Editorial

Es gibt viele Möglichkeiten, den Begriff Behinderung zu definieren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte dazu das Konzept der «Funktionalen Gesundheit», das auf die Fähigkeiten eines Menschen fokussiert, nicht auf dessen Defizite.[1]

Die Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen ist seit 1999 in der Bundesverfassung verankert, im Januar 2004 trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft.[2] Dieses «setzt Rahmenbedingungen, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und selbstständig soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und fortzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben». Die Bedürfnisse, die Behinderte dabei haben, sind sehr unterschiedlich – je nach Handicap ist für sie der Umgang mit Alltagsgegenstän-den und Einrichtungen sowie die Überwindung von Barrieren, die für Gesunde kein gravierendes Hindernis darstellen, schwierig oder unmöglich. In Wohn- und Pflegeeinrichtungen wie dem Zürcher Mathilde-Escher-Heim («Welt aus Rampen») und dem WohnWerk Basel («Keine Schwellenangst») ist es selbstverständlich, dass die Architektur individuell auf diese Anforderungen reagiert. Im Alltag fehlen jedoch immer wieder logische Gebäudeerschliessungen für Rollstuhlfahrer, ausreichend gekennzeichnete Treppen für Sehbehinderte und eine durchdachte Umweltgestaltung im Sinne des «Design für Alle»-Konzepts[3] («Leben ohne Einschränkung»). Hindernisfreies Bauen hilft indes allen, ob jung oder alt, gesund oder krank: Der Einstieg ins Niederflurtram ist nicht nur für die Rollstuhlfahrerin einfacher, auch der Transport von Kinderwagen wird erleichtert. TEC21 wird sich im kommenden Jahr immer wieder der Hindernisfreiheit widmen und dabei in verschiedenen Heften die Bandbreite des Themas aufzeigen. In der vorliegenden Ausgabe finden sich auch Beiträge zum Wettbewerb für eine Behindertenwerkstatt und zu einer Auszeichnung für KMU, die Vorbilder für Integration sind. Auf der Bücherseite werden Planungshilfen vorgestellt, die Produkteseite widmet sich barrierefreier Lebensraumgestaltung.

Das Ziel der «Funktionalen Gesundheit» ist laut Insos[1] dann erreicht, wenn jeder beeinträchtigte Mensch an allen Lebensbereichen teilnehmen kann, an denen auch nicht beeinträchtigte Menschen teilnehmen. Wie weit der Weg bis dahin noch ist, wird sich in den kommenden Jahren zeigen.
Katinka Corts-Münzner


Anmerkungen:
[01] vgl. ICF, International classification of functioning, disability and health, WHO. Insos Schweiz, der nationale Branchenver-band der Institutionen für Menschen mit Behinderung, bietet dazu Hintergrundwissen und organisiert Austauschplattfor-men (www.insos.ch)
[02] Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG, SR 151.3), www.bav.admin.ch
[03] Design für Alle: Gestaltungskonzept, das mögliche Beeinträchtigungen der Nutzer einbezieht

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Integra in Wohlen

12 PERSÖNLICH
Felix Sponagel: «Es kommt auf den Menschen an»

14 MAGAZIN
Bücher

18 LEBEN OHNE EINSCHRÄNKUNG
Felix Bohn
Hindernisfreies Bauen braucht Standards – eine einzelne Norm kann der Bandbreite der Bedürfnisse von Behinderten nicht gerecht werden.

21 WELT AUS RAMPEN
Katinka Corts-MünznerDas Mathilde-Escher-Heim für Muskelkranke in Zürich wurde von Darlington Meier Architekten mit einem sehr wohnlichen Neubau ohne Spitalcharakter erweitert.

27 KEINE SCHWELLENANGST
Tina Cieslik
Christ & Gantenbein Architekten haben in Basel ein Wohnheim und Werkstätten für geistig Behinderte gebaut. Die Anlage integriert sich gut ins Quartier.

