Editorial

Es wird nur noch eine Fussnote in der Baugeschichte der Stadt Luzern sein, das inzwischen entsorgte Vordach, das Santiago Calatrava für die Fassade des damaligen Postbetriebsgebäudes entwarf und das nun für die Universität umgebaut wurde. Es war gewissermassen das Modell des die Bahnhofvorhalle überspannenden Glasdachs. Und doch steht es als Zeichen für die Kurzlebigkeit selbst eines so radikalen Stadtumbaus, wie er nach dem Bahnhofbrand 1971 ins Werk gesetzt wurde.

Dieser umfasste neben dem Aufnahmegebäude, das 1990 fertiggestellt wurde, die Gewerbeschule im Osttrakt, die Ergänzung um den Westflügel, die Neugestaltung des Bahnhofplatzes, ein Parkhaus, den Bau Inseliquai mit Büros und Wohnungen sowie das daran angrenzende Postgebäude, das 1985 in Betrieb genommen wurde.

Das ortsansässige Architekturbüro von Hans Peter Ammann und Peter Baumann hatte die Ausmarchung, die sich über drei Wettbewerbe 1975, 1978 und 1979 erstreckte, für sich entschieden und Calatrava für die spektakulären Dachkonstruktionen gewonnen. Damals stand das 1933 von Armin Meili entworfene Kunsthaus noch, das dem 1998 eröffneten Kunst- und Kongresshaus Luzern weichen musste.

Der nun erfolgte Umbau des Postbetriebsgebäudes an dessen Rückseite für die Universität ist der erste Eingriff in die städtebauliche Komposition der frühen 1980er-Jahre. Die funktional geprägten Bauten von Bahnhof und Post wurden seinerzeit mit Glasvorbau bzw. Glasdach veredelt. Sie wurden derart zu Gütezeichen, dass nicht nur sie, sondern auch die «zugehörigen» Bauten – vor allem der Bahnhof – mit Calatrava als Urheber assoziiert wurden.

Ganz anders gingen die Schöpfer des nun abgeschlossenen Umbaus vor. Enzmann  Fischer, die Architekten, und gkp, die Fassadenplaner, verschmolzen Funktion und Ästhetik. Sowohl die expressive Fassade als auch das Innenleben bestehen aus Standardprodukten – Aluminium-Unterkonstruktion und Putzträgerplatten, Beton und Gummimatten, Putz und Farbe etc. –, die so kombiniert oder verarbeitet wurden, dass die neue Vertonung – basierend auf dem Arrangement mit dem Tragwerk und der Interaktion an der Hülle – brilliert.
Calatravas Vordach wurde denn auch nicht zur Spolie ...
Rahel Hartmann Schweizer

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Schul- und Sportraumplanung Neukirch | Unicampus in Lugano Viganello

14 MAGAZIN
Erneutes Ringen um Kraftwerk Rheinau | Erhalt durch Gebrauch | Faszination Bambus | Vom Alpengarten zur Stadtlandschaft | Mit Karton gegen Not | Geschiebehaushalt in Fliessgewässern | Neues Netzwerk «Nachhaltiges Bauen» | Bücher | Energie-Coaching schweiz-weit | Stadtcasino Basel

38 NEUE SAITEN AUFZIEHEN
Aldo Rota
Anfang September wird die neue Universität Luzern bezogen. Nach einer wechselvollen Vorgeschichte kann sich die junge Hochschule im ehemaligen Postbetriebsgebäude hinter dem Kunst- und Kongresshaus Luzern (KKL) entfalten

44 IM KANON
MIT DER STRUKTUR
Rahel Hartmann Schweizer Enzmann
Fischer Architekten haben mit der Universität Luzern einen Bau gestaltet, dessen topografisch expressive Fassade ein Innenleben verhüllt, das sich mit dem Tragwerk arrangiert.

52 IMPROVISATION
AN DER FASSADE
Markus Schmid
Improvisation ist in der Musik eine hohe Kunst. Dass diese Technik auch am Bau gelingen kann, beweist die Universität Luzern, deren Fassade in einem dynamischen Entwicklungsprozess entstand.

