Editorial
Die Lebensdauer eines Gebäudes wird in der Regel mit mindestens 50 Jahren veranschlagt – ein Zeithorizont, der denjenigen der darin stattfindenden Nutzungen oftmals bei weitem übersteigt. Besitzt der Bestand jedoch Potenzial und handelt es sich, wie bei den in diesem Heft vorgestellten Projekten, darüber hinaus noch um Bauten des sekundären Sektors, stellt sich die Frage nach der weiteren Nutzung: Eignen sich eine Fabrik oder ein Silo als Wohnung?
Je nachdem. Manchmal liegt die Qualität gerade in der gewachsenen Struktur eines Ensembles, das mit den vielfältigen Bauten, die eine Produktion erfordert – Lagerung, Herstellung, Administration usw. –, ein inspirierendes Umfeld bieten kann. Eine ehemalige Aromafabrik in Zürich Wollishofen konnte durch die Initiative einer privaten Eigentümergemeinschaft zu einem unkonventionellen Mix aus Wohn- und Gewerbeflächen umgebaut werden. Die Heterogenität des ehemaligen Farbikgeländes erwies sich dabei bald als die eigentliche Seele des Projekts («Das Geheimnis der Mischung»). Eine ähnliche Situation fanden auch die Initianten des Musikerhauses in Basel vor: Auf dem Gelände einer Fabrik für Schalter und Steckdosen befand sich eine Vielzahl von Lager- und Produktionsgebäuden. Die hohen Räume und die auf die Bedürfnisse des Unternehmens ausgerichtete Tragstruktur erwiesen sich als prädestiniert für eine Nutzung durch die Musiker: Schallisolierende Elemente konnten ohne statische Ertüchtigung und ohne Verlust beim Komfort eingebaut werden. Die Vielzahl an Strukturen ermöglicht darüber hinaus verschiedene Wohnformen, von der Mansarde über die Wohngemeinschaft bis zum Gästehaus («Durchgespielte Ambivalenz»).
Beim Umbau des Silos der Obermühle in Baar ZG bestand die Herausforderung dagegen neben der Planung vor allem in der Ausführung: Das ehemalige Getreidesilo mit seinen vertikalen Schächten wurde zum Wohnhaus transformiert – dank den Abklärungen der Ingenieure im Vorfeld in Bezug auf Tragstruktur und Brandschutz konnten die architektonische Idee umgesetzt und Teile des Stahlbetonbaus roh belassen werden. Um im engmaschigen Inneren des Silos Raum für die neuen Wohnungen zu schaffen, wurden einzelne Silozellen etappenweise von oben nach unten rückgebaut – zeitlich genau abgestimmt, um die Stabilität des Gebäudes nicht zu gefährden («Wohnen im Silo»).
Die Beispiele zeigen, dass aus Objekten, die sich auf dem konventionellen Immobilienmarkt vielleicht keiner hohen Wertschätzung erfreuen, mit Eigeninitiative und Mut kleine Bijous entstehen können – dies ohne übermässigen Respekt vor dem Bestand, aber mit einem genauen Blick für dessen Qualitäten.
Tina Cieslik
Inhalt
05 WETTBEWERBE
Prix Acier 2011
10 MAGAZIN
Das Geheimnis der Mischung
16 WOHNEN IM SILO
Tina Cieslik, Clementine van Rooden
Das Getreidesilo der Obermühle in Baar wurde zu einem Wohnhaus umgebaut. Die vertikale Struktur der Schächte blieb teilweise erhalten und lässt die ursprüngliche Nutzung spüren.
21 DURCHGESPIELTE AMBIVALENZ
Rahel Hartmann
Schweizer Wohnungen und Übungsräume für Musiker entstanden auf dem Areal einer ehemaligen Elektrofabrik in Basel. Der Entwurf thematisiert die Widersprüchlichkeiten des Konglomerats.