34 SIA
SIA-Normen oder europäische Normen? | Wahlen in Kommissionen 1/2011 | FM-gerechte Bauplanung | SIA auf Facebook

38 PRODUKTE

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Leben ohne Einschränkung

Körperlich nicht beeinträchtigten Menschen fallen Barrieren im Alltag selten auf. Menschen mit Geh-, Seh- oder Hörbehinderungen hingegen sind darauf angewiesen, dass sie ihre Umwelt hindernisfrei erleben können. Standards helfen Planenden zwar bei entsprechenden Bauaufgaben, hindernisfreies Bauen kann aber nicht abschliessend in einer Norm geregelt werden.

Die bauliche Umwelt ist bei allen Menschen mitbestimmend für die Sicherheit und Selbstständigkeit im Alltag. Nicht markierte Schwellen, zu wenig oder zu viel Licht, rutschige und glänzende Bodenbeläge oder fehlende Absicherungen bei Baustellen sind auch für nicht behinderte Menschen störend oder gefährlich. Sie aber können viele dieser baulichen Mängel durch eine rasche Reaktion oder einen beherzten Sprung kompensieren. Menschen mit einer körperlichen oder sensorischen Behinderung können in derselben Situation im Verkehrsraum oder in einem Treppenhaus in lebensgefährliche Situationen geraten oder massiv in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt werden. Im baulichen Umfeld stellt sich ihnen immer wieder die Frage: «Bin ich behindert oder werde ich behindert?» Planerinnen und Planer sind deshalb gefordert, bei all ihren Projekten auch die Bedürfnisse und Fähigkeiten älterer und behinderter Menschen mit einzubeziehen. Diese Aufgabe wird mit der demografischen Entwicklung in der Schweiz und dem Ruf nach sozialer Nachhaltigkeit in Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen. Entsprechende Vorgaben finden sich in der Norm SIA 500 «Hindernisfreie Bauten» (vgl. Kasten) und für den Strassenraum im VSS-Forschungsbericht «Hindernisfreier Verkehrsraum» (vgl. Literaturanmerkungen).

Sonderbauten

Bei Bauten wie Behinderten- oder Pflegeheimen, die speziell für Menschen mit körperlichen oder sensorischen Behinderungen gebaut werden, gelten gegenüber der SIA 500 erhöhte, manchmal auch abweichende Anforderungen. Zu den erhöhten Anforderungen zählen breitere Flure, grössere Aufzüge oder Notrufsysteme. Ein Beispiel für abweichende Anforderungen sind die Rampen, die im Mathilde-Escher-Heim die Stockwerke verbinden (vgl. «Welt aus Rampen», Seite 21). Obwohl die SIA 500 die Rampensteigung auf 6 % begrenzt, konnten hier steilere Rampen geplant werden, weil alle Bewohner des Mathilde-Escher-Heims an derselben Art von Behinderung leiden und sich in der Regel alle im Elektrorollstuhl fortbewegen. In diesem speziellen Fall ist das Überwinden grösserer Steigungen weder gefährlich noch beschwerlich. In einem Alters- und Pflegeheim sind Rampen zumindest bei Neubauten dagegen nie erlaubt: Da die Beschwerden der Bewohnerinnen recht unterschiedlich sein können, müssen bei der Planung auch verschiedenste Körper- und Sinnesbehinderungen berücksichtigt werden. Der Bewohner mit der Parkinsonschen Krankheit ist im Alltag mit anderen Herausforderungen konfrontiert als die Frau mit einer Sehbehinderung oder ihre Nachbarin mit einer schweren rheumatischen Erkrankung. Die Lehre, die man daraus ziehen kann: Das hindernisfreie Bauen, das uns allen den Alltag erleichtert, kann nicht abschliessend in einer Norm geregelt werden. Bauen für behinderte Menschen ist so unterschiedlich, wie es die einzelnen Behinderungen sind.