58 SIA
Projektierungssektor im Hoch | Beitritte zum SIA im 2. Quartal 2011 | Handeln für anpassungsfähige Wälder | Swissbau Focus Blog online | Architektur öffentlich machen

66 MESSE BAUEN & MODERNISIEREN 2011

68 FIRMEN

70 PRODUKTE

89 IMPRESSUM

90 VERANSTALTUNGEN

Neue Saiten aufziehen

Anfang September, rechtzeitig vor Beginn des Herbstsemesters, werden nach fünfjähriger Bauzeit die neuen Räume der Universität Luzern bezogen. Nach einer wechselvollen Vorgeschichte kann sich die junge Hochschule nun im umgebauten ehemaligen Postbetriebsgebäude hinter dem Kunst- und Kongresshaus Luzern (KKL) in einem grosszügigen und inspirierenden architektonischen Umfeld entfalten.

Die Bildungsinstitution existiert in der heutigen Form erst seit einem Jahrzehnt: Obwohl ihre historischen Wurzeln als theologische Schule bis ins Jahr 1600 zurückreichen, ist die Universität Luzern die jüngste Schweizer Universität; ihre Gründung erfolgte erst nach der Annahme des Universitätsgesetzes im Kanton Luzern im Jahr 2000. Die schweizerische Anerkennung durch den Bundesrat folgte 2005. Als Vorläuferinstitutionen bestanden bereits die theologische Fakultät, die 1970 die akademischen Gradrechte erhielt, und seit 1993 die geisteswissenschaftliche Fakultät.

Bedingt durch die kurze Entstehungsgeschichte, die Herkunft aus verschiedenen Institutionen und die kleinen Anfangsbestände waren die Schulräume der jungen Universität auf 16 Standorte in Luzern verteilt, ein universitäres Zentrum fehlte. Von Anfang an war daher beabsichtigt, die neu gegründete Universität in einem repräsentativen Gebäude zusammenzufassen und zu beheimaten. Ursprünglich war dafür ein Neubau am Kasernenplatz, in der Nähe des Historischen und des Naturhistorischen Museums, vorgesehen. Für die Planung des neuen Universitätsgebäudes, das bereits 2008 hätte eröffnet werden sollen, wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, in dem der Entwurf des Zürcher Architekten Valerio Olgiati den ersten Rang belegte. Sowohl der als peripher kritisierte Standort als auch die Durchführung des Wettbewerbs und das ausgewählte Projekt waren aber heftig umstritten und führten in der Folge zu langwierigen Auseinandersetzungen, denen das Verwaltungsgericht Luzern Anfang 2004 ein Ende setzte, indem es den Entscheid der Wettbewerbsjury aufhob (vgl. TEC21, 44/2003, S. 20,[1] TEC21, 48/2003, S. 24,[2]). Nach dem Debakel um den Wettbewerb war es ein Wink des Schicksals, dass die Post ihr Betriebsgebäude an der Frohburgstrasse neben dem Bahnhof bis auf eine Poststelle aufzugeben gedachte, weil sie beabsichtigte, das Verteilzentrum in Härkingen zu konzentrieren.

Da capo in der alten Post

Die verschiedenen Institute der Universität Luzern sowie rund die Hälfte des Raumbedarfs der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz in unmittelbarer Bahnhofsnähe zu vereinen, eröffnete einen idealen Ausweg aus dem Dilemma: Der Entscheid, die Luzerner Hochschulen und die angegliederte Zentralschweizer Hochschulbibliothek (ZHB) im frei werdenden Postbetriebsgebäude an der Frohburgstrasse unterzubringen, fi el deshalb noch im selben Jahr – nicht, ohne auch noch 21 weitere Standorte geprüft zu haben. Die Post überliess den Bau dem Kanton für 45 Millionen Franken. 2005 wurde ein Wettbewerb für die Umnutzung des Postbetriebsgebäudes durchgeführt. Zu dessen optimaler verkehrstechnischen Lage gesellten sich die exzellente Qualität der Bausubstanz und das enorme Flächenangebot: Auf sechs Geschossen liessen sich nun knapp 23 000 m² Nutzfl äche realisieren. Seit dem ersten Anlauf waren die Studierendenzahlen nämlich förmlich explodiert: Im Jahr 2000 rechnete der Kanton Luzern mit 900 Studierenden (ausbaubar auf 1200 bzw. 1500) und kalkulierte für den Bau am Kasernenplatz 55 bis 65 Millionen Franken. 2005 waren es rund 1600. 2012 werden 2000 bis 2600 Personen an der Universität Luzern studieren (ohne PHZ).

