Editorial

Braucht es Kunst am Bau?

Sowohl Architektur- als auch Kunstauffassungen schwanken zwischen Zweckgebundenheit und Autonomie. Ihre Begegnung funktioniert nur dann, wenn beide Disziplinen in etwa von den gleichen Voraussetzungen ausgehen.

Wir sehen Architektur nicht als autonome Disziplin, die hermetische Werke schafft. Auch der Begriff Gesamtkunstwerk liegt uns fern – Work in Progress trifft da schon eher den Kern der Sache. Unser Architekturverständnis wird täglich neu verhandelt. Es konfiguriert sich, bedingt durch ständig wechselnde Rahmenbedingungen, immer wieder neu und ist damit reflexiv. Ein solch prozesshaftes Verständnis von Architektur führt dazu, dass sich unter anderem die Beziehung zur Kunst und insbesondere zu Kunst am Bau von Fall zu Fall neu definiert. Immer jedoch verstehen wir Bauen als eine kulturelle Tätigkeit, was indirekt auch ein Bekenntnis zur Notwendigkeit von Kunst im öffentlichen Raum ist. Kunst am Bau ist notwendigerweise situative Kunst. Sie reagiert auf den vorgefundenen Ort, verändert ihn eventuell oder übt sich in bewusster Verweigerung, in jedem Fall bezieht sie Position. Kunst am Bau, die Architektur ignoriert, ist bestenfalls noch Kunst, schlimmstenfalls jedoch einfach Dekoration, also auswechselbar. Wenn man Kunst am Bau als Behübschung mittelmässiger Bauwerke versteht, können wir mit gutem Gewissen auf sie verzichten. Im Idealfall jedoch bereichern sich Kunst und Architektur gegenseitig. Dies setzt allerdings voraus, dass beides von gewisser Qualität ist.

Bei der Siedlung Hegianwandweg, einem Wohnungsbauprojekt, zu dem vier Künstler eingeladen wurden, haben uns zwei Aspekte interessiert: einerseits der des Gebrauchs und der Wahrnehmung der Kunst im täglichen Leben einer Wohnsiedlung, die Bewohnbarkeit der Kunst gewissermassen. Andererseits der Aspekt der Integration der Kunst in die Architektur. Wir wollten etwas Spezifisches, eine Synthese, gewissermassen Bau-Kunst und nicht Kunst am Bau. Die Kunstinterventionen finden an den Schnittstellen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit statt: auf den Siedlungsplätzen, in der Garage, in den Treppenhäusern und auf den Balkonen. Da wird die Kunst täglich vom Bewohner «gebraucht» und «benötigt», und damit formuliert sie auch einen möglichen Widerspruch zur oft postulierten Zweckfreiheit der Kunst.

Diese Arbeitsweise setzt eine ausgesprochen enge und möglichst frühzeitige Zusammenarbeit mit den Künstlern voraus, da sich die beiden Aufgabenbereiche zu einem grossen Teil überschneiden. Das Budget für die Kunst wird durch die Vereinnahmung von gebundenen Baukosten erhöht, was auch sehr grossmassstäbliche Eingriffe ermöglicht und die Architektur damit massgeblich prägt. In gewissem Sinne verbünden sich Künstler und Architekt, und es werden Dinge machbar, welche ein jeder für sich alleine weder konzipieren noch realisieren könnte. Die Kunst agiert subtil, sie wird konsumiert wie Alcopops und sickert in die Architektur und den Alltag der Bewohner ein. So hinterlässt sie hoffentlich kleine, dafür umso nachhaltigere Irritationen in der täglichen Wahrnehmung des Lebensumfeldes.

Mathias Müller, Daniel Niggli, EM2N Architekten

Inhalt

Kulisse
Lilian Pfaff
Kunst im öffentlichen Raum als Stadtreperatur - Der rote Teppich der Videokünsterlin Pippilotti Rist und dem Architekten Carlos Martinez inszeniert in St. Gallen einen künstlichen Ort als neuen Platz.

Baukunst oder Kunst am Bau?
Urs Hess-Odoni
Das Schweizerische Urheberrecht unterscheidet zwischen Baukunst und Kunst am Bau bezüglich des immaterialgüterrechtlichen Integritätsschutzes, definiert
die beiden Begriffe aber nicht. Der Versuch einer Abgrenzung.

