Editorial

Eine Brücke zwischen Ingenieurwissenschaft und Kunst zu schlagen, ist die Absicht dieser Ausgabe von TEC21. «Brücke» ist dabei wörtlich gemeint: die gelungene Umsetzung von aussergewöhnlichen, künstlerischen Ideen im Brückenbau.

Brücken sind Kunstbauten – wie auch Tunnels und andere Ingenieurbauwerke. Der Begriff Kunst bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Bauwerke es ermöglichen, Hindernisse zu überwinden. Die dafür erforderlichen Kunstbauten werden mit den Mitteln der Ingenieurbaukunst entworfen und erstellt – sie können insbesondere bei Brücken eine hohe ästhetische Qualität aufweisen –, aber ihre Funktion ist primär die Herstellung von Verkehrsverbindungen und nicht die Verschönerung der Umgebung.

Kunstwerke hingegen haben, zumindest aus Ingenieurperspektive, keine technische Funktion, sind nicht unmittelbar «nutzbar», sie sollen in erster Linie «schön» sein. Bei Ingenieurbauten werden sie meist noch als unverbindliche «Kunst am Bau» geduldet, solange dadurch keine technischen Funktionen beeinträchtigt werden.

Erfreulicherweise ist die hier etwas überspitzt skizzierte Grenze zwischen Ingenieurbaukunst und «reiner» Kunst in den letzten Jahren immer durchlässiger geworden. Künstler und Ingenieure sind aufeinander zugegangen, haben Vorurteile und Berührungsängste abgebaut und sich für gemeinsame Projekte gefunden. Insbesondere im Brückenbau hat sich das Zusammenwirken der unterschiedlichen Philosophien als fruchtbar erwiesen, wie die hier vorgestellten, kürzlich fertiggestellten Bauwerke zeigen. Die Brücken sind konstruktiv anspruchsvoll und künstlerisch ambitioniert und zeigen eindrücklich die Bandbreite zwischen Ingenieurbaukunst und Kunst am Bau: Der neue Birskopfsteg in Basel erscheint elegant und spannt sich äusserst schlank über die Birs («Schlank über die Birs», S. 16), die bunte Fussgängerpasserelle über den Rhein-Herne-Kanal bei Oberhausen (D) ist gleichzeitig auch ein Kunstobjekt («Seilwurf über den Kanal», S. 20), und die Brücke in Taufkirchen bei München fällt durch ihre Geländer auf («Organisches Fachwerk», S. 23). Dazu gesellt sich die vordergründig als Denkmal für den Architekten Paolo Soleri zu interpretierende neue Fussgängerbrücke in Scottsdale, Arizona («Der Sonne zugeneigt», S. 10).

Bezeichnenderweise sind alle beschriebenen Bauwerke Fussgängerbrücken. Bei diesen relativ günstigen Bauten zeigen sich die Bauherrschaften gerne experimentierfreudig, zumal sie von der Öffentlichkeit aus der Nähe wahrgenommen werden – und wenn sich das Experiment nicht bewährt, hält sich der Schaden in Grenzen. Dabei sind die technischen und gestalterischen Möglichkeiten noch lange nicht ausgereizt; wir freuen uns auf die zukünftigen Projekte für Fussgängerbrücken ...

Clementine van Rooden, Aldo Rota

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Deutscher Brückenbaupreis 2012

10 MAGAZIN
Der Sonne zugeneigt

16 SCHLANK ÜBER DIE BIRS
Nico Ros, Andreas Zachmann
Der neue Birskopfsteg spannt sich in einem leichten Bogen über die Birs. Der von ZPF Inge­nieure entworfene Stahlkastenträger und die optimierten Spannweiten ermöglichen eine extrem schlanke Bauweise.

20 SEILWURF ÜBER DEN KANAL
Klaus Englert, Clementine van Rooden
Der Künstler Tobias Rehberger und der Bauingenieur Mike Schlaich entwarfen und realisierten in enger Zusammenarbeit die Kunstbrücke bei Oberhausen (D). Sie verbindet Kunst und Tragfunktion auf überzeugende Weise.

23 ORGANISCHES FACHWERK
Florian Neuner
Die Brücke in Taufkirchen (D)ist passend in einen Park mit altem Baum-bestand eingebettet. Dafür transformierte der Bauingenieur Florian Neuner statisch streng geordnete Fachwerke in ein organisch anmutendes Tragwerk.