Beispiel behindertengerechter Aufzug

Aufzüge in öffentlichen Gebäuden müssen Anforderungen genügen, die in der SIA 500 abschliessend auf weniger als einer Seite aufgelistet sind. Doch wie sieht das bei Sonderbauten aus? Gibt es auch hier ein abschliessendes Set von Vorgaben? Zwar gelten auch hier mindestens die Grundanforderungen gemäss SIA 500. Was darüber hinaus beachtet werden muss, hängt aber stark von der jeweiligen Nutzung ab. Im Alters- und Pflegeheim mit seh- und hörbehinderten Menschen sind eine optische Anzeige und eine akustische An sage des angefahrenen Stockwerks unbedingt erforderlich. Menschen im Rollstuhl sind für die selbstständige Benutzung auf ein horizontales Bedientableau angewiesen, solche mit starker Beeinträchtigung oder fehlenden oberen Extremitäten auf eine Aufzugsbedienung über eine Fernbedienung. Menschen mit Rollatoren können Aufzüge mit gegenüberliegenden Ein- und Aussteigtüren sicherer benutzen, weil ihnen das Rückwärtsfahren wie auch das rasche Wenden auf der begrenzten Fläche des Lifts schwerfällt. Die meisten Menschen im Rollstuhl können dagegen problemlos rückwärts fahren. Dabei sind sie froh, wenn die Liftrückwand mit einem Spiegel versehen ist, sodass sie beim Rückwärtsmanövrieren sehen, ob Personen vor dem Lift stehen. Derselbe Spiegel wäre in einer Pflegeabteilung für demenziell erkrankte Menschen sehr problematisch, weil diese in der späteren Phase der Erkrankung das Spiegelbild, das beim Betreten auf sie zukommt, nicht mehr als ihr eigenes erkennen und erschrecken.

Fachleute beiziehen

Was hier exemplarisch am Lift aufgezeigt wurde, gilt auch für viele andere Bereiche der Bauplanung für behinderte Menschen. Behindertengerechtes Bauen ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die ein grosses Fachwissen und Detailkenntnisse voraussetzt. Und wie der grüne Daumen im eigenen Garten den Landschaftsplaner nicht ersetzen kann, sind das durchaus sinnvolle Probewohnen an einem Wochenende im Altersheim oder 30 Minuten im Alterssimulationsanzug kein Ersatz für eine fachliche Begleitung durch erfahrene Experten. Es ist deshalb sinnvoll, frühzeitig Fachleute beizuziehen und diese wie andere Spezialisten während der gesamten Planungs- und Bauphase zu konsultieren. Nur so kann gewährleistet werden, dass ein Gebäude entsteht, das die Selbstständigkeit und Sicherheit der Bewohner optimal unterstützt und in dem effiziente, reibungslose Arbeitsabläufe möglich sind. Beide Faktoren sind zentral für die Nutzerzufriedenheit und den wirtschaftlichen Betrieb.

Wer ist bei dieser Aufgabe Fachpreisrichter?