Neuer Auftritt für das Lochergut
Katja Hasche
Die Wohnungen im 1966 gebauten Zürcher Hochhauskomplex Lochergut waren immer beliebt. Im Gegensatz dazu funktionierte das Sockelgeschoss mit Ladenpassage nie. Nun haben es pool Architekten aus Zürich umgebaut.

Blickpunkt Wettbewerb
Neue Ausschreibungen und Preise / Zusammenhängen: Wohnüberbauung «Tägelmoos» in Winterthur / Weitblick am Wohlensee

Magazin
Mitholztunnel: Fehlerhafte Bemessung / Energie fressende Bildschirmschoner / Algen gegen Metalle / Raumplanungs-Publikation / Dachorganisation Geothermie / BSA gewinnt / Schützenswerte Industriekultur / Jugendpreis / Fachhochschule ausgezeichnet / In Kürze / Reaktionen auf «Patentierte
Architektur» / Offener Brief zum Spendenaufruf Stadt-Casino Basel

Aus dem SIA
Zusätzliche Aufgabe für das REG / Aufnahme von FH-Absolventen in den SIA / SIA-Auszeichnung Umsicht: klare Kriterien / BG Technik/Industrie: Beratungszentrum gegründet

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Kulisse

(SUBTITLE) Wieder einmal musste Kunst herhalten, um die Versäumnisse der Stadtplanung zu reparieren.

Die Videokünstlerin Pipilotti Rist und der Architekt Carlos Martinez inszenierten einen künstlichen Ort als «Spiel»platz im öffentlichen Raum, um den Hinterhöfen einen bewohnbaren Charakter zu verleihen und gleichzeitig dem Schweizer Verband der Raiffeisenbanken einen roten Teppich auszurollen.

Im Bleicheliquartier in der westlichen St. Galler Innenstadt, 300 Meter südöstlich des Bahnhofs, hat über die Jahrhunderte eine Transformation von einem durch schmale Gassen und kleinteilige Parzellen bestimmten Wohn- und Gewerbeviertel zu einem modernen Bankenviertel stattgefunden. Wo bis ins 19. Jahrhundert Leinwand zum Bleichen ausgelegt wurde, findet sich heute die grösste zusammenhängend überbaute Fläche eines einzigen Grundeigentümers. Der Hauptsitz des Schweizer Verbandes der Raiffeisenbanken wurde vom St. Galler Architekten Bruno Clerici von 1987 bis 2005 sukzessive ausgebaut. Der letzte der vier Neubauten an der Schreinerstrasse wurde 2005 fertig gestellt. Da den Bauvorhaben jedoch keine zusammenhängende Planung vorausging, blieb der Aussenraum ein zerstückelter Restraum, der von den Rückseiten der umgebenden Bebauungen und den Einfahrten zu den Tiefgaragen geprägt ist. Was fehlte, war eine gemeinsame Identität des Quartiers. Deswegen entschied sich der Grundeigentümer zusammen mit der Stadt St. Gallen zu einem Studienauftrag für die Gestaltung des Aussenraums und lud drei Künstler und vier Landschaftsarchitekten ein, den vorgegebenen Perimeter mit der Schreinerstrasse als Rückgrat zu bearbeiten und weiterführende Planungsideen zu entwickeln. Dem Vorhaben kam zugute, dass die Schreiner- und die Bleichestrasse sowieso saniert werden mussten.

Öffentlicher und privater Raum

Das Siegerprojekt schaffte es mit einem Kunstgriff, den Komplex mit der Umgebung zu verzahnen und ihn als Einheit erscheinen zu lassen. Die Videokünstlerin Pipilotti Rist und der Architekt Carlos Martinez «stellen» dazu die einzelnen Gebäude auf einen roten Teppich, der zwischen den Bürohäusern in die Vadianstrasse, Gartenstrasse, Bleichestrasse und Schreinerstrasse ausläuft und sich so um die Ecke zieht, dass er gleichzeitig den roten Teppich des Eingangsgebäudes der Raiffeisenbank bildet. Die Übereinstimmung der Farbe mit dem neuen Logo der Bank und die neue Bezeichnung des Platzes als Raiffeisenplatz sind noch das Tüpfelchen auf dem i der Corporate Identity.