27 SIA
Fort- und Weiterbildung | «Die Bedeutung der Politik nimmt zu»

31 PRODUKTE

37 IMPRESSUM

38 VERANSTALTUNGEN

Schlank über die Birs

Am 5. März ist in Basel, an der Mündung der Birs in den Rhein, der neue Birskopfsteg eröffnet worden. Die Fussgängerbrücke beeindruckt durch ihre äusserst schlanke Konstruktion. Um problematische Schwingungen, die bei dieser Bauweise auftreten können, zu verhindern, haben ZPF Ingenieure das statische System optimiert, bis die Eigenfrequenzen unkritisch wurden. Das schlichte Erscheinungsbild und die auf ein Minimum reduzierte Konstruktion überzeugen ästhetisch und sind in der technischen Umsetzung konsistent.

Der 1963 erstellte alte Birskopfsteg zwischen Basel und Birsfelden mit seinem 27 m hohen Pylon war die erste Schrägseilbrücke der Schweiz. 2004 hatten Expertisen gezeigt, dass in absehbarer Zeit eine umfassende Erneuerung der Brücke nötig sein würde. Drei Jahre später riss eines der Tragseile infolge Korrosion – eine rasche Instandsetzung erwies sich als unmöglich. Seither führte eine provisorische Holzbrücke den Langsamverkehr, der in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, an dieser Stelle über die Birs (das Provisorium ist am 12. März demontiert worden). Aufgrund der Verkehrsentwicklung und der am beschädigten alten Steg festgestellten Ermüdungserscheinungen verwarfen die Verantwortlichen sowohl eine Rekonstruktion als auch einen Teilneubau. Stattdessen schrieben die Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft sowie die Gemeinde Birsfelden einen einstufigen, offenen Totalunternehmerwettbewerb für einen Neubau aus.

Die Bauingenieure von ZPF Ingenieure, die Architekten Christ & Gantenbein, das Stahlbauunternehmen Schneider Bau, die Bauingenieure von Bänziger Partner und das Bauunternehmen Huber Straub gewannen als Team den Wettbewerb im März 2010 mit dem mit «Schwebender Asphalt» betitelten Projekt (vgl. TEC21, 29-30/2010); die Arbeiten am Neubau begannen im August 2011.

Betont minimalistischer Entwurf im bestehenden Umfeld

Die Lage der neuen Fussgängerbrücke unmittelbar an der Mündung der Birs, zwischen der Grünanlage «Birskopf» auf der Basler Seite und dem sogenannten «Birsfelder Rheinpark», ist anspruchsvoll und diffizil (Abb. 1): Der «Birskopf» ist im Sommer als Badeort stark besucht. Grosszügige Wiesenflächen und ein klar strukturierter alter Baumbestand unterstreichen die strenge Gliederung der Anlage. Der Rhein und das Kraftwerk Birsfelden prägen das Gebiet, und so sollte es auch nach dem Neubau sein. Die Überbrückung der Birs ist daher nicht theatralisch inszeniert, sondern fügt sich diskret als Teil des asphaltierten Wegnetzes in das System der Grünanlage aus der Nachkriegszeit ein. Eine offene formale Verwandtschaft mit dem in den 1950er-Jahren nach Plänen von Hans Hofmann erbauten Stauwehr am Kraftwerk stärkt dabei die Kohärenz der Anlage.

In einem sanften Bogen führt der schlanke Steg über den Fluss (Abb. 2 und 6). Um die beiden Ufer mit einer möglichst klaren und dünnen Linie zu verbinden, musste die Tragkonstruktion unter der Belagsfläche angeordnet sein. Aufgrund der zulässigen Brückensteigung und der Höchstwasserkote, die sich fast auf Terrainhöhe befindet, schlossen die Ingenieure eine Druckbogenkonstruktion und eine Spannbandbrücke aus. Aus der Differenz zwischen der Höchstwasserkote und den bestehenden Wegen ergab sich eine zulässige Konstruktionshöhe von lediglich etwa 70 cm. Zudem strebte das Planerteam an, das Hauptfundament unter dem ursprünglichen Pylon weiterhin zu nutzen, um die Kosten zu reduzieren. Deshalb durfte die neue Brücke nicht schwerer werden als ihre Vorgängerin, obwohl die nutzbare Fahrbahnbreite von 4.5 m jetzt beinahe doppelt so viel misst wie die 2.7 m bei der alten Brücke. Als statisches System wählte das Planerteam einen Zweifeldträger mit Spannweiten von 50.5 m und 25.0 m (Abb. 3).