Die Planung eines Heimes für behinderte oder pflegebedürftige Menschen ist keine reine Architekturaufgabe. Ebenso wichtig ist der Beitrag des qualifizierten Fachwissens aus dem Betreuungs- sowie Behinderten- oder Altersbereich. Anders als bei den meisten anderen Aufgaben bringen hier die Architektinnen und Architekten praktisch nie eigene Erfahrungen mit. Während jeder von uns wohnt, zur Schule ging, im Büro arbeitet, täglich einkauft oder auf den Bus wartet und dadurch automatisch zum Spezialisten wird, sind die wenigsten Planerinnen und Planer selber geh- oder sehbehindert oder haben einen Teil ihres Lebens in einem Heim verbracht. In der Praxis zeigt sich leider immer wieder, dass Heime kurz nach der Erstellung mit grossem Aufwand nachgebessert werden müssen, weil die speziellen Anforderungen von Pflege und Bewohnern zu wenig berücksichtigt wurden. Die bei einem Wettbewerb eingereichten Projekte müssen entsprechend auch von Fachleuten beider Fachgebiete beurteilt werden. Deshalb sollte bei der Zusammensetzung der Fachpreisrichter ein spezieller Schlüssel gewählt werden, der gewährleistet, dass die Kompetenzen der Pflegewissenschaft oder der Alterswissenschaft genauso vertreten werden wie das Fachwissen von Städtebau und Architektur. Nur eine Zusammenarbeit von Spezialisten auf Augenhöhe über die gesamte Planungs- und Ausführungsphase bietet die Gewähr, dass ein Gebäude entsteht, das sowohl städtebaulich wie architektonisch überzeugt als auch die Anforderungen an eine zeitgemässe, würdevolle und effiziente Betreuung älterer oder behinderter Menschen berücksichtigt.

TEC21, Fr., 2011.09.16

16. September 2011 Felix Bohn

Welt aus Rampen

Im Zürcher Balgristquartier haben Darlington Meier Architekten ein Erweiterungsgebäude für das bestehende Wohn- und Pflegeheim der Mathilde- Escher-Stiftung gebaut. Im Altbau und im villenartigen Neubau leben und arbeiten insgesamt 46 behinderte Jugendliche und junge Erwachsene in einer wohnlichen Atmosphäre.

Seit 1911 befindet sich das Mathilde-Escher-Heim (MEH) in einer Villa an der Leggstrasse im Balgristquartier, unterhalb des Spitals. Mit der Zeit wurde das Heim zum modernen Schul- und Ausbildungsheim für normal- und schwächerbegabte Kinder und Jugendliche mit Muskelerkrankungen. Heute ist es darauf spezialisiert und gehört zu den weltweit führenden Institutionen bei der Betreuung von Duchenne-Betroffenen[1]. Dank grossen Fortschritten bei der Betreuung und Versorgung der Erkrankten wird mittlerweile eine durchschnittliche Lebenserwartung von 30 bis 35 Jahren erreicht. Das hat auch zur Folge, dass die Mathilde- Escher-Stiftung, die das Heim bereits in den Jahren 1988 bis 1990 saniert und erweitert hatte, 2006 erneut zu einem Architekturwettbewerb einlud und um Erweiterungsvarianten auf dem Areal bat. Der Neubau sollte zwei Wohngruppen und zehn Wohnstudios sowie Gemeinschafts- und Beschäftigungsräume, einen Mehrzweckraum und Büros für die Verwaltung aufnehmen. Darlington Meier Architekten aus Zürich schlugen in ihrem Siegerentwurf einen städtebaulich autarken, villenähnlichen Neubau vor, der mit dem Altbau eine funktionale Einheit bildet.

Zwei Villen im Park

Auf dem grossen Gelände des MEH befindet sich die alte Villa auf dem nördlichen Teil des Areals, im Süden der Anlage konnte der Neubau so eingefügt werden, dass ein grosser Teil des bestehenden Parks erhalten blieb und eine freie Sicht in die Landschaft möglich ist.

Vogt Landschaftsarchitekten gestalteten den Garten mit Terrassen, sodass die unterschiedlich hoch gelegenen Eingangsbereiche der beiden Gebäude auch im Aussenbereich rollstuhlgängig verbunden sind. Der Neubau nimmt das Thema der bestehenden Villa auf und lehnt sich in Grösse und Farbigkeit an sie an. Er beherbergt neben den öffentlichen Funktionen wie Administration und Beschäftigungsstätte im Erdgeschoss Wohnräume und Gemeinschaftsbereiche in den zwei Obergeschossen. Im Dachgeschoss befindet sich die Mehrzweckhalle, in der auch Rollstuhl-Unihockey gespielt wird.