Dennoch wurde ein neuer Platz geschaffen, der durch seinen roten, an Stoff erinnernden Belag einen Bezug zum historischen Ort herstellt. Ob man sich bei der Stadtlounge, wie Name und Möblierung es evozieren, tatsächlich wie im eigenen Wohnzimmer fühlt, sei dahingestellt. Aber der Versuch, den Aussen- und den Innenraum der Stadt miteinander zu verschränken, ist gelungen. Die Aneignung des öffentlich begehbaren Raumes, der eigentlich ein Privatraum ist, durch den Passanten findet, bedingt durch die vergangene kalte Jahreszeit, erst langsam statt. Die Künstlerin erläutert das Funktionieren ihrer Intervention: «Das Schlüsselmotiv ist die Zurückdrängung des Autos. Wenn du in Venedig vom Innenraum in den Aussenraum trittst, fährt da kein Auto. Die Gässlein und die Zwischenräume sind belebt. Der Unterschied zwischen innen und aussen, zwischen privat und öffentlich wird dadurch viel kleiner.»1 Die Erweiterung des privaten Raumes eines jeden Passanten in den öffentlichen Raum könnte, so die Idee der Künstlerin, z.B. durch das Liegen auf Bänken stattfinden, wenn die Erwachsenen einmal von den Regeln des normalen Verhaltens im Aussenraum abweichen. So versuchen denn auch die Möbel, die als Bänke, Sitze und Liegen mal kantig und mal rund ausgeführt sind und mit dem roten Teppich überzogen wurden, neue Haltungen und Positionen für den Körper zu provozieren und damit verschiedene Zonen des Aufenthaltes (wie in einem Haus) auszubilden: So sind Besprechungszonen von Loungezonen, Fahrradständern und Durchgangsorten unterschieden. Dabei gebärdet sich die Künstlerin zurückhaltend als Bühnenbildnerin, indem sie architektonische Kulissen für noch nicht definierte Aktionen im Aussenraum bereitstellt.

Im Wohnzimmer

Für Pipilotti Rist kam eine Videoarbeit als Kunst im öffentlichen Raum nicht in Frage. Während ihre früheren Videos Fenster in fremde Wohnzimmer öffnen, befindet man sich nun selbst in einem dieser Zimmer. Der weiche rote Belag aus Gummigranulat (Tartan der Sportplätze) überzieht dabei das gesamte Mobiliar, es gibt keine Randsteine mehr, und selbst die Gullydeckel und Baumtröge sind eingefärbt. Ein Auto ist erstarrt, als wäre die Welt für einen Moment stillgestanden und mit rotem Zuckerguss überzogen. Die bestehenden kranken Bäume wurden durch vier neue Bäume ersetzt, und gleichzeitig wurden mobil erscheinende Strassenschilder scheinbar wahllos auf den Platz gestellt. Wolkenähnliche Leuchtkörper mit 3 m Durchmesser schweben hoch über dem Platz. Sie erzeugen verschiedene Lichtwirkungen und eine surreale und künstliche Atmosphäre. Die Suche nach einem geeeigneten Belag hatte seine Tücken, so durfte er nicht brennbar sein, musste aber spray- und kaugummifest sein. Mit einem Spezialfahrzeug und Hochdruck wird er regelmässig gereinigt. Technisch wurden im Vorfeld verschiedene Tests durchgeführt und der Belag vom Tiefbauamt geprüft. In sechs Arbeitsgängen wurde schliesslich die rot eingefärbte Gummigranulatmischung aufgetragen.

