wenngleich Tansania als Entwicklungsland mit äusserst geringem Wohlstand von einer ausnehmend kreativen Kultur des Recyclings geprägt ist, ist weder die postindustrielle Umnutzung solcher Strukturen noch das sensible zeitgenössische Bauen im historischen Kontext bislang Teil des Fachdiskurses. Issa Makarani etwa, ­Direktor der Stone Town Conservation and Development Authority, hält den Abriss der alten Hallen zugunsten von Neubauten in «angemessenem Stone-Town-Stil» für denkbar; doch er gesteht ein, dass – eine sinnvolle Umnutzungsstrategie vorausgesetzt – ökonomische und ökologische Gründe durchaus für den Erhalt der Lagerhallen sprechen könnten.

Die neuen Entwicklungen um den Hafen könnten als Anstoss zur überregionalen Diskussion dieses in Ostafrika noch neuen Themas dienen. Vielleicht deutet sich hier die Chance für einen Lösungsweg an, der den beiden grossen Anliegen Sansibars Rechnung trägt: der Wahrung seiner kulturellen Identität, die als entscheidender Faktor den internationalen Tourismus anzieht, sowie dem Ziel, im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb als jahrhunderte­altes Seehandelszentrum zu bestehen.


[Annika Seifert, dipl. Arch. ETH; in Forschung und Lehre in Tansania tätig.1]


Anmerkung:
[01] Im Rahmen des BSA-Forschungsstipendiums erschien die Arbeit «Hitzearchitektur. Lernen von der afrikanischen Moderne» zusammen mit Gunter Klix (vgl. S. 12)

TEC21, Fr., 2012.09.21

21. September 2012 Annika Seifert

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