Geschlossener Stahlkastenträger

Die 75.5 m lange Brücke hat eine Konstruktionshöhe von lediglich 68 cm, sodass die Spannweite dem 72fachen der Konstruktionshöhe entspricht. Eine derartige Schlankheit ist selten – generell gilt bereits ein Brückenträger mit einer 35fachen Spannweite der Konstruktionshöhe als schlank. Möglich wurde dieser Wert durch die leichte und gleichzeitig steife orthotrope Brückenplatte aus Stahl – eine Konstruktion mit richtungsabhängigen Elastizitätseigenschaften, die man sich als Kassettenstruktur vorstellen kann, deren rechteckige Kammern oben und unten mit einer Stahlplatte verbunden sind.

Der Brückenquerschnitt besteht aus einem polygonalen Stahlkastentragwerk von 4.90 m Breite und 0.68 m Höhe (Abb. 4). Der Kasten ist luftdicht verschlossen, was zwei Vorteile hat: Er muss nicht für Unterhaltsarbeiten zugänglich sein und kann daher sehr schlank gebaut werden; zudem ist die Ausführung kostengünstig, da auf den Korrosionsschutz einer Fläche von 980 m² auf der Innenseite des Kastens verzichtet werden konnte. Um die hohen Anforderungen an die Schweissarbeiten zu erfüllen, wurden die Brückenelemente im Werk vorfabriziert und die Qualität der Schweissnähte dort geprüft. Das Stahlbauunternehmen führte nur ein Minimum an Schweissarbeiten auf der Baustelle durch – lediglich die fünf Teilelemente der Brücke (vgl. Kasten «Bauablauf», Seite 19) wurden vor Ort miteinander verschweisst und auf ihre Qualität hin geprüft. Um Schwachstellen im System zu vermeiden, führen keine Leitungen durch den Brückenkasten.

Die Berechnung des Oxidationsvolumens rechtfertigt die geschlossene Ausbauvariante: Bei einem gefangenen Luftvolumen von 2.4 m³/m würden, wenn der gesamte Sauerstoff darin durch Oxidation gebunden würde, lediglich 2.3 kg Stahl pro Meter Brückenlänge rosten, bis der elementare Sauerstoff der eingeschlossenen Luft vollständig verbraucht wäre. Dieser Anteil ist bei 1989 kg Stahl pro Meter nicht relevant.

Hauptfundament genutzt – Widerlager rückgebaut

Da die neue Brücke wesentlich breiter ist als die alte, mussten die beiden Widerlager neu erstellt werden. Sie bestehen je aus einem Stahlbetonriegel, der auf sechs Mikropfählen fundiert ist (Abb. 3). Dafür mussten keine neuen Fundamentgruben ausgehoben werden, weshalb die Riegel ohne grössere Abgrabungen im Bereich der geschützten Bäume und im Uferbereich erstellt werden konnten. Die Injektionsmikropfähle mit einem inneren Tragwiderstand Rid von 402–523 kN wurden bis in den Molassefels abgeteuft; die Einbindetiefe beträgt 3–4 m. Das Lager auf Seite Basel ist fest und dasjenige auf der Seite Birsfelden beweglich ausgebildet. In Querrichtung ist die Brücke durch diese Lager gehalten. Die sich nach unten verjüngende Mittelstütze aus 10 cm starkem Vollstahl ist auf dem bestehenden Pylonfundament abgestellt (Abb. 4). Sie steht senkrecht zur geneigten Brückenuntersicht und ist monolithisch mit der Brückenplatte verbunden. Ein Lager zwischen der Brückenplatte und der Stütze ist nicht erforderlich, weil die Stütze so weich ausgebildet ist, dass sie Bewegungen der Brückenplatte durch elastische Verformung aufnehmen kann. Ein Betongelenk verbindet die Stütze mit dem Verteilriegel und dem Fundament. Die neuen ständigen Lasten sind kleiner als die bisherigen, sodass während des Baus nur minimale Setzungen auftraten. Die Randpressungen, inklusive des Anteils aus der exzentrischen Lage der Stütze, liegen unterhalb der im geotechnischen Bericht aufgeführten Werte.