Schauspiel

Steht man inmitten der statischen Kulissenarchitektur, fallen die Bewegungen auf dem Platz besonders ins Auge. Die Autos, die über den Belag ohne jegliche Begrenzung oder Markierung fahren, treten leise auf der Bühne auf und wieder ab, ebenso die Personen, die über den Teppich schreiten. In der künstlichen Welt einer Alice im Wunderland werden sie zu Statisten im alltäglichen Schauspiel. Einen ähnlichen Vorschlag hatten die Basler Künstlerinnen Claudia und Julia Müller mit dipol Landschaftsarchitekten gemacht. Im Gegensatz zu Pipilotti Rist/Carlos Martinez schlugen sie in ihrer «Lobby» vergrösserte Designmöbel und Stehlampen vor. Pipilotti Rist selbst hat schon 1996 eine Arbeit realisiert, in der man als Betrachter auf einen riesigen Sessel klettern musste und aus der Kinderperspektive die Welt/Videos neu zu sehen bekam.

Der Verfremdungseffekt, der hier allein durch die rote Umgebung erzeugt wird, führt zu einem Entrücken aus der Wirklichkeit. Es ist ein «anderer Ort» im Sinn von Michel Foucaults Heterotopie, eine Gegenplatzierung oder auch realisierte Utopie, die die wirklichen Räume in einer Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestreitet und kritisiert. Es ist ein Ort, der sich von der umgebenden Identität abgegrenzt und ihr eine kontroverse oder komplementäre Identität gegenüberstellt, wodurch neue Freiräume zum Denken und Handeln entstehen.

TEC21, Fr., 2006.05.05

Zusatz:
Andere Meinungen – Fehler im Stadtgeflecht
Den Platz kann man unterschiedlich beurteilen, je nach Perspektive ist er mehr oder weniger gelungen bzw. erst der Anfang einer Entwicklung, wie es Hansjörg Gadient in seinem Plädoyer für die Rückgabe des privaten Raumes an die Öffentlichkeit erläutert.
Pipilotti irrt. Sie irrt, wenn sie meint, mit Tausenden Quadratmetern Gummigranulat ein Stück lebendiger Innenstadt herstellen zu können. Auch wenn der Belag rot ist, «rot wie die Liebe», so Rist bei der Eröffnung des roten Platzes in St. Gallen im November letzten Jahres. Die «Neue Zürcher Zeitung» beschrieb das Werk als «eine Stadtlounge (…), dekoriert mit Ginkobäumen». Die wenigen Ginkos sind tatsächlich nicht mehr als Dekoration, das Petersiliensträusschen auf der Tomatensauce. Was die Wettbewerbsjury als «gestalterischen Entwurf mit der Qualität einer städtebaulichen Ikone» in anbetungswürdige Höhen zu stemmen versuchte, ist das deutliche Symptom einer Fehlentwicklung. Das englische Wort «lounge» bezeichnet einen Warteraum, eine Hotelhalle oder ein Wohnzimmer, also einen privaten Innenraum, in dem Bewegung zur Ruhe gekommen ist. Mit dem Begriff der Stadt dagegen verbindet sich die Vorstellung von aussen, von Öffentlichkeit und von Aktivität. Was ist also eine Stadtlounge? Eine Contradictio in adjecto, ein schwarzer Schimmel. Die Wortschöpfung der «NZZ» bezeichnet das Dilemma des «roten Platzes» präzise: der Verlust von Öffentlichkeit. Was hier so tut, als wäre es öffentlich, ist ein privater Aussenraum, dessen Gestaltung, Nutzung und Kontrolle der Öffentlichkeit letztlich entzogen ist. Insofern irrt Frau Rist nicht. Sie markiert rot, was privat ist, möbliert und dekoriert es wie eine Hotelhalle oder ein Kinderzimmer und macht so Privatheit sichtbar. Dass sie mit der Farbe Rot auch die klassische Korrekturfarbe wählt, ist vermutlich nicht beabsichtigt. In einer Luftaufnahme der Innenstadt von St. Gallen aber zeigt sich deutlich, was diese «Stadtlounge» ist: ein Fehler im Stadtgeflecht. Längst verwischen sich im städtischen Aussenraum die Grenzen zwischen privat und öffentlich. Ganze Strassenzüge sehen nur noch aus wie öffentlicher Raum, sind aber private Flächen, die nach den Interessen von Einzelnen gestaltet und kontrolliert werden. Dieser schleichende Verlust an Öffentlichkeit führt zu einer Entwertung der Stadt. Wie Hannah Arendt zeigt, ist der «Privatmann» derjenige, der sich eines Privilegs beraubt, wenn er am öffentlichen Leben nicht teilnimmt (privare = berauben), d.h., wenn er sich aus der Verantwortung für das Öffentliche, die Polis, zurückzieht. Im gleichen Sinne ist das private Stück Stadt des Ganzen beraubt, nämlich des Einflusses der Gemeinschaft.
Wer irrt? Eine Stadt, die sich eines grossen Teils ihres Körpers berauben lässt? Eine Wettbewerbsjury, die ihr Heil im spektakulärsten Entwurf sucht, oder die Verfasserin des Entwurfes, die hofft, das tote Glied beleben zu können? Müssige Überlegungen. Fruchtbarer ist der Gedanke an die Zukunft: Was wird, wenn der Neuigkeitswert der Installation verflogen und der Belag schäbig geworden ist, wenn sich kaum noch jemand in die Lounge verirrt? Man wird nach Umbau schreien. Aber der Zwischenraum zwischen den Bankenbauten bedarf einer gründlicheren Klärung, nicht im Sinne einer Abtrennung und sichtbaren Privatisierung des Aussenraumes, sondern im Sinne einer Rückgabe an die Stadt, rechtlich, sozial und funktional. Es muss dauerhafte Gründe geben, einen Stadtteil aufzusuchen. Strassen und Plätze leben durch die Nutzungen an ihren Rändern. Die Erdgeschosse der Bauten müssen Funktionen geöffnet werden, die für möglichst viele Stadtbewohner von Interesse sind: Bibliotheken, Imbisse und Restaurants, Geschäfte und Dienstleistungen aller Art. Strassen und Trottoirs müssen in den Besitz der Stadt übergehen. Erst wenn dies geschieht, hat dieses abgestorbene Stück Stadt eine Chance, wieder aufzuleben. So ist die «Stadtlounge» kein dauerhafter Beitrag an die Stadt, sondern das Zeichen eines Defizits, ein grosser gestalterischer Lärm, der übertönt, dass hier ein Stück Stadt aufgegeben wurde.
Hansjörg Gadient