28 SIA
«Umsicht» 2006/2007 – revisited | Zweites «Trottoir» feierlich eröffnet | Fachkongress Waldflächenpolitik
32 WEITERBILDUNG
37 IMPRESSUM
38 VERANSTALTUNGEN
Wohnen Im Silo
Die Obermühle in Baar ist die älteste urkundlich erwähnte Mühle im Kanton Zug (vgl. Kasten). Nachdem der Betrieb 2001 ausgelagert worden war, entwickelten die Architekten von NRS-Team aus Baar einen Gestaltungsplan für das gesamte Areal. Dabei erhielt das 35 m hohe Silo eine neue Nutzung: Wo früher Mehl und Getreide lagerten, befinden sich nach dem zusammen mit Berchtold Eicher Bauingenieure ausgeführten Umbau seit Mitte 2010 Wohnungen und Ateliers. Die Spuren der ursprünglichen Nutzung bleiben erkennbar. Neben dem markanten Siloturm und dem historischen Mühlengebäude besteht das Ensemble aus einem Kleinkraftwerk am Mühlebach, das in die Energieversorgung des neu genutzten Silos mit einbezogen wurde, sowie aus zwei Fabrikantenvillen von 1910. Ausser dem Silo sind alle Gebäude im Inventar der schützenswerten Bauten des Kantons Zug aufgeführt. Dennoch sollte auch dieser Bau erhalten bleiben, als Landmark und um den Ort als historischen Industriestandort aufzuwerten.
Die bestehenden Bauten auf dem Areal zu Wohn- und Büroflächen umzunutzen, lag zwar vor dem Hintergrund des angespannten Wohnungsmarktes im Grossraum Zug auf der Hand, drängte sich jedoch beim Silo aufgrund der vorhandenen Bausubstanz nicht unbedingt auf. Zwar befand sich dieses in gutem Zustand, aber mit seiner vertikalen Ausrichtung, den fensterlosen Fassaden und seinen vergleichsweise kleinräumigen Schächten bietet es auf den ersten Blick nicht die optimale Grundstruktur für zeitgenössisches Wohnen. In einem von der kantonalen Denkmalpflege und dem Zuger Bauingenieurbüro Berchtold Eicher begleiteten Prozess konnte schliesslich mit einer Kombination aus Erhalt des Bestands, Um- und Neubau eine Lösung gefunden werden, die den heutigen Bedürfnissen für Wohnungsbau gerecht wird, aber die ursprüngliche Nutzung erkennbar lässt. Der L-förmige Silobau wurde dafür nordseitig auf einen Rechteckgrundriss zurückgebaut und das im Westen an den Turm anschliessende Mühlengebäude um einen fünfgeschossigen Neubau ergänzt. Westseitig diesem ursprünglichen Kern vorgelagert ist eine 2.20 bis 3 m breite neue Schicht, die sich auch visuell durch die Verwendung von Zinkblech als Fassadenbekleidung von der bestehenden Bausubstanz abhebt (Abb. 1). Diese Erweiterung ermöglichte eine Vergrösserung der Wohnfläche sowie den Einbau von Loggien, die teilweise als vertikale Gärten mit Bäumen bepflanzt sind. Deren versetzte Anordnung bildet eine Art Riss in der Fassade, während sich die im Sichtbeton belassenen und nur durch die notwendigen Fenster ergänzten Nord-, Süd- und Ostfassaden eher verschlossen präsentieren.
Nur für Schwindelfreie
Das Raster der Getreideschächte innerhalb des Silos bestimmte massgeblich die Grundrisse der Wohnungen. Im Nord- und im Südteil lösten die Architekten die Zellenstruktur des 9.60 m × 35.70 m grossen Bestands auf, hier sind jetzt vom 2. bis 9. Obergeschoss jeweils eine Dreieinhalb- und eine Viereinhalbzimmerwohnung untergebracht (Abb. 13). Im Erdgeschoss und im 1. OG befinden sich Atelier,- Gewerbe- und Wohnflächen; Geschoss 10 und 11 verfügen über eine Fünfeinhalbzimmerwohnung sowie drei Viereinhalbzimmerwohnungen (Abb. 14). Der Mittelteil des Silos fungiert bis zum 9. OG als Erschliessungszone, hier liessen die Architekten 12 der ehemals 45 Getreideschächte stehen. Sie erstrecken sich über die Höhe von 25 m und dienen der Vertikalerschliessung mit Lift- und Treppenkernen sowie als Luftraum, der Ausblicke nach draussen erlaubt und die Vertikalität des Baus spüren lässt: Die belassenen Schüttspuren des Getreides entwickeln fast eine Sogwirkung (Abb. S. 15). Darüber hinaus bilden die Schächte eine nicht isolierte Vorzone vor jeder Wohnung und können als Lagerraum genutzt werden, analog zur ursprünglichen Nutzung (Abb. 12).
