Editorial

Jedes Beben führt uns aufs Neue vor Augen, welche Auswirkungen die Beschaffenheit der Bausubstanz auf Menschenleben, Infrastruktur und Kulturgüter haben kann. Durch die erdbebensichere Bauweise könnte ein Grossteil dieser Schäden vermieden werden. Tragwerke aus Stahl sind wegen der Duktilität des Materials, ihrer Leichtigkeit und weicher Verbindungen besonders geeignet für erdbebensicheres Bauen. Zudem leisten sie durch ihre konstruktive Ökonomie einen wertvollen Beitrag an die Nachhaltigkeit.

Die vorliegende Doppelnummer von Steeldoc bietet einen umfangreichen Überblick über die Möglichkeiten des erdbebensicheren Bauens in Stahl und erläutert die Hintergründe, welche den erdbebengerechten Entwurf in der Schweiz zum Thema machen. Ein einleitendes Gespräch zwischen dem Ingenieur und Autor Hugo Bachmann und der Wissenschaftshistorikerin Monika Gisler zeigt auf, wie sich das Thema Erdbebensicherheit in der Schweiz entwickelt hat und welche Anforderungen die SIA-Norm diesbezüglich heute an Planer stellt. Danach werden die Grundsätze des erdbebengerechten Entwurfes im Stahlbau dargestellt.

Italien gehört zu den europäischen Ländern mit einem hohen Bebenrisiko, weshalb italienische Universitäten im Bereich Erdbebensicherheit eine führende Rolle spielen. Der Beitrag von Prof. Raffaele Landolfo der Universität Neapel behandelt deshalb das Kernthema dieser Publikation und erläutert die wichtigsten Methoden zur erdbebensicheren Bemessung und Konstruktion von Tragwerken in Stahl. Hier basiert die Argumentation auf den Eurocodes, die sich jedoch weitgehend mit den SIA-Normen decken. Professor Landolfo führt die Technische Kommission für Erdbebensicherheit TC13 der Europäischen Konvention für Stahlbau ECCS und ist massgeblich beteiligt an der Entwicklung der Europäischen Erdbebennormen. Im Anschluss daran zeigen wir anhand eines mehrgeschossigen Schulgebäudes, wie der erdbebengerechte Entwurf eines Tragwerkes nach der SIA-Norm bemessen und umgesetzt wird.

Ein Beitrag von Thomas Wenk beleuchtet die in der Schweiz vielfach notwendige Verstärkung und Ertüchtigung bestehender Gebäude mit Stahl, was ebenfalls anhand konstruktiver Beispiele veranschaulicht wird. Schliesslich setzen wir einen Fokus auf das Erdbebenland Japan mit einem Übersichtsartikel, der die Bautradition in Japan mit aktueller Architektur in Verbindung bringt. Als Dokumentation zu diesem Thema zeigen wir schliesslich die Mediathek in Sendai des japanischen Architekten Toyo Ito, insbesondere ihre Performance nach dem Beben im März 2011.

Wir wünschen viel Vergnügen und Erkenntnis beim Studium der nachfolgenden Seiten von Steeldoc.
Evelyn C. Frisch

Inhalt

03 Editorial

04 Interview
Erdbebensicheres Bauen als Selbstverständlichkeit

08 Tragwerksplanung und Bemessung
Erdbebensicher Bauen in Stahl

28 Erdbebengerechter Entwurf
Einfache, duktile und robuste Tragwerke entwerfen

32 Ecole de la Maladière, Neuenburg
Erdbebengerecht, leicht und spielerisch

38 Bestehende Gebäude
Erdbebenertüchtigung von Gebäuden mit Stahl

42 Produktionsgebäude K-90
Brücke im Fassadenbild

46 Erdbebensicher Bauen in Japan
Traditionelles Wissen und moderne Technologien

52 Mediathek in Sendai, Japan
Nicht nur weltberühmt – auch erdbebengeprüft

55 Impressum

Erdbebensicher bauen als Selbstverständlichkeit

Obwohl die Schweiz nicht zu den hochgefährdeten Erdbebenzonen Europas gehört, gibt es immer wieder Erdstösse, die für Menschen und Kulturgüter gefährlich sind. Im Gespräch wird klar, wie in der Vergangenheit mit diesem Risiko umgegangen wurde, weshalb Erdbebensicherheit im Entwurf zur Selbstverständlichkeit gehören sollte und welches die politischen und normativen Hürden sind, die es noch zu überwinden gilt.

Mit Hugo Bachmann und Monika Gisler sprach Architekt Sascha Roesler

Gemäss einer Risikostudie des Bundesamtes für Zivilschutz ist die Erdbebengefahr die bedeutendste Naturgefahr in der Schweiz. Doch ist das Ausmass einer Erdbeben- Katastrophe nicht in hohem Masse menschengemacht? Und wie wurde diese Verantwortung in der Geschichte gedeutet?

MG: Die Katastrophe ist nicht das Beben selbst, sondern was mit den Gebäuden und den Menschen passiert. Somit ist die Bauweise entscheidend dafür, wie katastrophal sich ein Erdbeben auswirkt. Den Menschen trifft also eine gewisse Eigenverantwortung für das Ausmass des Schadens. Das zeigt sich auch in der Geschichte. Lange Zeit wurden Erdbeben nicht naturwissenschaftlich, sondern theologisch erklärt. Man deutete das Beben als Strafe für ein schlechtes oder als Ermahnung für ein besseren Leben.

HB: Seit dem verheerenden Erdbeben von Lissabon 1755 wurde auch die sogenannte Theodizee-Frage gestellt: Warum lässt Gott das zu? Diese Frage taucht bis heute auf. Erdbeben werden so als Strafe Gottes definiert.

MG: Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts hat man Erdbeben in zunehmendem Masse auch naturwissenschaftlich erklärt, so dass nun unterschiedliche Deutungsmuster nebeneinander bestehen konnten, naturwissenschaftliche und theologische. Man hat beispielsweise Erdbeben mit dem Wetter zu verknüpfen versucht und wollte dies auch empirisch nachweisen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts existierte die Theorie der Elektrizität als Ursache von Erdbeben. Und etwa zur selben Zeit sind die ersten Zusammenhänge zwischen Erdbeben und der Entstehung der Erde hergestellt worden. Erst jedoch seit den frühen 1960er-Jahren hat man die heute gültige Theorie der Plattentektonik formuliert. Bis Ende des 19. Jahrhunderts hatte man also keine klare Vorstellung davon, wie Erdbeben entstehen und damit auch keine brauchbare Erdbeben-Prävention.