Eine zentrale Herausforderung war die Neugestaltung der Fassade; die lieblose Industriearchitektur des Postbetriebsgebäudes passte weder zu den Ansprüchen nach Repräsentation der Universität noch zur Dominanz des benachbarten KKL. Das siegreiche Projekt der Zürcher Architekten Enzmann Fischer legt denn auch besonderen Wert auf eine eigenständige Fassadenarchitektur. Bereits im folgenden Jahr 2006 stimmte das Luzerner Stimmvolk dem Projekt von Enzmann Fischer Architekten zu, und die Baubewilligung wurde im Herbst 2007 erteilt. Die Rückbau- und Umbauarbeiten begannen im Dezember 2007 im 2. Untergeschoss (Abb. 3, 4), zuerst bei noch laufendem Postbetrieb; mit der Montage der neuen Fassaden wurde im Mai 2009 begonnen. Die verbleibende, neu gestaltete Poststelle im Erdgeschoss nahm ihren Betrieb bereits Ende 2009 wieder auf. Im Juni des aktuellen Jahres konnten die Umbauarbeiten termingerecht abgeschlossen werden. Gegenwärtig ist der Umzug der Universität und der PHZ in ihre neuen Räume an der Frohburgstrasse im Gange. Das Umzugsvolumen umfasst allein für die Universität rund 24 000 m³.


Anmerkungen:
[01] Baugedächtnis: http://retro.seals.ch/digbib/view?rid=sbz-004:2003:129::3504&id=hitlist
[02] Baugedächtnis: http://retro.seals.ch/digbib/view?rid=sbz-004:2003:129::3864&id=hitlist

TEC21, Fr., 2011.08.26

26. August 2011 Aldo Rota

Im Kanon mit der Struktur

Mit ihrer fast weissen Fassade tritt die neue Universität Luzern von Enzmann + Fischer Architekten aus dem Schatten des Kunst- und Kongresshaus Luzern (KKL). Die expressive Topografie der Hülle hat dem Bau bereits Bezeichnungen von Eiswürfel bis Eierkarton eingetragen. Er hat von beidem etwas und mehr: Er transponiert den Genius Loci des Verpackens in die höhere Sphäre des Origami.

Nach dem Scheitern des Projekts für eine Universität am Kasernenplatz kam der Entscheid der Post, ihr Betriebsgebäude hinter dem Bahnhof bis auf eine Poststelle aufzugeben, wie gerufen (vgl. «Neue Saiten aufziehen», S. 38). Ein Wermutstropfen war indes die undankbare Lage des 1985 von Hans-Peter Amman und Peter Baumann errichteten Baus – demselben Architekturbüro, das auch den Bahnhof Luzern nach dessen Brand projektiert hatte – hinter dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL). Einer Uni einen präsentablen Auftritt zu verpassen, eine Identität zu verleihen, wenn man gleichsam im Hinterhof eines Baus der Superlative steht, mag zwar Bürde, aber doch auch Ansporn sein. Aber auch noch auf der Ostseite des Inseliquais hinter einem Wohn- und Geschäftsbau in der 2. Reihe angesiedelt zu sein, ja an diesen fast andocken zu müssen (Abb. 1, S. 39), ist eine Knacknuss. Das Schicksal akzeptiert und sich Zurückhaltung auferlegt – vielleicht auch aus Respekt gegenüber den ebenfalls ortsansässigen Urhebern – hatten die im Wettbewerb viertrangierten Lussi Halter. Sie schlugen vor, die Fassade lediglich mit neuen Fenstern, einem neuen, glänzenden Anstrich und einer einheitlich weissen Farbgebung zu versehen – eine Veredelung, die der Fassade, die nicht eben ein Wurf der Bahnhofsarchitekten war, etwas viel Ehre gemacht hätte.