05. Mai 2006 Lilian Pfaff

Neuer Auftritt für das Lochergut

Daran, ob sein Sockel funktioniert, muss sich ein Hochhaus messen lassen. Das Lochergut mit seinen gestaffelten Wohntürmen, 1962–66 von Karl Flatz erbaut, ist ein Wahrzeichen Zürichs. Die Wohnungen waren immer beliebt, doch die Ladenpassage im Erdgeschoss verkam bald wegen städtebaulicher und funktionaler Mängel. Nun haben pool Architekten den Sockel umgebaut.

Anstatt wie die europäischen Ladenpassagen des 19. Jahrhunderts wichtige Strassenzüge miteinander zu verbinden, bildete die Lochergutpassage eine unbedeutende Parallelachse zur Badenerstrasse. Zusätzliche Verbindungswege wie der rückwärtige Anschluss an die Wohnhäuser und die zentrale Freitreppe zum Restaurant auf der Dachterrasse wurden später gekappt. Funktionale Schwierigkeiten gab es auch bei der Anordnung der Geschäfte: Der grosse, strassenseitig gelegene Coop verdeckte die kleineren Läden im hinteren Teil. Die Lokale waren schwer zu vermieten, die Passage verwahrloste zunehmend.

Um diese Missstände zu beheben und das Quartier aufzuwerten, führte die Stadt Zürich als Hausherrin 2002 einen Studienauftrag durch, den das Zürcher Büro pool Architekten gewann. Das ausgeführte Projekt strukturiert das Ladengeschoss neu; darüber fasst ein neues Bürogeschoss den Komplex entlang der Badenerstrasse unter ein gemeinsames Dach. Von der alten Struktur blieben lediglich die tragenden Stützen und die Geschossdecken erhalten.

Um die Geschäfte für Passanten leichter zugänglich zu machen, wurden die Passage aufgehoben und der Coop und die kleineren Läden in einer funktionalen Rochade vertauscht. So liegen die Einzelgeschäfte heute direkt an der Badenerstrasse und bilden mit ihrer Schaufensterflucht einen trichterförmigen Eingangsbereich für den zurückversetzten Grossverteiler. In dieser Gebäudeeinstülpung befindet sich auch die Treppe zur grossen Dachterrasse, die den Hof der Überbauung bildet und eine Rückzugsmöglichkeit für Anwohner, Büroarbeiter und Passanten bietet. Das Café liegt nun an einer Gebäudeecke im Erdgeschoss. Im Obergeschoss befinden sich nur noch Büros.