Tragstruktur genutzt, ersetzt, durchbrochen
Um den Anforderungen an den Komfort und den Ansprüchen des Minergiestandards zu genügen, sind die 23 Wohneinheiten rundherum jeweils mit einer 20 cm starken Innendämmung versehen. Die restlichen Bereiche sind kalt. Die Siloaussenwand umfasst also als kalte Haut zusammen mit dem kalt belassenen, mittleren Siloteil die beiden warmen Wohnbereiche (Abb. 15). Zwischen diesen Kalt- und Warmbereichen ist der Bau konsequent dilatiert, um Zwängungen zu minimieren und Wärmeausdehnungen aufzufangen. Nur punktuell sind die beiden Bereiche mit Chromstahlstäben miteinander verbunden (Abb. 10). Weil in diesen Bereichen mit Kondensatbildung gerechnet werden muss, sind Verbindungselemente mit höherer Korrosionsbeständigkeit nötig. Rechnerisch wirken die beiden Teile nicht zusammen, doch tatsächlich trägt die sehr steife Wabenstruktur des Erschliessungsbereiches zur Aussteifung des gesamten Gebäudes bei.
Getrennt von der mehr als 85 Jahre alten Silotragkonstruktion, trägt das neue Betonskelett aus einzelnen Schotten, Geschossdecken und vorfabrizierten Stützen alle vertikalen und horizontalen Lasten aus dem Wohnbereich in den Baugrund. Die bestehende 80 cm dicke Bodenplatte musste nicht verstärkt werden, da die neuen Tragelemente auf das alte Raster ausgerichtet sind und die Lastbilanz zeigte, dass die neue Nutzung leichter ist als die ursprüngliche.
Die westseitige, jeweils monolithisch mit der bestehenden Tragkonstruktion verbundene Erweiterung für die Loggien erhielt hingegen ein neues Fundament. Um differenzielle Setzungen zu vermeiden, wurde sie gepfählt.
Der Rückbau der filigranen Wabenstruktur im Innern des Silos mit Zellwänden von nur 15 cm Stärke erfolgte etappenweise und nach einem von den Bauingenieuren präzis geplanten und vorbestimmten Schema: Deckenabbruch, Spriessarbeiten, Anbringen von provisorischen Aussteifungen und Abbruch von Zellwänden wechselten sich ab. Zuerst begannen die Arbeiten im nördlichen, dann im mittigen und schliesslich im südlichen Siloteil. Dabei durften die Arbeiten im Silo Nord gegenüber jenen im Silo Mitte aus Stabilitätsgründen nicht mehr als zwei Geschosse Vorlauf haben. Die Betonarbeiten für die Neubaukonstruktionen erfolgten, sobald die Rückbauarbeiten in den betreffenden Schächten abgeschlossen waren.
Für den Brandfall ertüchtigt
Um die Wabenstruktur im Erschliessungskern bewahren und vor allem auch sichtbar belassen zu können, musste sie aufgrund der Nutzungsänderung den Anforderungen des Brandschutzes genügen. Der Treppenkern und das gesamte UG mussten in der neuen Nutzung die Feuerwiderstandsklasse R90 erfüllen und die restlichen Bereiche im EG bis zum 11. OG die Klasse R60. Die Bauingenieure überprüften deshalb die bestehende Betonkonstruktion auf ihren Brandwiderstand. Sie ermittelten die Wandstärken und die Bewehrungsüberdeckungen, indem sie im UG mit einem Profometer und im EG bis zum 4. OG in den Bereichen, wo Türen oder Fenster in die Zellwände gefräst worden waren, mit dem Massstab arbeiteten. Die Wände des Treppenhauses erfüllten die Anforderung R90 nicht – die Bauteilabmessungen und die Bewehrungsüberdeckungen waren kleiner als die erforderlichen 145 mm bzw. 20 mm. Deshalb wurde das Treppenhaus mit einer Vormauerung oder mit einer Betonaufdoppelung ertüchtigt. Die Wände und Stützen im Untergeschoss erfüllten zwar die Anforderung R90 bezüglich der Abmessungen – die Wände waren mindestens 300 mm und die Stützen mindestens 600 mm stark –, die Bewehrungsüberdeckungen waren jedoch geringer als die erforderlichen 19 mm. Die betroffenen Wandbereiche wurden mit Vormauerungen aus Kalksteinmauerwerk, Vorbeton oder mit Brandschutzverkleidungen ertüchtigt. Für die Wände im Erdgeschoss und in allen Obergeschossen mussten hingegen keine Massnahmen getroffen werden, da sie die Anforderung R60 an die Bauteilabmessung mit mindestens 145 mm und an die Bewehrungsüberdeckungen mit minimal 20 mm erfüllen – der gesamte Erschliessungskern darf sich deshalb unbearbeitet und unabgedeckt zeigen.