Die meisten Teilnehmer zollten denn auch nur dem 11 m weit auskragenden Vordach Respekt und bewahrten das frühe Werk von Santiago Calatrava – auch Enzmann + Fischer, die den Wettbewerb für sich entschieden. (Überdauert hat es den Umbau dann doch nicht.) Mit ihrem Projekt beschieden sie sich nicht mit der Mauerblümchenrolle, sondern versuchten, mit einer fast weissen Fassade aus dem Schatten des KKL zu treten.

Sie akzeptierten in gewisser Weise auch den Part, die zweite Geige zu spielen. Indem sie das Fenster, das auch beim KKL ein Thema ist, zum Dreh- und Angelpunkt des Fassadenentwurfs erkoren, referieren sie auf den Jahrhundertbau, schielen aber auch daran vorbei. Wo Jean Nouvel das Postkartenpanorama nur noch zu rahmen brauchte, mussten Enzmann + Fischer die Aussicht erst einfangen, indem sie die Fenster wie Erker ausbildeten, d.h. wie horizontale Kippflügel ausdrehten.

Fisac, Breuer et al.

Damit definierten Architekt und Architektin gleichzeitig das Gesicht des Baus, denn von diesem Ausdrehen des Fensters ist die Geometrie der Fassadenelemente abgeleitet. Im Wettbewerbsprojekt waren diese noch als Betonfertigteile geplant – in Anlehnung an das 1972 errichtete Hotel «Tres Islas» auf Fuerteventura (Abb. 34) des spanischen Architekten Miguel Fisac (1913 – 2006), dessen Namen sie auch als Codewort verwendeten. Fisacs Bauten zeugen von dessen Experimentierfreude mit dem Material Beton. Er erprobte dessen konstruktives Potenzial und reizte es für die Formgebung aus. Er testete aber nicht nur seine «Stärke», sondern auch die «stofflichen» Qualitäten (Abb. 30). Die Postsäcke, die das Architektenteam vor dem Umbau fotografierte (Abb.6, S. 40), könnte man sich durchaus à la Fisac in Beton gegossen vorstellen.

Positiv-Negativ-Volumina

Die stoffliche Anmutung der Elemente des Fisac-Baus wich allerdings schon im Wettbewerb einer glatten Oberfläche der Fertigteile, sodass man sich an das von Fabio Reinhardt und Bruno Reichlin 1989 auf dem Gemeindegebiet von Monte Carasso an der Autobahnraststätte Bellinzona Sud errichtete Hotel Mövenpick erinnert fühlte (Abb. 29, 31, 32). Bei diesem aber verschattet die Rustika der Fassade, die aus Pyramidenstümpfen aufgebaut ist, die Fenster. Dies wiederum gibt Aufschluss über den ebenfalls im Wettbewerb signalisierten Verweis auf Marcel Breuer (Abb. 35), wo die kastenförmig ausgebildeten Elemente als skulpturale brise-soleil figurieren. Die Beschäftigung mit dem Alternieren zwischen Positivund Negativform blieb nicht an der Fassade hängen, sondern stiess auch zum Kern des Baus vor.

Dass sich Enzmann + Fischer schliesslich mit einer verputzten Fassade beschieden, hatte vorab statische und finanzielle Gründe: Die Betonelemente wären zu schwer und zu teuer gewesen. Ausserdem bot die Haut aus Putzträgerplatten die Möglichkeit, den Verputz fugenlos aufzubringen (vgl. «Improvisation an der Fassade», S. 52).