An seinen Enden setzt der Neubau sowohl zur Seebahn- als auch zur Sihlfeldstrasse neue städtebauliche Akzente: Damit das Geschäftszentrum von weiter her wahrgenommen wird, wurde es entlang der Badenerstrasse verlängert und umklammert nun die Wohnhausscheiben. An der Kreuzung Badener-/Sihlfeld-/Bertastrasse soll eine offene Platzgestaltung einen neuen Bezug zur baumbestandenen Bertastrasse schaffen. Wenn die Sihlfeldstrasse wie geplant 2008 verkehrsberuhigt wird, könnte diese städtebaulich attraktive Kreuzung zum urbanen Platz werden.
Die Lichtinstallation von Olaf Nicolai auf dem Dach des Sockels ist Kunst am Bau und Ladenschild in einem. Sie besteht aus zehn opaken Kuben, welche in einzelne Elemente unterteilt sind, die verschieden gesteuert werden können und in einer bestimmten Konstellation den Schriftzug «Lochergut» ergeben.

TEC21, Fr., 2006.05.05

05. Mai 2006 Katja Hasche



verknüpfte Bauwerke
Geschäftszentrum Lochergut

Baukunst oder Kunst am Bau?

Das schweizerische Urheberrecht zwingt zur Unterscheidung zwischen Baukunst und Kunst am Bau, weil der immaterialgüterrechtliche Integritätsschutz sehr unterschiedlich ausgestaltet ist. Aktuelle Fälle aus Zürich zeigen die Bedeutung dieser Differenz auf. Das Urheberrechtsgesetz definiert die beiden Begriffe aber nicht. Die Abgrenzung setzt eine komplexe Be-urteilung anhand ästhetischer, funktional-technischer und juristischer Elemente voraus.

Das Urheberrechtsgesetz (URG) und die internationale Berner Übereinkunft verwenden den Begriff «Werke der Baukunst», nicht aber denjenigen der «Kunst am Bau». Klar ist, dass Kunst am Bau nicht unter den Begriff «Werke der angewandten Kunst» fällt, weil sie weder gewerblich-industriell hergestellt wird noch für eine praktische Verwendung bestimmt ist .1 Kunst am Bau gehört daher rechtlich zur normalen Kategorie «Werke der bildenden Kunst, insbesondere der Malerei, Bildhauerei und der Graphik».

Werke der Baukunst und andere urheberrechtlich geschützte Werke, also auch Werke der Kunst am Bau, werden urheberrechtlich in vielen Bereichen gleich behandelt. Identisch sind insbesondere die Entstehungsbedingungen des Urheberrechtsschutzes (das Vorliegen einer geistigen Schöpfung der Literatur und Kunst mit individuellem Charakter), das Schöpferprinzip (primär berechtigt ist die natürliche Person, welche das Werk geschaffen hat) und die Schutzdauer (siebzig Jahre über den Tod des Schöpfers hinaus; bei Computerprogrammen nur fünfzig Jahre).

Im Bereich des Integritätsschutzes, also in Bezug auf den Schutz des Werkes vor Änderungen und vor Zerstörung, gibt es jedoch – seit dem Inkrafttreten des neuen Urheberrechtsgesetzes am 1. Juli 1993 – entscheidende Unterschiede.

Während nach Art. 11 URG grundsätzlich allein der Urheber bestimmen darf, ob, wann und wie sein Werk geändert werden darf, dürfen ausgeführte Werke der Baukunst nach Art. 12 Abs. 3 URG vom Eigentümer auch ohne Einverständnis des Urhebers verändert werden. Damit hat der Gesetzgeber – mit einer Entscheidung gegen die Architekten und Ingenieure – den Abwägungsprozessen zwischen Eigentümer- und Urheberinteressen, wie sie unter dem alten Urheberrechtsgesetz recht häufig waren, ein Ende gesetzt.[2]
Auch der Schutz vor Zerstörung eines geschützten Werks wird bei Werken der Baukunst eingeschränkt. Grundsätzlich muss der Eigentümer nach Art. 15 URG dem Urheber oder seinen Erben die Möglichkeit einräumen, das Werk zum Materialwert zurückzunehmen. Bei Werken der Baukunst wird dieses Recht des Urhebers dagegen auf die Möglichkeit beschränkt, das Werk vor der Zerstörung noch zu fotografieren oder Plankopien herzustellen.