Frühe bauliche Massnahmen

Seit wann gibt es einen gelehrten Diskurs über sinnvolle bauliche Massnahmen?

MG: Kulturgeschichtlich ist das ein sehr junges Thema. Rousseau hatte nach dem Beben in Lissabon 1755 die schlechte Bauweise der Stadt kritisiert. Solche Hinweise waren jedoch sehr vereinzelt. Und man findet keine baulichen Umsetzungen solcher Warnungen. Für die Schweiz kenne ich bis ins 20. Jahrhundert hinein keine schriftlichen Quellen, die auf eine Erdbeben bedingte Ertüchtigung von Gebäuden hindeuten würden. Insofern unterscheiden sich Erdbeben von anderen Naturkatastrophen. Im Fall von Hochwasser etwa wurden viel früher Überlegungen angestellt, wie man Dämme bauen könnte.

HB: Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass Hochwasser relativ häufig auftreten. Eigentliche Schadenserdbeben gibt es bloss etwa alle 100 Jahre. 1946 war das letzte grosse Schadensbeben der Schweiz, im Wallis. Und ganz schwere Erdbeben mit katastrophalen Schäden gibt es in der Schweiz sogar nur etwa alle 500 bis 1000 Jahre. Ein schlimmes Erdbeben verursacht zwar bis zu 100 mal grössere Schäden als ein schlimmes Hochwasser – heute wäre mit rund 100 Milliarden Franken Schäden zu rechnen, wenn in Basel ein grosses Erdbeben stattfinden würde. Die wirklich schlimmen Erdbeben ereignen sich aber in einem so weiten zeitlichen Abstand zueinander, dass sie sich nicht in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein verankern. Das ist der Hauptgrund dafür, dass man in der Schweiz bis in jüngster Zeit keine baulichen Massnahmen gegen Erdbeben ergriffen hat. MG: Im Vergleich zu Hochwasserkatastrophen muss man feststellen, dass in der Schweiz die Opferzahlen von Erdbeben immer sehr gering waren. Vom Basler Beben von 1356, immer noch das stärkste Erdbebenereignis der letzten 1000 Jahre, nimmt man an, dass nicht sehr viele Leute gestorben sind.

Gab es denn im Bereich eines alltäglichen Bauens schon früher vorbildhafte Ansätze zu einem erdebensicheren Bauen?

HB: Es gibt kaum überzeugende Anhaltspunkte, dass man Erdbebengefahren systematisch berücksichtigt hätte. In mittelalterlichen Städten beobachte ich immer wieder Eckpfeiler an alten Häusern. Nach dem Erdbeben von Basel hat man die Häuser mit Eckpfeilern gebaut. In Wil, Bischofszell, Zofingen, in den Zähringerstädten im Raum Bern usw. gibt es solche Eckpfeiler. Das ist meine private Ansicht, aber ich sehe keinen Grund, weshalb man solche Eckpfeiler sonst gemacht hätte. Die Eckpfeiler tragen zur Stabilität des Mauerwerks eines Gebäudes bei. Das waren vielleicht erste bauliche Massnahmen, um Gebäude in der Schweiz gegen Erdbeben sicherer zu machen.

Forschung zum erdbebensicheren Bauen

Welche historische Rolle spielt der Stahlbau für ein erdbebensichereres Bauen? Und seit wann wird dieser Zusammenhang systematisch erforscht?

HB: Für die Forschungsgeschichte bedeutsam war das Erdbeben von San Francisco 1906. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses hat man angefangen, sich darüber Gedanken zu machen, wie man Gebäude erdbebensicherer ausbilden könnte; ebenso nach dem berühmten Tokio Erdbeben 1923 mit 150 000 Toten und, wie in San Francisco auch, mit tagelangen Bränden. In der Folge hat man insbesondere dem Stahlbau anstelle von Mauerwerk eine besondere Leistungsfähigkeit im Erdbebenfall zugeschrieben – allerdings ohne dass man damals verstanden hätte, wie sich ein Erdbeben auf ein Bauwerk auswirkt.
Was mit einem Gebäude während eines Erdbebens passiert, ist sehr komplex. Einigermassen verstanden wird das erst in den letzten drei Jahrzehnten. Das Erdbeben-Ingenieurwesen hat sich in einem wissenschaftlichen Sinn erst in den 1960er Jahren etabliert, primär im Zusammenhang mit dem Bau kalifornischer Atomkraftwerke. Aus diesem Umfeld sind am Anfang die stärksten wissenschaftlichen Impulse gekommen. Auch die ersten Bauwerke der Schweiz, für die eine so genannte Erdbebenbemessung gemacht wurde, waren unsere AKW; natürlich waren diese Bemessungen aus heutiger Sicht bloss rudimentär. Die Idee, dass man ein Gebäude für den Erdbebenfall möglichst sicher bauen sollte, habe auch ich das erste Mal in den 1960er Jahren gehört, als man unsere ersten AKW geplant hat. Die Atomindustrie hat entsprechend auch die ersten Forschungsgelder zur Verfügung gestellt, um an den Hochschulen erste kleinere Forschungsprojekte durchzuführen. Mit der Zeit wurde dieses Wissen auch auf andere Gebäudetypologien übertragen. Die ersten modernen Erdbeben- Normen auf wissenschaftlicher Basis sind in den 1970er und 80er Jahren in den USA und in Neuseeland erarbeitet worden, gleichsam mit einem wachsenden Bewusstsein für das Risiko und die Schwächen der Technokratie. Eine neue Methode: Duktilität und Kapazitätsbemessung Forschungsgeschichtlich kann man also sagen, dass die Baudynamik erst ungefähr ein halbes Jahrhundert nach den Erkenntnissen in der Seismologie folgte. HB: Ja. Die entscheidende Methode, die das ganze Erdbebeningenieurwesen auf den Kopf gestellt hat, wurde in den 1980er Jahren in Neuseeland entwickelt: das Capacity-Design; auf Deutsch: Kapazitätsbemessung. Entdeckt und entwickelt wurde die Methode insbesondere von Professor Thomas Paulay, für den ich damals arbeitete. Die Methode hat zur sogenannt duktilen Bauweise geführt. Ein Bauwerk ist dann duktil konstruiert, wenn es sich unter Erdbebeneinwirkung so stark verformen kann, dass es dabei zwar lokal bleibende Verformungen erfährt, aber ohne einzustürzen. Duktilität meint plastische Verformbarkeit des Tragwerks, was unter Umständen bleibende Verformungen mit starken lokalen Schäden miteinschliesst; auf keinen Fall jedoch zu einem Zusammenbruch des Tragwerks führt. Heute verwendet man überall auf der Welt diese duktile Bauweise im Gegensatz zu einer nicht-erdbebengerechten Bauweise.