Bildsynthese: Fels, Diamant, Origami

Das verleiht dem Bau eine papierne Anmutung und rückt ihn in die Nähe eines konkreten Kunstwerks, vor allem in den geschlossenen Bereichen. Unterstrichen wird diese Wirkung durch die fast weisse Farbe des Verputzes. Tatsächlich ist es ein helles Grau, im Sonnenlicht reflektieren die Elemente aber so stark, dass sie blenden und den Bau entrücken, als wäre er ein Trugbild, eine Imagination – oder ein Rendering. Eine interessante Rückkopplung: Nachdem die Architekturfotografie Gebäude zunehmend so in den Fokus nimmt, dass man sie für Visualisierungen halten kann, konterkarieren Enzmann + Fischer diese Tendenz und bauen ein Haus, das zeitweise aussieht wie eine computergenerierte Bildsynthese. Und im wörtlichen Sinn ist die Fassade das auch – eine Synthese aus Bildern, in der sich die abstrahierte Felsformation mit der geschliffenen Oberfläche eines Diamanten und mit einem Origami überlagern – auch eine Referenz an den einstigen Paket- und Briefpostumschlagplatz. Buchstäblich die stärkste Wirkung entfaltet der Bau in den fensterlosen Bereichen (inneres Titelbild, S. 37), wo das Schattenspiel die Fassade in Bewegung versetzt. Die Fassade dynamisiert sich, wenn der Schatten ins Spiel kommt – als wäre sie ein Himmel-und-Hölle-Spiel (Abb. 10).

Stadt im Haus

Der Bestand hatte Qualitäten, die zugleich vorteilhaft und einschränkend waren: das intakte Tragwerk und die Betonwanne im Grundwasser, die zwei unterirdische Geschosse bot. Den grössten Teil des Tragwerks haben die Architekten denn auch übernommen – Geschossdecken, Stützen und die drei vertikalen Erschliessungskerne. Den Rest haben sie zurückgebaut (Abb. 3, 4, 5, S. 39–40). Dominiert wurde das Innere von einem langgestreckten Lichthof, der sich über drei Geschosse erstreckte, sowie von einer Art Zwischengeschoss, das als Galerie ausgebildet war.

Obwohl die Studierendenzahl seit dem ersten Wettbewerb markant zugenommen hat, bot der Bau mit rund 23 000 m² mehr als ausreichend Platz, um das Raumprogramm unterzubringen: ein grosser Hörsaal mit 381 Plätzen, zwei mittlere mit deren 270 sowie vier kleine mit je 112 Plätzen, Bibliothek mit separatem Lesesaal, Seminarräume, Mensa, Küche, Büros für Professoren und Assistenten der rechtswissenschaftlichen, der theologischen und der geisteswissenschaftlichen Fakultät sowie der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz. Um das riesige Volumen aufzubrechen und mithin auch die Orientierung zu erleichtern, haben die Architekten den Bau in einen Ost- und einen Westflügel und in einen Wechsel von Positiv- und Negativvolumina gegliedert.

Je ein Lichthof ist den beiden Trakten einbeschrieben, dazwischen ist die imposante Treppenanlage platziert. Durch die schmaler werdenden Läufe, verjüngt sie sich kaminartig nach oben. Nicht nur optisch erzeugt das eine Sogwirkung, auch funktional ist sie so konzipiert, dass der Rauch im Brandfall schnell nach oben abzieht. Schlüssig ist die pyramidale Form ausserdem, weil sich der Menschenstrom nach oben ausdünnt, sodass die Treppe auch die hierarchische Pyramide abbildet. Die Verjüngung bricht zudem die Geradlinigkeit; je nach Blickwinkel eignet ihr gar etwas Labyrinthisches (inneres Titelbild). Architektin und Architekt konzipierten das Gebäude als Stadt im Haus; mit Wegen, die sich immer wieder zu Plätzen öffnen, mit Höhenunterschieden sowie Vor- und Rücksprüngen – in der Horizontalen ebenso wie in der Vertikalen (Abb. 1–7, 11). So portionierten sie die Massstabslosigkeit des Gebäudes, vermieden endlose, monotone Korridore und schufen stattdessen eine kurzweilige Abfolge von «urbanen» Zonen und intimen Räumen.