EXTREME SCHLANKHEIT und SCHWINGUNGEN

Eine derart schlanke und leichte Stahlkonstruktion lässt sich normalerweise mühelos in Schwingung versetzen. Deshalb war bereits während der Entwurfsphase das Ziel der Bauingenieure, die Eigenfrequenzen der Brücke aus dem kritischen Bereich zu verschieben, indem sie einerseits die Spannweiten beziehungsweise die Steifigkeiten der Brückenabschnitte variierten – was infolge der gegebenen Abmessungen aber nur beschränkt möglich war – und anderseits die Steifigkeit der Brückenplatte veränderten. Auch die Mittelstütze war in ihrer Position definiert. Nur die geringere Spannweite des Zweifeldträgers bot genügend Spielraum für eine effektvolle Variation. Sie konnte aber nur so weit verkürzt werden, dass keine grossen Zugkräfte auf dem Widerlager Seite Basel entstehen, und nur so weit verlängert werden, dass die Baumwurzeln in der bestehenden Wegrampe nicht berührt würden; bei einer Verlängerung der Brücke hätte die bestehende Rampe aufwendig rückgebaut werden müssen. Der konstruktive Ansatz liess sich in der Entwurfsphase deshalb noch nicht abschliessend klären.

Die kurze Spannweite wurde schliesslich mit 25 m so gewählt, dass die erste Eigenfrequenz weniger als 1 Hz beträgt – also ausserhalb des kritischen Bereichs von 1 bis 4 Hz liegt, der durch Personen angeregt werden kann. Die zweite Eigenfrequenz ist jedoch mit 2.87 Hz kritisch, sodass die Bauingenieure im Grobkonzept zudem planten, die Schwingungen mittels Dämpfern einzuschränken und die Verformung durch Überhöhung zu kompensieren – eine übliche Vorgehensweise bei schlanken Brücken. Auf diese Weise konnte die angestrebte Schlankheit in der Entwurfsphase aufgrund von Tragsicherheitskriterien bestimmt werden.

Da für die Eigendämpfung der Brücke nur eine geringe Dämpfung von 1 % angenommen werden konnte, wurden im Brückenkasten in den Viertelspunkten der grösseren Spannweite zwei Schwingungsdämpfer (Tilger) eingebaut (Positionen siehe Abb. 3). Die berechneten Frequenzen liegen leicht tiefer als die tatsächlich gemessenen: rechnerisch 0.93 Hz statt 1.2 Hz gemessen, 2.87 Hz statt 3.1 Hz und 3.88 Hz statt 4.2 Hz. Die Ähnlichkeit der Werte zeigt, dass das reale Schwingungsverhalten der Brücke durch die angewendete Berechnungsmethode korrekt beschrieben wird. Die Abweichung kommt zum einen dadurch zustande, dass der E-Modul in der Realität kein ideal linear elastisches Verhalten aufweist, sondern einer leichten Streuung unterliegt. Zum anderen ist die Steifigkeit des Geländers (Abb. 5) nicht in die Berechnung der Schwingungen eingeflossen.

Schwingungen sind unproblematisch

Da nur die von Fussgängern ausgelösten Schwingungen problematisch sind, führten die Ingenieure einen Feldversuch an der provisorisch fertiggestellten, bereits mit dem für die Dämpfung wichtigen Belag versehenen Brücke durch. Sie schickten zehn Personen, die im Takt eines Metronoms joggten, über die Brücke. Zusätzlich versuchten sie, die Brücke mutwillig in der ersten Eigenfrequenz anzuregen, um Vandalismus zu simulieren. Die Brücke konnte während dieser Versuche nur geringfügig in Schwingung versetzt werden. Deshalb stellten die Ingenieure die Schwingungsdämpfer nur insoweit auf die gemessenen Eigenfrequenzen ein, als sie die flexiblen Massenanteile entfernten – sie verzichteten hingegen darauf, auch die Federn auszuwechseln.