Welche Bedeutung kommt den Architekten für die Konzeption duktiler Gebäude zu?

HB: Die Architekten verfügen über die wichtigsten Schalthebel. Im Ablauf der Planung ist das Entscheidende der erdbebengerechte Entwurf. Von der ersten Skizze an sollte der Aspekt der Erdbebensicherheit von Architekten berücksichtigt werden. Und um das zu machen, muss man keine einzige Berechnung durchführen; man muss bloss einige wesentliche Grundsätze berücksichtigen.[1] Am besten geschieht dies durch eine frühzeitige Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur beim Entwurf des Gebäudes. Mit wenigen gescheiten Massnahmen kann man die Erdbebensicherheit von Gebäuden enorm verbessern. Wenn man es jedoch nicht macht, dann kann der Ingenieur noch so viel rechnen; das Gebäude bleibt ein schlechter erdbebenbezogener Entwurf. Der Ingenieur berücksichtigt mit der Berechnung, der Bemessung und der konstruktiven Durchbildung des Tragwerks und der nicht-tragenden Bauteile wie Zwischenwände und Fassadenelemente zwar die Norm, aber die Norm sagt wenig zu den grundsätzlichen Entwurfsprinzipien.

Erdbeben-Normen in der Schweiz

Ob eine Gesellschaft bauliche Massnahmen gegen Erdbebengefahren ergreift, ist letztlich abhängig davon, wie sie die Gefahren einschätzt. Sie, Herr Bachmann, sprechen mit Blick auf den öffentlichen Erdbebendiskurs der Schweiz von den «vergessenen Erdbeben». Moderne Erdbebennormen sind erst seit 1989 in Kraft. Haben wir in der Schweiz ein Wahrnehmungs- und Überlieferungsproblem betreffend der real existierenden Erdbebengefahren; oder sind wir bloss europäischer Durchschnitt?

MG: In der Schweiz sind die Erdbeben-Normen noch ein bisschen jünger als beispielsweise in Italien; aber auch dort ist die Normgebung relativ jung, aus den 1970er Jahren. Wenn man sich vor Augen führt, dass es dort schon immer schwere Erdbeben gegeben hat, mutet das besonders erstaunlich an. Wenn wir heute davon reden, dass man Erdbebengefahren ernst nehmen soll, dann hat das mit Berechnungen zu tun, was passieren könnte, wenn es wieder ein schweres Erdbeben gibt. Überlegungen zur Erdbebensicherheit muten sehr theoretisch an und müssen entsprechend stark institutionell forciert werden: mit Normen, mit Gesetzgebungen. Ansonsten hat man sozusagen kaum einen Grund, sich mit Erdbeben zu beschäftigen. Es geht darum, mittels Normen die Wahrnehmung von Erdbeben zu institutionalisieren.

HB: Es ist schwierig, das vorhandene komplexe Wissen in einfache Regeln umzusetzen, die man beim Planen und Bauen brauchen kann. Zudem hat man bloss langsam verstanden, was ein Erdbeben mit einem Gebäude macht. In der SIA-Norm von 1970 hatte man nur einen kurzen Abschnitt zur Erdbebensicherheit drin.[2] Da war noch kaum von Schwingungen die Rede. Vor dem Hintergrund der genannten internationalen Entwicklungen habe ich 1980 vom SIA den Auftrag erhalten, als Vorsitzender einer entsprechenden Kommission für die Schweiz eine eigentliche Erdbeben-Norm auszuarbeiten. 1989 ist diese erste moderne Erdbeben-Norm der Schweiz in Kraft getreten. Wobei man sagen muss, dass auch die jüngste Norm eine blosse Empfehlung darstellt.
SIA Normen haben grundsätzlich die Rechtskraft von Vereinsstatuten. Die Anwendung der Norm unterliegt dem Privatrecht; entscheidend ist, was in den Bauverträgen steht: «Die SIA-Normen sind einzuhalten». Da entstehen natürlich Interpretationsspielräume. Und weil Erdbeben nicht im öffentlichen Bewusstsein sind, wird sogar heute noch nicht-erdbebengerecht gebaut. Heute weiss man sehr gut, wie man Gebäude duktil gestalten kann. Das ist in die heutigen Normen eingeflossen. Auf einem anderen Blatt steht, ob die Normen tatsächlich angewendet werden. Bis jetzt ist die Anwendung der SIA-Erdbeben-Normen für private Bauten nicht gesamtschweizerisch verbindlich vorgeschrieben. Nur die Kantone Wallis und Basel-Stadt haben sie seit einigen Jahren vorgeschrieben.

Wo müsste man ansetzen, um den Normen gesamtschweizerisch mehr Geltung und Nachachtung zu verschaffen?