Für 30 Jahre, für 100 Jahre
Die roh belassenen Betonwände der drei Fassaden und des Erschliessungskerns bewahren den Silocharakter. In den Wohnungen ist es neben der kalten Vorzone vor allem die unverbaute Aussicht, die das ehemalige Silo spüren lässt. Die Innenräume sind unprätentiös mit weiss verputzten Wänden, weiss lasierten Betondecken und industriellem Eichenparkett ausgestattet. Die deutliche Unterscheidung zwischen der Rohheit der Tragstruktur und dem Innenausbau betont die verschiedenen Zeitachsen der Elemente: die Wohneinheiten, die zwar nicht gerade temporär, aber doch reversibel eingebaut sind, und das 85-jährige Tragwerk, das lange Zeit als Silo diente, jetzt Wohnungen beherbergt und in 30 Jahren vielleicht wieder einer ganz neuen Nutzung übergeben wird.TEC21, Fr., 2011.07.29
29. Juli 2011 Tina Cieslik
Durchgespielte Ambivalenz
Einen Steinwurf vom Novartis-Campus in Basel entfernt, im Schatten der Planungen rund um den Lothringerplatz, hält eine Häuserzeile dem Immobiliendruck stand. Die Stiftung Habitat hat sie gekauft, um Musikerinnen und Musikern zahlbaren Wohnraum zu erhalten. Behausung und Arbeitsstätte miteinander zu verbinden, war die Idee beim Umbau der einstigen Fabrik Levy Fils AG, den die Stiftung den Basler Buol & Z ünd Architekten anvertraute. Die Architekten haben den Charakter des Konglomerats bewahrt und dessen Widersprüchlichkeiten gleichermassen funktional unmittelbar nutzbar gemacht wie architektonisch mittelbar adaptiert.
Die Lothringerstrasse kommt vom Sankt-Johanns-Ring, mündet auf den Lothringerplatz und führt danach nur noch als Wurmfortsatz rund 200 Meter weiter. Dieses «dead-end» liegt in unmittelbarer Nähe und doch abseits der Neubauten, die das Gesicht der Gegend in den vergangenen Jahren gestrafft haben: die Wohn- und Geschäftsüberbauungen Volta Mitte, erstellt nach einem Projekt von Christ & Gantenbein, Volta Zentrum von Buchner Bründler Architekten und Volta West, nach den Plänen von Degelo Architekten erbaut.
Der Bau Volta West, der entlang von Volta- und Saint-Louis-Strasse wie eine Agraffe einen neuen Park fasst, stösst auch in diesen Wurmfortsatz vor. Und hier weckt er eher die Assoziation mit einem sich um die Ecke schlängelnden Tier, das sich anschickt, sich auch noch den Rest der Häuserzeile einzuverleiben, was der Strasse eine Dramatik verleiht, die mit der Verträumtheit der Wohnbauten aus den 1920er-Jahren kontrastiert. Das wird dem Ort durchaus gerecht. Denn bis 2004 herrschte hier Betriebsamkeit, als die ABB das Domizil der Levy Fils AG, die Nummer 2 im Schweizer Markt für Schalter und Steckdosen, übernahm und das Familienunternehmen in den Konzern integrierte. Nach dem Auszug der Fabrikation übernahm die Stiftung Habitat das Areal. Es umfasste den eigentlichen Betrieb an der Lothringerstrasse 165 und ein angrenzendes Wohnhaus mit der Nummer 147. Dieses haben Buol & Zünd Architekten bereits 2006 renoviert.