Werke der Baukunst

Zu den Werken der Baukunst zählen die Literatur und die Rechtsprechung Werke, durch die Räume von Menschen gestaltet oder Anlagen ins Gelände eingepasst werden. 3 Dabei müssen natürlich immer die Grundbedingungen des Urheberrechtsschutzes erfüllt sein, der nur bei eigenständigen geistigen Schöpfungen besteht. Unter diesen Voraussetzungen können sowohl Leistungen von Architekten und Innenarchitekten als auch Werke von Ingenieuren den urheberrechtlichen Schutz geniessen.
Da mehrere Personen, welche ein Werk gemeinsam schaffen, als Miturheber gelten und im Sinne von Art. 7 URG die Urheberrechte gemeinschaftlich besitzen, stehen die Rechte an einem Werk der Baukunst oft gleichzeitig einem Architekten und anderen Planern (Bauingenieur, Innenarchitekt, Umgebungsgestalter usw.) zu, weil sie das Projekt gemeinsam entwickelt haben. Bei der Abgrenzung zwischen Werken der Baukunst und der Kunst am Bau helfen diese Aussagen aber nicht weiter. Es braucht dafür zusätzliche Kriterien.

Kunst am Bau

Als Kunst am Bau werden Werke bezeichnet, die zur ästhetischen Gestaltung von Bauwerken dienen, also insbesondere Werke der Dekoration und Verschönerung von Bauwerken.4 Es sind eigenständige Kunstwerke, welche jedoch mit dem Bauwerk verbunden werden (z.B. Wandgemälde, künstlerische Fassadenelemente wie Friese und Reliefs, Wandteppiche, fixe Installationen usw.).

Das Eigenartige der Kunst am Bau ist dabei die mehr oder weniger feste Verbindung mit dem Bauwerk. Sie wird wegen dieser Verbindung im Sinne des Akzessionsprinzips zum Bestandteil des Grundeigentums und folgt dessen Schicksal. Insbesondere wechselt sie – im Unterschied zu beweglichen Kunstwerken – mit dem Verkauf der Liegenschaft automatisch auch den Eigentümer. Diese feste Verbindung mit dem Bauwerk grenzt die Kunst am Bau von anderen Formen der bildenden Kunst ab.

Die Abgrenzung der Kunst am Bau von den Werken der Baukunst kann nun nur funktional vorgenommen werden: Handelt es sich im funktionalen Sinn um Raumgestaltung oder um die Einpassung des Baus in die Landschaft, so sprechen wir von Baukunst; liegt dagegen ein ergänzendes Werk ohne direkten funktionalen Bezug zur Baute vor, so ist es Kunst am Bau. Als Werke der Baukunst gelten daher Elemente, welche unabhängig von ihrem schöpferischen Charakter für die technische Gestaltung und Funktion des Baus notwendig sind. Das Abgrenzungskriterium ist daher die funktionale Stellung des Kunstwerks.

Da die Qualifikation als Werk der Baukunst zu Einschränkungen des Urheberrechtsschutzes führt, ist im Zweifel – sofern diese funktional möglich ist – eher für ein Werk der Kunst am Bau zu entscheiden.

Position des Eigentümers

Sowohl Werke der Baukunst als auch Werke der Kunst am Bau stehen im Eigentum des Liegenschaftsbesitzers. Dessen Eigentümerstellung ist jedoch – je nach der Art des urheberrechtlich geschützten Werks – stärker oder schwächer.
Bei realisierten Werken der Baukunst hat der Eigentümer in Bezug auf Änderungen oder Zerstörung praktisch freie Hand, denn der Integritätsschutz, den die Architekten und Ingenieure beanspruchen können, erlischt mit der Werkausführung fast vollständig. Bei Werken der Baukunst überwiegt die Freiheit des Eigentümers (Art.641 ZGB) vor dem Urheberrecht. Umgekehrt tritt diese Eigentumsfreiheit bei Werken der Kunst am Bau sehr stark hinter die Position des Urhebers zurück, weil in diesem Fall der Integritätsschutz des Urhebers in vollem Umfang gilt.