HB: Das Bauwesen ist in der Schweiz rechtlich Sache der Kantone. Der Bund hat keine Verfassungskompetenz im Erdbebeningenieurwesen – im Gegensatz zum Hochwasser. Man hat zwar versucht, das zu ändern – man wollte einen neuen Bundesverfassungsartikel zu Naturgefahren, der auch die heute verstreuten gesetzlichen Bestimmungen zu Hochwasser, Lawinen etc. zusammenfasst – blieb jedoch ohne Erfolg. Viele Kantone haben bis heute bezüglich der privaten Bauten noch nichts unternommen, andere sind aktiv geworden. Etwa die Hälfte aller Kantone bauen unterdessen ihre eigenen, also öffentlichen Gebäude nach den SIA-Normen. Und viele Kantone haben angefangen, ihre eigenen Bauten auf Erdbebensicherheit zu überprüfen. Der Bund setzt jetzt ebenfalls bei allen seinen eigenen Bauten – Hochschulen, Verwaltungsgebäuden etc. – die SIA Normen durch. Insgesamt machen die öffentlichen Bauten immerhin ein paar Prozent aus, ca. fünf bis sechs Prozent. Der grosse Teil jedoch, etwa 90 Prozent, sind private Bauten. Dass es Auflagen bei Baubewilligungen und entsprechende Kontrollen gibt, ist bloss in Basel und im Wallis durchgesetzt. Andere Kantone, z.B. Fribourg, Waadt, Nidwalden, nähern sich momentan Basel und Wallis an. Aber in jenen Kantonen, die die grösste Bausubstanz und somit auch das grösste Risiko aufweisen – im Mittelland – sind die privaten Bauten immer noch, um es salopp zu sagen, vogelfrei. Da macht niemand Auflagen und Kontrollen, wenn der Bauherr, der Architekt oder der Ingenieur das nicht durchsetzt.

Ertüchtigung bestehender Bauten

Fürchten viele Bauherren die Kosten für entsprechende Massnahmen der Ertüchtigung bei bestehenden Bauten?

MG: Die einzige Massnahme, um sich vor den Folgen von Erdbeben zu schützen, ist das erdbebensichere Bauen und Ertüchtigen bestehender Bauten. Eine kürzlich erstellte Studie zeigt aber, dass es sehr teuer ist, bestehende Gebäude, und seien sie auch kulturell wertvoll, zu ertüchtigen. Am sinnvollsten wäre dies also anlässlich einer sowieso anstehenden Sanierung.

HB: Von Neubauten wissen wir, dass erdbebensicheres Bauen fast nichts zusätzlich kostet, wenn man es richtig macht. Der Aufwand liegt zwischen null und einem Prozent der Baukosten. Darum ist es unverantwortlich, wenn man es nicht macht. Mit der 2004 eingeführten SIA Richtlinie 2018 gibt es ausserdem ein ganz hervorragendes Verfahren, mittels dessen man mit ökonomischen Kriterien – und auch unter Einbezug von kulturellen und rechtlichen Wertmassstäben – bestehende Gebäude untersuchen kann. Mittels dieses Verfahrens kann man klar sagen, wo es verhältnismässig ist, zu ertüchtigen und wo nicht. Das hängt von den Ertüchtigungskosten ab, aber es hängt auch von der sogenannten Personen-Belegungszahl ab. Das Hauptziel des Ingenieur-Erdbebenwesen ist immer noch, Tote zu verhindern; oder grössere Umweltkatastrophen, wenn man an die Basler Chemie denkt.

Welche Erdbebenstärken halten denn vor 1989 gebaute Gebäude aus?

HB: 85 bis 90 Prozent des Gebäudebestandes der Schweiz hat nie eine Erdbebenbemessung erfahren. Diese Gebäude weisen häufig eine ungenügende Erdbebensicherheit auf. Man kann jedoch keine generelle Aussage machen. Jedes Gebäude ist ein Individuum, ganz besonders in der Schweiz. Wenn man Erdbebengefahren beim Entwurf, bei der Bemessung und bei der Konstruktion nicht berücksichtigt, dann resultieren Gebäude, die zufälligerweise sehr erdbebensicher sein können und solche, die bereits bei einem schwachen Erdbeben in sich zusammenfallen. Es kann von kleinen Veränderungen abhängen, ob die Erdbebensicherheit besser oder schlechter wird; und man kann deshalb auch nicht von einer spezifischen Erdbebenstärke ausgehen.

Erdbebenertüchtigung ist also ein grosses Thema in der Schweiz. Mit welchen Prioritäten sollte man hier vorgehen?

HB: Ich gehe von 200 bis 300 Gebäuden aus, die bis heute in der Schweiz auf Erdbeben ertüchtigt wurden und die jetzt eine einigermassen genügende Erdbebensicherheit aufweisen. Der Bund hat auch bei seinen eigenen, bestehenden Gebäuden eine systematische Überprüfung bezüglich Erdbebentüchtigkeit eingeleitet. Bei rund der Hälfte der Bundesbauten muss bei der anstehenden Sanierung auch die Erdbebensicherheit verbessert werden. Einige ganz schlimme Fälle hat man unterdessen bereits ertüchtigt, zum Beispiel 1994 das Auditoriumsgebäude der ETH Zürich auf dem Hönggerberg. Der Kanton Zürich hat alle seine Schulhäuser und Spitäler überprüft. Einige, wie das Spital Winterthur, sind unterdessen ertüchtigt worden.

Zum Schluss die Frage: Wie schätzen Sie die Potentiale von Stahl für ein zukünftiges erdbebensicheres Bauen in der Schweiz ein?

HB: Erdbebensicheres Bauen ist grundsätzlich nicht von der Bauweise abhängig. Bei der Ertüchtigung von bestehenden Gebäuden hat der Stahl jedoch bestimmt eine wichtige Rolle zu spielen. Stahlelemente sind konstruktiv flexibel, man kann sie einfach in die gewünschte Form bringen und man kann sie einfach transportieren. Deshalb ist Stahl bei der Ertüchtigung, wenn es um Verstärkungen geht, ein besonders praktischer Baustoff.


Anmerkungen:
[01] Hugo Bachmann: Erdbebengerechter Entwurf von Hochbauten – Grundsätze für Ingenieure, Architekten, Bauherren und Behörden, Richtlinien des BWG, Bern 2002.
[02] «Die Tragwerke sollen den Beanspruchungen durch Erdbeben widerstehen. Die Intensitätsklasse VII nach der Rossi-Forel-Skala ist für das ganze Land gültig. An stärker gefährdeten Orten kann die zuständige Behörde die Intensitätsklasse VIII vorschreiben. […] Die Tragwerke sind für eine horizontale Beschleunigung b=g/50 für die Intensitätsklasse VII und b=g/20 für die Intensitätsklasse VIII zu berechnen (g=Erdbeschleunigung).»