Der halböffentliche Eingangsbereich im Südwesten empfängt sowohl die Bewohnerinnen und Bewohner des MEH als auch Tagesklienten. Das grosszügige und tiefe Foyer wird über Glasbausteine in der Decke – der Boden des darüberliegenden Innenhofs – natürlich beleuchtet. Neben Verwaltungsräumen, Garderoben, Wäscherei und Sanitäranlagen befindet sich hier auch die «Pixelwerkstatt», in der die Bewohner am Computer arbeiten und spielen können. Diese unterste Gebäudeebene ist über eine Rampe mit dem Niveau des Altbaus verbunden. Obwohl das Haus sehr kompakt gebaut ist, konnte dieser zum Garten verglaste Gang zwischen den Wohnvillen luftig und grosszügig gestaltet werden. Die Bewohnerinnen und Bewohner können sowohl diesen witterungsgeschützten Bereich als auch den davorgelegenen asphaltierten Platz für Treffen und gemeinsame Aktivitäten nutzen. Im Altbau sind die Zimmer der älteren Bewohner untergebracht, die Wohnräume der Jugendlichen befinden sich in den zwei oberen Etagen des Neubaus.

Wohnen abseits des Spitals

In den Wohngeschossen gruppieren sich die einzelnen Zimmer um den als privateren Eingang fungierenden offenen Innenhof und sind nach Südosten und Südwesten ausgerichtet. Die angrenzenden Aufenthaltsflächen in den Gängen wirken dank dem einfallenden Tageslicht trotz grosser Gebäudetiefe hell und freundlich. In jedem Zimmer gibt es ein auf die Behinderung abgestimmtes Bad mit Dusche. Grosse Fenster mit niedriger Brüstung ermöglichen den rollstuhlfahrenden Bewohnerinnen und Bewohnern Ausblicke zur Stadt und zum See. Um die Pflege zu erleichtern und den Raum dennoch nicht ständig wie eine Krankenstation aussehen zu lassen, wurden die Schienen für eine eventuell notwendige Hebeanlage bereits in die Schalung eingelassen. Diese werden sonst – ob bereits gebraucht oder nicht – unter die Decke gehängt. Im Gebäudekern sind Aufzug, Personaltreppenhaus und das Pflegebad untergebracht, zudem gibt es ein «Schnupperzimmer» für zukünftige Bewohner.

Im davorliegenden Gemeinschaftsraum mit Terrasse gibt es eine Tee- und Aufwärmküche, grosse Tische mit Stühlen und eine Sofaecke. Die wenigen festen Einbauten sowie die für Therapiezwecke teilweise mobil gestaltete Küche lassen viel Bewegungsraum für die circa zwanzig Bewohnerinnen und Bewohner, die den Raum nutzen. «Erkennbares Entwurfsthema sollte die Wohnlichkeit und nicht die Behindertengängigkeit sein», sagt Mark Darlington. Das Gebäude sollte vielmehr genau auf die Bedürfnisse der heutigen Bewohner abgestimmt sein und dennoch spätere Veränderungen ermöglichen. Die vier Eckzimmer sind deshalb so konzipiert, dass sie auch zu Studios mit eigener Küche umgebaut werden könnten, falls selbstständige Menschen hier wohnen. Im Dachgeschoss, das sich nach Südwesten und zum Zürichsee hin orientiert, befindet sich ein stützenfreier Mehrzweckraum, der für heiminterne Veranstaltungen und als Sporthalle genutzt wird.

Eine Erschliessungsrampe führt bis ins oberste Geschoss, bei Bedarf sind die Räume auch über einen Aufzug erreichbar. Da sich die Bewohnerinnen und Bewohner im Haus mit Elektrorollstühlen bewegen, konnte die Rampe in Absprache mit der Behindertenkommission und zugunsten eines kompakteren Volumens mit 12 % steiler gebaut werden, als es für Handrollstühle erlaubt wäre (6 %). Durch einen breiten Schlitz im Dach wird die Rampe über alle Geschosse vom Tageslicht erhellt. Im Dachgeschoss bietet sie hohe Aufenthaltsqualität, denn von hier aus öffnet sich ein weiter Blick in die Umgebung, und die Bewohner können die grossen Rampenflächen als Treffpunkt nutzen.