Das Ausführungsprojekt und das realisierte Bauwerk bestätigten das gewählte Vorgehen: Der Ansatz, eine Tragkonstruktion zu realisieren, die wegen ihres optimierten statischen Systems nur eine geringe kritische Eigenfrequenzen aufweist und deshalb mit möglichst wenig Schwingungstilgern funktioniert, ermöglichte diese äusserst schlanke und dennoch effiziente Tragstruktur. Man liess ein grundlegendes Problem, das danach aufwendig wieder hätte gelöst werden müssen, gar nicht erst entstehen.

TEC21, Fr., 2012.03.30

30. März 2012 Ros, Nico, Andreas Zachmann

Seilwurf über den Kanal

Die auffallende Fussgängerbrücke mit dem Namen «Slinky springs to fame» über den Rhein-Herne-Kanal im deutschen Oberhausen ist Teil des Projektes «Emscherkunst.2010»: Ein farbiges Band, umwickelt mit einer Spirale, verbindet zwei Parks. Die Leichtigkeit des Entwurfs des Künstlers Tobias Rehberger ist der Konstruktion zu verdanken, die die Ingenieure von schlaich bergermann und partner gewählt haben: einer Spannbandbrücke.

Der Frankfurter Künstler Tobias Rehberger ist es gewohnt, durch künstlerische Eingriffe Innenräume zu gestalten. Er liebt es, mit farbigen Installationen und dynamischen Formen die Raumwirkung zu steigern. Dieses Grundprinzip behielt Rehberger bei, als er sich an der «Emscherkunst» beteiligte, die zu den Aktivitäten der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 gehörte. Sein ungewohnter Beitrag zur Kulturhauptstadt ist eine Fussgänger- und Fahrradbrücke, die seit Mai 2011 am Schloss Oberhausen den Rhein-Herne-Kanal überquert. Die nahe Schnellstrasse steigert die Attraktivität des Ortes allerdings nicht, an dem sich die Brücke vom beschaulichen Kaisergarten über den Kanal bis zum Volkspark auf der Emscherinsel erstreckt. Rehberger, Professor für Bildhauerei an der Frankfurter Städelschule, erzählt, wie es zu dem aussergewöhnlichen Auftrag gekommen ist: «Mit etwa dreissig Künstlern bin ich damals mit dem Bus, mit dem Rad und zu Fuss durch das Ruhrgebiet gestreift, um geeignete Orte für Projekte auszukundschaften. Irgendwann stand ich in der Nähe des Oberhausener Kaisergartens am Rhein-Herne-Kanal und sagte intuitiv zum Kurator Florian Matzner: ‹Hier müssen wir eine Brücke bauen.›»

«Weiche und schlabbrige» Fussgängerbrücke

Die Oberhausener Stadtverwaltung war offenbar von Rehbergers spontaner Eingebung so angetan, dass man ihm binnen kurzer Zeit den Auftrag erteilte. Rehbergers Vorstellung war, dass die Brücke sich wie eine Spirale über den Rhein-Herne-Kanal winden müsse. Dabei solle sie «schlabbrig und weich» aussehen. Hinzu kamen Randbedingungen, die es einzuhalten galt: ein behindertengerechtes Gefälle, ein Lichtraumprofil von 8 m über dem Kanal, Schonung des Baumbestandes und Landschaftsplanung. Bauherrin Martina Oldengott von der Emschergenossenschaft bezog Mike Schlaich vom Stuttgarter Bauingenieurbüro Schlaich, Bergermann und Partner früh in den Entwurfsprozess mit ein. Das Team legte relativ rasch den Grundriss (Abb. 1) und das Längsprofil der Brücke fest.

Ausführlicher war die Diskussion um die tragenden Komponenten. Sowohl die Spirale als auch das Band für den Gehweg hätten die tragende Funktion übernehmen können. Die Spirale hätte zusammen mit dem Gehweg als Untergurt und einem zusätzlich konstruierten Obergurt als Fachwerk ausgebildet werden können. Da diese Tragwerksvariante aber schwerer in Erscheinung getreten wäre als der Entwurf, entschied sich das Team, das farbige Band selbst zum Tragwerk auszubilden. Schlaich konstruierte eine leichte, dreifeldrige Spannbandbrücke, um die sich die nicht tragende Spirale wickelt. Rehberger erinnert sich: «Ich wollte ein Objekt entwerfen, das nicht nach Ingenieurskunst aussieht und das keineswegs statisch wirkt. Es ist Mike Schlaich zu verdanken, dass wir uns dieser Idee annähern konnten. Jedenfalls kann ich im Endprodukt meine Idee der Skulptur wiedererkennen.»