[Zu den Interviewpartnern: Hugo Bachmann ist der Doyen des schweizerischen Erdbebeningenieurwesens. Er hat in den 1970er Jahren die internationale Forschung in die Schweiz gebracht und als damaliger Professor für Baudynamik und Erdbebeningenieurwesen an der ETH Zürich etabliert.

Die Wissenschaftshistorikerin Monika Gisler ist eine profilierte Kennerin der Erdbebengeschichte der Schweiz, die in ihrer Dissertation die Anfänge einer naturwissenschaftlichen Beschreibung von Erdbeben beschreibt.

Sascha Roesler ist Architekt und Lehrbeauftragter an der ETH Zürich im Wahlfach «Einführung in die ethnografische Forschung der modernen Architektur».]

Steeldoc, Di., 2011.12.20

20. Dezember 2011 Sascha Roesler

Einfache, duktile und robuste Tragwerke entwerfen

Optimierte Gebäudeformen und gewisse Grundregeln können von Architekten bereits in der ersten Entwurfsphase berücksichtigt werden. Oft erfüllen Gebäude damit bereits die Anforderungen an die Erdbebensicherheit. Die möglichst frühe Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur führt allemal zu effizienten und kostengünstigen Lösungen.

Ziel des erdbebengerechten Entwurfes ist es, konstruktiv einfache, duktile und robuste Tragwerke zu realisieren. Das Tragwerk sollte eindeutige und direkte Wege zur Abtragung der Erdbebenkräfte bieten. Robustheit bedeutet, dass im Tragwerk auch beim Versagen eines Elementes keine Kettenreaktion entsteht, d.h. dass das Gebäude ausreichende Tragreserven besitzt, damit es nicht zum Gesamtversagen kommt. Damit sich das Gebäude duktil verhält, müssen die Tragwiderstände der Verbindungen und Elemente so aufeinander abgestimmt sein, dass unter Erdbebeneinwirkung die Verbindungen plastifizieren, bevor eines der übrigen Bauteile versagt.

Um die Stabilität zu gewährleisten, braucht es:
Eine angemessene Anzahl vertikaler und horizontaler Aussteifungsebenen.
Eine gut gewählte Anordnung dieser Ebenen.
Adäquate Verbindungen zwischen diesen Ebenen.

Haupt- und Sekundärstruktur

Die vertikale Tragstruktur eines Gebäudes kann aus einer Haupt- oder «Primärstruktur» bestehen, die für die Aufnahme von Erbebeneinwirkungen konzipiert ist und aus einer «Sekundärstruktur», die nur Gravitationskräfte aufnimmt. Diese Unterscheidung muss mit der effektiven Funktionsweise des Tragwerks übereinstimmen. Das heisst, der Beitrag der Sekundärstruktur an Steifigkeit und Widerstand gegen Erdbebeneinwirkungen muss weniger als 15% desjenigen der Primärstruktur betragen. Ausserdem müssen die tragenden Elemente der Sekundärstruktur sowie ihre Verbindungen die Deformationen der Primärstruktur mitmachen und die Gravitationskräfte trotzdem noch aufnehmen.

Ziel eines erdbebengerechten Konzepts

Ein gutes erdbebengerechtes Konzept zeichnet sich durch ein Tragwerk aus, das den Erdbebeneinwirkungen zu widerstehen vermag, dabei aber kaum mehr kostet als ein nicht erdbebengerechtes Projekt. Die Planungsprinzipien gelten nur für die «Primärstruktur», was dem Architekten für seinen Entwurf viel Freiheit lässt. Vor allem in der Gestaltung der «Sekundärstruktur», die für das äussere Erscheinungsbild bestimmend sein kann, ist er praktisch vollkommen frei.

Prinzipien einer erdbebengerechten Planung

1. Einfaches Tragwerk

Ein einfaches Tragwerk zeichnet sich durch klare und direkte Ableitungen der Erdbebeneinwirkungen in den Boden aus. Dies ist ein wichtiges Prinzip, denn die Modellierung, die Analyse, die Bemessung, die Detaillierung und die Konstruktion solcher Tragwerke sind einfacher und mit weniger Unsicherheit behaftet, sodass das Erdbebenverhalten viel zuverlässiger vorhergesagt werden kann.

2. Regelmässigkeit im Grundriss

Ein regelmässiger Grundriss kann durch gleichmässige Anordnung der vertikalen Aussteifungselemente erreicht werden. Dadurch entstehen kurze und direkte Übertragungswege der Trägheitskräfte, die sich aus der im Tragwerk vorhandenen Masse ergeben. Falls notwendig, kann diese Regelmässigkeit im Grundriss erreicht werden, indem man das Gebäude durch «Erdbebenfugen» in statisch unabhängige Baukörper aufteilt (Abb. 3). Diese Fugen müssen jedoch breit genug sein, um das Aufeinanderprallen der verschiedenen Baukörper zu verhindern. Bei einer komplett oder annähernd symmetrischen Grundrissdisposition kann mit einer symmetrischen Anordnung der Verbände ein regelmässiger Grundriss erreicht werden. Ein angemessenes Verhältnis zwischen der Massenverteilung und der Anordnung der steifen und tragenden Elemente vermindert die Exzentrizität der Erdbebenkräfte und somit die Torsion (Abb. 4).