Konglomerat
Die ehemalige Fabrik, erstellt 1885, wies eine heterogene Bebauung auf. Während sich der Baukörper entlang der Lothringerstrasse in die Zeile einfügte, war der Hof nahezu flächendeckend überbaut – mit Gebäuden von industriellem Ausdruck. Ebenso heterogen und nicht eben überragend war die architektonische Qualität. Buol & Zünd konzentrierten sich daher auf diejenigen Bauten, deren Bausubstanz ausreichend war und/oder die formal einen gewissen Anspruch hatten. Ersteres galt für das Werkstattgebäude im Hinterhof, einen Backsteinbau, sowie für das Lager, Letzteres für den Baukörper an der Lothringerstrasse, der Verwaltung und Fabrikationsräume beherbergt hatte und sich auf zurückhaltende Weise repräsentativ zeigte. Mindere Bauten, sowohl von ihrer architektonischen Ausdruckskraft her als auch ihres baulichen Zustands wegen, wurden entfernt.
Die Anlage bot zwei Voraussetzungen, die der geplanten Umnutzung zu einem Haus zuträglich waren, das akustischer Eingriffe bedurfte. Bautechnisch war es die durch die einstige Fabriknutzung stark ausgelegte Struktur, die schallisolierende Einbauten verkraftete. Funktional waren es die mit vier Metern überproportional hohen Räume, die den durch die Akustikmassnahmen bedingten Raumverlust ertrugen. Obwohl oder gerade weil die Bauten nicht eigentlich schützenswert waren, brauchte es eine ausgeklügelte, differenzierte Herangehensweise. Weil die Bebauung eher als Konglomerat denn als Ensemble zu bezeichnen war, liess sich dem Gebäudepark keine Strategie überstülpen, sondern es musste für jeden Bau eine je eigene Eingriffskonzeption ersonnen werden. Dennoch eignet den Bauten nun eine stringente Komposition: eine Klaviatur von Disproportionalität, Zwiespältigkeit und «Aus-den-Fugen-Geratenem».
Lagerhalle: Das Innere nach Aussen gewendet
Der eigentümlichste Bau auf dem Gelände war die Lagerhalle. Obwohl die Entstehung in eine Zeit fiel, da sich Stahlkonstruktionen im Industriebau durchsetzten, handelt es sich um einen Mischbau: eine Holzkonstruktion mit einer massiven Aussenmauer. Ausserdem besass der Bau keine eigentliche Fassade. Bis auf die Tore zur Verladerampe hin gab es keine Öffnungen. Die Halle war ganz auf das Innenleben konzentriert und daraus erklärt sich auch der Holzbau: Gelagert wurden Lampen, Schalter etc. auf Holzgerüsten, die – ihres Inhalts entleert – wie minimalistische, serielle Kunstwerke anmuten (Abb.12). Diese Qualität der Halle haben auch die Architekten entdeckt, als sie den Haufen morschen Holzes aufschichteten und in den Fokus nahmen (Abb.15).
Die Ambivalenz rührte aber auch daher, dass die Holzgerüste, die an die Eingeweide alter Speicher erinnerten, einen heimeligen Eindruck machten, ihrer industriell bedingten grosszügigen Ausmasse wegen aber überdimensioniert wirkten. Konsequenterweise «unentschieden » gebärdete sich auch die Struktur, bestehend aus einem ungerichteten System – einem Stützenraster, der Würfel von 4 × 4 × 4 m beschrieb – und einem gerichteten aus Unterzügen, die ihrerseits wiederum einen Bruch in der Tragrichtung aufwiesen. Im Bereich der Verladerampe wechselte sie von Nordost-Südwest, auf Nordwest-Südost (Abb. 9). Die Architekten konzentrierten sich auf diese Charakteristika, um sie für den Umbau nutzbar zu machen. Um dem Bau das fehlende Gesicht zu erstatten – und mithin auch das Tragwerk, wo nötig, zu ertüchtigen –, bildeten sie die innere Holzstruktur auf der Fassade ab, übertragen auf Betonstützen und -träger sowie diagonalen Stahlstreben (Abb. 7). Den Massstabssprung übertrugen die Architekten auf den Verputz – mit einer gegenüber den üblichen 4 mm auf 8 mm vergröberten Körnung.