Noch nicht ausgeführte Werke

Solange die Werke nicht ausgeführt sind, besteht dagegen kein Unterschied, weil vor der Ausführung sowohl Werke der Baukunst als auch solche der Kunst am Bau den vollen Integritätsschutz geniessen. Der Bauherr ist also unter Vorbehalt anderer vertraglicher Abmachungen nicht berechtigt, an einem noch nicht ausgeführten Werk der Baukunst Änderungen gegen den Willen des Planers durchzusetzen. Bis zur Werkausführung ist die Stellung des Urhebers noch stärker.

Keine klare Antwort gibt das schweizerische Urheberrecht dagegen für die Verhältnisse während der Ausführung des Bauwerks. Hier wird nach wie vor eine Interessenabwägung vorzunehmen sein, wenn der Bauherr bei einem teilweise ausgeführten Bauwerk eine Änderung verlangt, welche der Planer als Urheber ablehnt.

TEC21, Fr., 2006.05.05

Anmerkungen:

[1] von Büren: Urheberrecht und verwandte Schutzrechte. SIWR II/1, S. 105.
[2] vgl. BGE 117 II 466 i. S. Custer und Zangger/Sekundarschulgemeinde Rapperswil-Jona.
[3] von Büren: Urheberrecht und verwandte Schutzrechte. SIWR II/1, S. 103; Troller: Immaterialgüterrecht, Bd. I, S. 385.
[4] Die engere subjektive Intention des Künstlers muss bei dieser rechtlichen Beurteilung im Hintergrund bleiben.




Zusatz:

Urheberrechtsgesetz

Art. 2 URG Werkbegriff
1 Werke sind, unabhängig von ihrem Wert oder Zweck, geistige Schöpfungen der Literatur und Kunst, die individuellen Charakter haben.

2 Dazu gehören insbesondere:
a. literarische, wissenschaftliche und andere Sprachwerke;
b. Werke der Musik und andere akustische Werke;
c. Werke der bildenden Kunst, insbesondere der Malerei, der Bildhauerei und der Grafik;
d. Werke mit wissenschaftlichem oder technischem Inhalt wie Zeichnungen, Pläne, Karten oder plastische Darstellungen;
e. Werke der Baukunst;
f. Werke der angewandten Kunst;
g. fotografische, filmische und andere visuelle oder audiovisuelle Werke;
h. choreografische Werke und Pantomimen.

3 Als Werke gelten auch Computerprogramme.

4 Ebenfalls geschützt sind Entwürfe, Titel und Teile von Werken, sofern es sich um geistige Schöpfungen mit individuellem Charakter handelt.

Art. 12 URG Erschöpfungsgrundsatz
3 Ausgeführte Werke der Baukunst dürfen vom Eigentümer oder von der Eigentümerin geändert werden; vorbehalten bleibt Artikel 11 Absatz 2.

Art. 15 URG Schutz vor Zerstörung
1 Müssen Eigentümer und Eigentümerinnen von Originalwerken, zu denen keine weiteren Werkexemplare bestehen, ein berechtigtes Interesse des Urhebers oder der Urheberin an der Werkerhaltung annehmen, so dürfen sie solche Werke nicht zerstören, ohne dem Urheber oder der Urheberin vorher die Rücknahme anzubieten. Sie dürfen dafür nicht mehr als den Materialwert verlangen.

2 Sie müssen dem Urheber oder der Urheberin die Nachbildung des Originalexemplars in angemessener Weise ermöglichen, wenn die Rücknahme nicht möglich ist.

3 Bei Werken der Baukunst hat der Urheber oder die Urheberin nur das Recht, das Werk zu fotografieren und auf eigene Kosten Kopien der Pläne herauszuverlangen.

05. Mai 2006 Urs Hess-Odoni

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