Geworfenes Seil und Schlangenlinien

Die dynamische Wirkung der Brücke, die sich wie ein geworfenes Seil über den Kanal spannt, rührt von den zwei Spannbändern her, die mit den 12 cm dicken und 2.67 m breiten Betonfertigteilen der Lauffläche verbunden sind (Abb. 3). Die Stahlbänder sind 66 m weit über den Rhein-Herne-Kanal gespannt, in den Uferbereichen auf 10 m hohe gespreizte V-Stützen gelegt und an ihren Enden über je zwei Zugstangen pro Spannband in den Widerlagern verankert (Abb. 5). Sie hängen leicht durch – der Stich im Hauptfeld ist L / 50, also etwa 1.30 m –, was ihre Zugbeanspruchung begrenzt. Über den Stützen und an den Verankerungen rollen sie kontrolliert über kreisförmig ausgerundete Sättel ab (Abb. 9). Deshalb und weil die Bauteilstärke respektive die Steifigkeit der Spannbänder mit dem Einsatz von hochfestem Feinkornbaustahl minimiert werden konnte, stellen sich aus der Verkehrsbelastung weder zu hohe Biegespannungen noch starke Materialermüdung ein. An den Enden der Spannbandkonstruktion schliessen Rampenbrücken an. Sie zeichnen sich durch expressive Schlangenlinien aus, die alle 10 m durch leichte, schlichte und paarweise angeordnete Stahlstützen getragen werden (Abb. 4 und 8). Die horizontale Krümmung der 170 bzw. 130mm langen Durchlaufträger mit dem 25 cm starken Betonüberbau (Abb. 6) erlaubt es, das ganze, 406 m lange Bauwerk monolithisch auszubilden. Denn Temperaturverformungen verändern nur die Radien, rufen aber kaum zusätzliche Reaktionen an den Widerlagern hervor.

Windungen, Schwingungen und Farbenspiel

Zu den Attributen der Brückenskulptur gehört auch die Spirale aus Aluminium mit 5 m Durchmesser (Abb. 4). Das Tragwerkskonzept mit den Spannbändern und den Durchlaufträgern ermöglichte es, die Spirale leicht auszubilden und im Grundriss und in der Ansicht frei zu führen – die Umwicklung wurde so zum gestaltungsprägenden Element. Da sie in der Vertikalen und Horizontalen leicht aus der Mittelachse verschoben ist, onduliert die Brücke unregelmässig. Die einzelnen Windungen sind aus jeweils drei Segmenten zusammengesetzt, um Transport und Montage zu vereinfachen. Sie werden in Schwingung versetzt, wenn sie durch eine Horizontaleinwirkung wie Wind angeregt werden. Ihre Eigenfrequenzen, wie auch diejenigen des Brückentragwerks, sind aber unkritisch, sodass jederzeit ein sicheres Gehen gewährleistet ist. Die deutlich spürbaren Schwingungen entsprechen der Entwurfsidee von Rehberger: Die Brücke soll schwingen, um die «schlabbrige und weiche» Wirkung spürbar zu machen. Rehberger gestaltete den tartangleichen Belag mit verschieden langen Feldern, für die er 16 unterschiedliche Farben auswählte (Abb. 1). Diese bunten Felder setzen sich auch auf der Unterseite des Laufbandes fort (Abb. 2 und 7). Nachts schlängelt sich der Überbau bunt leuchtend durch den Park, wobei die Spirale kaum wahrnehmbar ist – sie fällt vor allem tagsüber auf. Zu dieser dynamischen und farblichen Gestalt gesellt sich ein Lichtkonzept, das nachts die Beleuchtung der Brücke regelt (vgl. Kasten «Beleuchtung», Seite 20). Die «Skulptur, die auch eine Brücke ist», oder auch das «Tragwerk, das zugleich ein Kunstobjekt ist», verbindet vortrefflich Funktionalität und ein überzeugendes ästhetisches Konzept. Sie steht mustergültig für die kreative und gegenseitig inspirierende Zusammenarbeit von Künstler und Bauingenieur.

TEC21, Fr., 2012.03.30

30. März 2012 Klaus Englert

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