Gemäss SIA Norm 261 (2003) kann ein Tragsystem im Grundriss als regelmässig betrachtet werden, wenn die Anforderungen von Ziffer 16.5.1.3 erfüllt sind:
Bezüglich Horizontalsteifigkeit und Massenverteilung ist das Bauwerk hinsichtlich zweier orthogonaler Richtungen ungefähr symmetrisch im Grundriss.
Die Grundrissform des Bauwerks ist kompakt. Die Gesamtabmessungen von rückspringenden Ecken oder Aussparungen sind nicht grösser als 25% der gesamten äusseren Grundrissabmessung des Bauwerks in der entsprechenden Richtung.
Die Steifigkeit der Decken in ihren Ebenen ist gross im Vergleich zur Horizontalsteifigkeit der vertikal tragenden Bauteile

3. Regelmässigkeit im Aufriss

Ist der Aufriss eines Gebäudes regelmässig, kann verhindert werden, dass Zonen entstehen, in denen es zu konzentrierten Beanspruchungen kommt und die ein vorzeitiges Versagen bewirken könnten. Ein regelmässiger Aufriss bedingt auch das Vermeiden von Interaktionen zwischen tragenden und nicht tragenden Elementen wie Füllungen. Eine solche Interaktion kann die Lokalisierung von plastischen Deformationen nach sich ziehen, wie es zum Beispiel bei Tragstrukturen mit einem «weichen» Geschoss der Fall ist. Redundante Tragwerke, das heisst solche mit vielen tragenden Elementen, weisen eine breite Verteilung der Kräfte und zahlreiche dissipative Bereiche auf. So werden die Auflagerreaktionen besser verteilt (Abb.5).

4. Festigkeit und Steifigkeit mit ähnlicher Grundausrichtung

Die Erdbebeneinwirkung besteht aus zwei horizontalen Komponenten, denen das Tragwerk des Gebäudes unabhängig von der Richtung des Erdbebens widerstehen muss. Die Tragwerke sollten in ihren beiden Hauptrichtungen einen ähnliche Widerstand sowie eine ähnliche Steifigkeit aufweisen. Zwei Elemente müssen für das Bestimmen der Steifigkeit des Tragwerks berücksichtigt werden. Die seismischen Beanspruchungen entwickeln in einer duktilen Struktur weniger Kraft, die Verschiebungen sind jedoch grösser. Sie müssen begrenzt werden, um Auswirkungen zweiter Ordnung im Falle eines Bemessungserdbebens und Risse im Falle eines häufigen Erdbebens zu verhindern.

5. Steifigkeit und Torsionswiderstand

Gebäudetragwerke müssen genügend Steifigkeit und einen entsprechenden Torsionswiderstand aufweisen, um Torsionsschwingungen zu begrenzen, denn diese erzeugen in den Verbänden unterschiedliche Beanspruchungen. Diesbezüglich ist es am effizientesten, die Verbände an der Gebäudeperipherie anzuordnen.

6. Diaphragmen (Scheibenwirkung)

Die Scheibenwirkung von Decken und Dach ist besonders wichtig, wenn die Verbände im Aufriss eine komplizierte Geometrie aufweisen oder bei Tragsystemen mit Verbänden von sehr unterschiedlicher Steifigkeit. Bei sehr langen Gebäuden und solchen mit grossen Öffnungen müssen diese Scheiben oder Diaphragmen genau untersucht werden.

7. Aufteilung in Unterstrukturen

Können die Prinzipien der Regelmässigkeit aus Gründen der Nutzung nicht angewendet werden, kann eine Aufteilung des Gebäudes in mehrere «Baukörper» oder Unterstrukturen in Betracht gezogen werden. Diese sind zwar für die Benutzung miteinander verbunden, statisch aber getrennt (Abb. 3). Die Schwierigkeit bei dieser Variante besteht in der korrekten Ausführung der Fugen zwischen diesen Baukörpern. Solche Fugen müssen genügend breit sein, um im Falle eines Erdbebens das Aufeinanderprallen der Unterstrukturen zu verhindern, denn die verschiedenen Einheiten weisen nicht unbedingt dieselbe Schwingungsfrequenz auf. Für die Berechnung des minimalen Abstands müssen deshalb ihre maximal möglichen Verschiebungen addiert werden.

Bei dieser Lösung müssen die so geschaffenen verschiedenen Einheiten mit beweglichen Passerellen verbunden werden. Sind die Verschiebungen in den Fugen klein (geringe Erdbebengefahr, niedrige Gebäude), braucht es keine Doppelstützen. Dasselbe gilt im Übrigen auch für Dilatationsfugen. Grosse Erdbebenfugen dürfen nicht mit weichem Material ausgefüllt werden (Polystyrol oder Ähnlichem), denn eine kleine Spannung auf einer sehr grossen Fläche kann einer grossen Widerstandskraft entsprechen und so das Funktionieren der Fuge verhindern. In diesem Fall beschränkt man sich darauf, die Fuge aus ästhetischen Gründen mit einem beweglichen Element abzudecken.

Unterbricht die Fuge Haupttragelemente mit kleinen Abmessungen (Träger), ist die Spannung, die im dazwischen eingefügten Material entstehen kann, gross genug, um dieses zu zerdrücken.

8. Fundamente

Die Fundationen müssen Differentialbewegungen zwischen den verschiedenen Auflagerpunkten des Gebäudes verhindern. Eine steife Fundation wie beispielsweise ein mit Wänden ausgesteiftes Plattenfundament mit einer Decke als Diaphragma darüber kann dies gewährleisten. Streifenfundamente sollten mit einer Decke oder mit Trägern verbunden werden.

9. Voraussetzungen für einen globalen plastischen

Mechanismus schaffen Für Gebäude, deren Primärstruktur aus Rahmen besteht, die sich im Fall eines Bemessungserdbebens plastisch Verhalten sollen, ist es für die Sicherheit fundamental, dass die plastischen Verformungen in den Trägern stattfinden und nicht in den Stützen. Dies aus mehreren Gründen:
Ein global plastischer Mechanismus im Tragwerk erfordert die Ausbildung zahlreicher plastischer Gelenke in den Trägern.
Auch wenn sie stark beschädigt sind, stürzen Böden und Träger nicht einzeln ein, sie bleiben an den verbleibenden Verbindungsteilen hängen, während Schäden an den Stützen schnell zu einem Gesamtversagen führen können.
Duktilität lässt sich in Elementen, die nur auf Biegung beansprucht sind, leichter realisieren.