Materialien für die Wohnlichkeit

Normalerweise werden Räume wohnlich, wenn sie möbliert werden. Im Mathilde-Escher- Heim, in dem es nur wenige, eingebaute Möbel gibt, schaffen jedoch die eingesetzten Materialien diese Wohnlichkeit. Die ständige Befahrung mit Rollstühlen beansprucht das Haus und die darin verbauten Materialien stark, weshalb robuste Baustoffe, die auch Kollisionen, Kratzer und Gummispuren aushalten und überarbeitet oder gar gestrichen werden können, Verwendung fanden. Als Hauptbaumaterial für das Gebäude wählten die Architekten unverputzten, gelblichen Kalksandsteinbeton, der mit seinen gestockten Leibungsflächen warm und freundlich wirkt. Auch in den Böden findet sich der helle Kalksandstein als Zuschlagstoff für die Hartbeton-Terrazzo-Mischung wieder. Als farblicher Kontrast zum hellen und marmorierten Sichtbeton kamen drei Holzarten zum Einsatz: für alle Türen und Schreinerarbeiten das stark gezeichnete Holz der Braunkernesche als Furnier und für die Tür- und Fensterrahmen als konstruktives Massivholz feiner gemaserte und leicht grau lasierte Lärche und Eiche. Die Geländer im Gebäude und die Postfächer im Gangbereich wurden in ihrer Dimension von vornherein fest eingeplant, da später in den Erschliessungsräumen keine zusätzlichen Einbauten gemacht werden sollten. Um den Nutzern zusätzlichen Bewegungsraum zu garantieren, sind die ebenfalls mit Braunkerneschenfurnier belegten Postfächer bündig in die Wand eingelassen.

Die meisten Heim- und Krankenbauten sehen wie Spitäler aus und lassen Bewohnerinnen und Bewohnern die Krankheit stets recht bewusst sein. Darlington Meier Architekten wollten im MEH einen angenehmen Lebensraum schaffen, in dem bei Bedarf ohne grössere Umbauten alle Annehmlichkeiten einer Krankenpflegestation zur Verfügung gestellt werden können.

«Die Architektur sollte es schaffen, vor der Spitalrealität dem Bedürfnis der Bewohner nach schönem Wohnraum gerecht zu werden», so Darlington. In den drei Jahren Planungs- und Bauzeit habe das Architektenteam einen unkomplizierten Umgang mit den Bewohnern gelernt. «Die Jugendlichen, die hier leben, haben zwar eine schwere Krankheit, sind aber Teenager wie alle anderen.»


Anmerkungen:
[01] Heute sind mehr als dreissig degenerative Muskelerkrankungen bekannt. Die meist symmetrisch ausgebildeten Muskelschwächen, zu denen auch die Muskeldystrophie Typ Duchenne gehört, unterscheiden sich hinsichtlich der beginnenden Körperregion, des Erkrankungsalters und des Verlaufs. Zwar können die Symptome der Krankheit behandelt werden, diese ist jedoch nicht heilbar und verläuft letztlich tödlich. Das Mathilde-Escher-Heim zählt zu den weltweit führenden, auf Menschen mit Muskeldystrophie Typ Duchenne spezialisierten Institutionen. Weitere Informationen: www.muskelkrank.ch
[02] alle Zitate aus: Conrad Ferdinand Meyer: Mathilde Escher (1808–1875), ein Portrait. Sonderdruck aus Zürcher Taschenbuch für 1883
[03] Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege. Band 1908

TEC21, Fr., 2011.09.16

16. September 2011 Katinka Corts-Münzner

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