Dissonanz als Kunstgriff

Gleichzeitig liessen sich so aber auch Taktverschiebungen integrieren, wie etwa Stützen, die zuweilen «unsinnig» positioniert sind, weil sich das Tragwerk nicht überall mit der Raumgliederung harmonisieren liess. Diese Dissonanzen wurden denn auch geradezu zum pièce de résistance. Die Architekten haben sich diese Sprünge nämlich nutzbar gemacht, um die Haustechnik zu «bändigen». Deren Installationen hätten die ohnehin schon bescheidene Raumhöhe (270 bis 280 cm) in der auf dem ehemaligen Galeriegeschoss eingerichteten Bibliothek noch mehr verringert. Die Architekten erstellten daher einen ausgefeilten Leitungsplan, indem sie u.a. installationsfreie Zonen definierten. Die resultierenden divergierenden Deckenhöhen widerspiegeln sich in den ebenfalls unterschiedlichen Bodenniveaus, die jeweils mit Treppenstufen überbrückt werden. Bewegte Bodentopografie und dynamisierte Deckenlandschaft (Abb. 11) verstärken die Stadt-im-Haus-Komposition.

Veredelung des Rohen

Dieses widerspiegeln auch Farben und Texturen. Die öffentlichen, «städtischen» Bereiche sind silbernfarben gehalten, die «privaten Inseln» weiss. Dem Westflügel ist Olivgrün, dem Osttrakt – komplementär – Bordeaux zugeordnet, orange ist die Mensa. Die silberne Färbung der Holzwolleplatten der abgehängten Decken oder des Betons der Treppe verstärkt den Maschinencharakter, der dem ursprünglichen Bau eignete, gleichzeitig veredelt sie diese industriellen Materialien. Zwischen Noblesse und Rohheit changiert auch die Textur: Die Rillen, die den Beton der Treppenbrüstungen kannelieren, haben dekorativen Charakter, rühren aber von einer Gummimatte, die auf die Schalung montiert wurde (Abb. 27). Ausserdem vollzieht sich eine Verfremdung des Materials: Der Beton mutet elastisch an.

Eigenartig, die Wahrnehmung täuschend, wirkt zudem die Decke im Konferenzraum, deren Verkleidung aus Holzwolleplatten goldfarben gehalten ist. Prätenziöser ist zudem auch die Gestaltung der Gipsständerwände. Während die weiss gestrichenen einen Glattputz aufweisen, wurden die den Farbkanon reflektierenden Wände mit einem groben Strukturputz – rund oder vertikal – negativ abgerieben. Auf die olivgrün/silbernen, bordeaux/silbernen und orange/silbernen Wände wurde der Anstrich zuerst mit der weichen Rolle appliziert, damit die Farbe auch in die Vertiefungen eindrang. Um die jeweilige Zweitfarbe aufzutragen bzw. die monochromen Partien zu streichen, wurden die Wände mit der harten Rolle abgerieben, um nur (noch) die Höhen zu färben.

Im flachen Winkel betrachtet, «verfliesst» die Farbstruktur zur monochromen Farbfläche, in der Frontalsicht hingegen erzeugt sie einen Sgraffito-Effekt und verankert sich in der in Luzern seit dem 16. Jahrhundert währenden Tradition der Fassadenmalerei.

Eine andere, aber ebenso tradierte Art der Stukkatur zeigen die Wände im Erdgeschoss: Sie springt sofort als Adaption der Aussenhülle ins Auge. Es ist eine Rustifizierung, die man eher an einem Renaissancepalast erwarten würde. Hier kommt denn das Mövenpick-Hotel wieder ins Spiel. Für dessen pyramidal ausgebildeten Fassadenelemente war der Palazzo dei Diamanti in Ferrara eine Referenz (Abb. 26, 28). Das Spiel mit Positiv- und Negativvolumen bekommt so eine weitere Potenz. Innen und Aussen könnten vertauscht sein. Zumal die Hülle sich auch mit einem knitternden Kunststoffkleid assoziieren lässt und mithin eher zu einem Innenraum zu passen scheint.

TEC21, Fr., 2011.08.26

26. August 2011 Rahel Hartmann Schweizer

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