Die praktische Folge dieses Prinzips sind Stützen, deren plastisches Moment Mpl,Rd grösser ist als jenes der Träger. Dies entspricht Trägern, die weniger hoch sind als die Querschnitte der Stützen, was ausserhalb der Erdbebenzonen sehr ungewöhnlich ist. Wandartige Träger über leichten Stützen sollten also vermieden werden.

Das Knicken von Stützen oder Trägern in einem Tragwerk mit mit zentrischen Verbänden ist fatal. Bei schlanken Diagonalen ist der einzige globale stabile Mechanismus, der in Frage kommt, jener, bei dem die Diagonalen bei Zug plastifizieren (Abb. 7), während der Beitrag der Druckdiagonalen vernachlässigt wird. Die Bemessung der Fachwerkstäbe muss über die Abstufung der Querschnitte zum gewünschten globalen plastischen Mechanismus führen. Dazu reicht es aus, wenn nur Diagonalen plastifizieren.

10. Befestigung nicht tragender Elemente

Die häufigste Todesursache bei schwachen Erdbeben ist das Herabfallen von schlecht befestigten oder zu wenig widerstandsfähigen, nicht tragenden Elementen. Kamine (poröser Mörtel), dekorative Fassadenelemente, auf den Fassaden angebrachte Wandelemente oder Verglasungen, innere, nur auf den Boden gestellte Trennwände, die oben nicht gehalten sind (inneres Mauerwerk in den Gebäuden), Büchergestelle, technische Einrichtungen usw.


[Quellen aus: Kapitel 8 «Architecture des bâtiments résistants au séisme», Constructions parasismiques en acier, Arcelor Mittal, Commercial sections, Esch-zur-Alzette, Luxembourg]

Steeldoc, Di., 2011.12.20

20. Dezember 2011 André Plumier

Brücke im Fassadenbild

Erhalt der architektonischen Qualität und ununterbrochener Fabrikationsbetrieb während der Sanierungsarbeiten: Die Erdbebenertüchtigung des Produktionsgebäudes K90 in Basel stellte die Planer vor eine grosse Herausforderung. In enger Zusammenarbeit entwickelten Ingenieur, Architekt, Stahlbauer, Behörden und Stadtbildkommission eine überzeugende Lösung.

Die Erdbebengefährdung in der Schweiz wird für die Regionen Basel und Wallis am höchsten eingestuft, wobei das Gefahrenpotential aufgrund der dichten Bebauung für städtische Gebiete noch grösser ausfällt als für das Umland. Die Stadt Basel ist jedoch nicht nur geologisch ein kritisches Gebiet. Die ansässige chemische und pharmazeutische Industrie stellt ein zusätzliches Gefahrenpotential dar. Vor allem die Brandkatastrophe in Schweizerhalle am 1. November 1986, als 500 Tonnen Chemikalien verbrannten und das Löschwasser, das teilweise in den Rhein gelangte, ein grosses Fischsterben verursachte, hat die Behörden wachgerüttelt und zum Handeln bewogen.

1991 setzte der Kanton Basel-Stadt die Störfallverordnung in Kraft. Diese besagt, dass Firmen, die Anlagen betreiben, die bei ausserordentlichen Ereignissen den Menschen oder seine natürliche Umwelt schwer schädigen können, Schutzmassnahmen zu ergreifen haben. Die betroffenen Bauten müssen Erschütterungen durch ein Erdbeben solange stand halten, bis der laufende Betrieb regulär eingestellt und die Gefahr von abrupten Ausfällen mit schwerwiegenden Folgen verhindert werden kann. Um eine solche Sicherheit gewährleisten zu können, sind nicht nur Neubauten entsprechend auszulegen, sondern auch bestehende Gebäude gemäss den aktuellen Normen zu prüfen und je nachdem zu ertüchtigen.

Das Produktionsgebäude K-90

Von dieser neuen Verordnung waren auch die Bauten auf dem Basler Werksareal Klybeck betroffen, das in der Nähe eines Wohnquartiers liegt und rückseitig an den Rhein grenzt. Das Areal war ursprünglich im Besitz der Ciba Spezialitätenchemie AG, bevor die Farbstoffherstellung 2003 von der Huntsman Advanced Materials (Switzerland) GmbH übernommen wurde. Diese verpflichtete sich mit dem Kauf der Liegenschaften, sämtliche Anlagen innert zehn Jahren bezüglich Erdbebensicherheit zu überprüfen und nachzurüsten, entsprechend den Vereinbarungen, die von den chemisch-pharmazeutischen Grossfirmen Novartis, Roche, Valorec und Ciba Spezialitätenchemie AG mit dem Gesundheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt im Jahr 1999 getroffen wurden. Die Kontrolle der Erdbebenstruktur ergab, dass zwei der drei Gebäude auf dem Klybeckareal mit verhältnismässig einfachen Massnahmen – wie etwa zusätzlichen Wandscheiben, der Verstärkung von Wänden und Fundamenten sowie der Verbindung einzelner Gebäudeteile zu einem starren Körper – ertüchtigt werden können. Die grösste dieser Bauten jedoch, das Produktionsgebäude K-90, stellte für die Bauingenieure eine Herausforderung dar.

Das Gebäude K-90 steht prominent an der Klybeckstrasse, direkt neben dem Eingang zum Areal. Auf der anderen Seite wird die Pforte von den Bauten der Feuerwache gefasst. Im Falle eines Erdbebens dürfte das Gebäude auch deshalb auf keinen Fall einstürzen, weil sonst das ungehinderte Ausrücken der Feuerwehr nicht gewährleistet wäre. Der neungeschossige Bau aus den 1950er Jahren ist Zeuge einer qualitätsbewussten Industriearchitektur der damaligen Zeit. Er wurde im Laufe der Jahre um verschiedene Anbauten ergänzt. Dass das Gebäude als Stahlskelettbau aus miteinander verschraubten Stützen und Trägern errichtet wurde, ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, da die filigrane Struktur aus Brandschutzgründen mit Beton ummantelt wurde. In der Fassade ist die Rahmenstruktur mit Mauerwerk und Fensterelementen ausgefacht. Die Fensterelemente bestehen aus vorfabrizierten feinen Betongittern, in die teils Festverglasungen, teils öffenbare Holzflügelfenster eingelassen sind.

Suche nach einem Ertüchtigungskonzept

Die mit Hilfe von Computermodellen durchgeführte Überprüfung der Erdbebensicherheit ergab, dass der Bau die in den Swisscodes-Normen definierten Sicherheitsanforderungen deutlich unterschritt, was die Ingenieure der Abteilung Bauwerkserhalt der Firma Gruner AG nicht überraschte. Einerseits wurden Bauten in den 1950er Jahren nur auf Wind- und nicht auf Erdbebenkräfte bemessen, andererseits sind sowohl die Skelettkonstruktion als auch die gemauerten Wände und Treppenhäuser schlecht auf horizontale Scherkräfte belastbar. Somit waren umfassende zusätzliche Massnahmen zur Aussteifung und Verstärkung des Gebäudes nötig.

Das Ertüchtigungskonzept hatte zu berücksichtigen, dass Eingriffe im Gebäudeinnern, wie etwa das Einbauen von Betonkernen oder -mauern, nur dort möglich waren, wo sie die Produktion nicht tangierten. Der Betrieb musste während der ganzen Sanierung reibungslos weitergeführt werden können. Dementsprechend konzentrierten die Ingenieure ihre Suche nach sinnvollen Lösungen auf die Fassaden, in Zusammenarbeit mit Flubacher-Nyfeler Partner Architekten. Eine erste Variante sah vor, einige Fensterachsen zur Stabilisierung mit Betonwänden zu schliessen.

Gegen diesen Vorschlag erhob das Amt für Wirtschaft und Arbeit der Stadt Basel Einspruch, weil die Betriebsräume damit zu wenig Tageslicht erhalten hätten und die Sicht ins Freie für die Arbeiter versperrt gewesen wäre. Die Möglichkeit, das Gebäude auf eine neue, schwimmende Lagerung über der Fundation anzuheben (Base Isolation) musste aus Kosten- und betrieblichen Gründen verworfen werden.

Auf Zustimmung bei der Bauherrschaft und der Stadtbildkommission stiess schliesslich der Ansatz, die Fassaden mit Stahlverbänden zu verstärken. In der Nord- und Ostfassade konnten die Stahlträger auf der Innenseite angebracht werden, da in diesem Gebäudeteil keine Produktion untergebracht ist. Auf der Süd- und Westseite mussten sie aussen vor die Fassade gestellt werden. Doch auch diese Variante stellte hohe Anforderungen an die Planer. Verschiedene Anbauten und die Anlieferung für LKW im Erdgeschoss schränkten die Möglichkeiten der Auflagerung der Stahlkonstruktion stark ein. So überspannen die Verbände in beiden Fassaden das Erdgeschoss mit einer Brückenkonstruktion, die nur auf jeweils zwei Eckpfeilern auf den Boden aufsetzt. Entsprechend mussten dort eigens hoch belastbare, mit Pfählungen verstärkte Fundamente dicht neben den bestehenden Grundmauern des Gebäudes errichtet werden.

Die unterschiedlichen Geschosshöhen und verschieden hohen Gebäudeteile machten es nicht einfach, eine möglichst gleichmässige Gliederung des Stahlverbandes zu finden, die auf das bestehende Fassadenbild Rücksicht nimmt.

Die Konstruktion

Die ausgeführte Variante nimmt auf die klassisch anmutende Gliederung der bestehenden Fassade Bezug, indem das überhohe Sockelgeschoss überspannt wird, die Stahlverbände in den Regelgeschossen sich je weils über zwei Etagen erstrecken und das Attika frei von Verstärkungen gehalten wird.

Eine besondere technische Herausforderung stellen die Verbindungen zwischen dem Gebäude und dem dicht davor stehenden Stützskelett dar: Einerseits müssen die Verbindungen die unterschiedlichen Ausdehnungen von Stahlverband und Baukörper aufnehmen; andererseits müssen sie bei einem Erdbeben die zuverlässige Übertragung der horizontalen Kräfte sicherstellen können. Für die Konstruktion der Verbände schieden Doppel-T-Träger aus, da deren Verbindungen grossflächige Knotenbleche erfordert hätten und deshalb als eine ästhetisch unbefriedigende Lösung erachtet wurden. Man entschied sich stattdessen für MSH-Träger der Firma Vallourec & Mannesmann, die über Innenflansche elegant miteinander verbunden werden können. Die bis zu zwölf Meter langen Träger mussten bei Gewährleistung der nötigen Steifigkeit 40 x 40 Zentimeter stark dimensioniert werden. Zum Schutz vor Korrosion wurden sie mit einer anthrazitenen Eisenglimmerfarbe gestrichen.

Rechtzeitig zum Jahresende 2010 konnte, wie in dem mit dem Kanton Basel-Stadt im Jahr 1999 unterzeichneten Stufenplan vereinbart, die Erdbebensicherung des Gebäudes K-90 abgeschlossen werden. Die Sanierung konzentrierte sich auf den Schutz vor Schäden durch Erderschütterungen. Eine zusätzliche wärmetechnische Sanierung war bei der gegenwärtigen Nutzung des Gebäudes nicht dringlich. Man hat sich bei der Sanierung pragmatisch auf das Nötigste beschränkt, um das Bauwerk in seiner heutigen Funktion zu stärken. Die umgesetzten Massnahmen lassen aber auch für künftige Nutzungen viel Spielraum offen. Das Ergebnis zeugt von einer engen und konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Ingenieur, Architekt, Stahlbauer, Behörden und Stadtbildkommission. Obwohl in einem solch komplexen Prozess alle Beteiligten Zugeständnisse machen müssen, überzeugt das Resultat durch seine kompromisslose Direktheit und pragmatische Einfachheit.

Das bestehende Gebäude wurde nicht aufwändig umgebaut, sondern durch einen intelligenten Lösungsansatz auf rücksichtsvolle Weise ertüchtigt. Die für diesen Bau erarbeitete Lösung zeigt dabei beispielhaft, dass die Erdbebenertüchtigung eines erhaltenswerten Bauwerks auch eine vielschichtige architektonische Aufgabe sein kann.

Steeldoc, Di., 2011.12.20

20. Dezember 2011 Christa Vogt

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