Auf das Würfelraster reagierten die Architekten, indem sie die Disposition der Wohnungsgrundrisse annähernd deckungsgleich an ihm ausrichteten. Die Tragrichtung bzw. ihr Wechsel bot sich für die Positionierung verschiedener Wohnungstypen an: Auf der Südwestseite Maisonettewohnungen, auf der Nordwestseite Wohngemeinschaften. Zupass kam dieser Gliederung ausserdem, dass die Fläche der Halle im Bereich der Wohngemeinschaften nahezu quadratisch war, bei den Maisonettewohnungen dagegen lang gestreckt. Fast auf der Hand lag es schliesslich, im Südwesttrakt mit seiner «Dreischiffigkeit» im mittleren «Schiff» einen Erschliessungskorridor einzuschneiden. An dieser Stelle hatten sich einst die Umlademöglichkeiten befunden, betrieben zunächst mit einem Handaufzug bevor ein elektrischer Lift eingebaut worden war. Die Architekten haben für den schmalen Hof also die Struktur da entfernt, wo sie ohnehin schon schwach bestückt bzw. von minderer baulicher Qualität war.
Vertikale und horizontale Verbindungen
Wieder begegnet einem das Widersprüchliche, das Komplementäre, das Gegensätzliche, das Hybride: Der Gebäudeteil mit den Maisonettewohnungen gleicht einer Mischung aus Reihenhaus und Hofrandbebauung. Komplementär sind die Gemeinschaftswohnungen. Buol & Zünd haben nicht versucht, die untere Wohnung zu lichten, sondern ihr den «geerdeten », eher verschlossenen, in sich gekehrten Charakter gelassen. Ja, sie haben den Eindruck des Refugiums gar noch verstärkt, indem sie den Boden mit rotbraunen Naturasphaltplatten belegten – eine Referenz ausserdem an die einstige industrielle Nutzung. Nicht nur die von der Beimengung von Eisenoxid herrührende warme Tönung signalisiert den Übergang von der industriellen zur Wohnnutzung, hybrid ist das Material auch, weil es sowohl aus organischen (Bitumen) als auch aus anorganischen (Gesteinskörner) Komponenten besteht sowie weicher ist als Stein, aber härter als Holz. Durch die Gemeinschaftszone der oberen Wohnung hingegen weht eine luftigere Atmosphäre, sie bekommt zusätzliche Helligkeit über ein zenitales Oberlicht, und leichter ist auch der Bodenbelag aus Lärchenparkett. Gemeinsam ist den beiden Wohnungen ein Binnentreppenhaus im Vorraum, über das sie bei Bedarf miteinander verbunden werden können. Diese Stiege irritiert. Sie wirkt gleichzeitig gequetscht und schwungvoll. Tatsächlich mussten die Architekten sie auf den begrenzten Platz «zurechtstutzen», im Gegenzug haben sie einen verdreht wirkenden, auf- und abschwingenden Handlauf entworfen, der erscheint, als habe sich das Holz unter der Einzwängung verworfen. Sie haben gleichsam in dieser Treppe auf engstem Raum den Charakter des Hauses, seine Disproportionalität, verdichtet (Abb. 3). Ähnliches gilt für die Gestaltung der die Wohnungen zum Treppenhaus hin abschliessenden Glaswände als Sichtschutz. Das wie punktiert wirkende Dekor löst sich bei näherer Betrachtung in ein Ornament aus ineinander verschlungenen Kreisen auf. Das Motiv leitet sich aus einem Drahtzaun ab und hätte entsprechend auch nicht «eingraviert», d.h. geätzt, sondern als Metallnetz hinterlegt werden sollen, was aber einen zu kerkerhaften Effekt gehabt hätte. Daher fokussierten die Architekten auf die konstruktive Komponente eines solchen Netzes, auf die Verschränkungen eben, die sie vergrösserten und abstrahierten.
Rückwärtiger Bau – Von der Irritation zur Paradoxie
Paradox mutet die auf einen begrünten Hof orientierte Nordwestfassade des WG-Trakts an (Abb. 6): Die Fassade des Obergeschosses scheint schwer auf der des Erdgeschosses zu lasten, ist sie doch als massive Wand ausgebildet, während die untere aus Holz wie eine leichte Innenwand wirkt. Die Fassadenflucht des Obergeschosses entspricht der Position der Aussenwand des ehemaligen Hallenkörpers und wurde entsprechend wieder als Massivwand ausgebildet. Diejenige des Erdgeschosses dagegen haben die Architekten konzeptionell als Innenwand behandelt. Denn im Bereich der Umfriedung war die Halle ursprünglich nur eingeschossig – noch erkennbar an der Höhe der hinteren Mauer. Sie war einst die Aussenwand und soll weiterhin als solche wahrgenommen werden, sodass der Hof als grünes Zimmer figuriert. Analog gingen die Architekten bei den übrigen Fassaden vor. Die Südwestseite ist wie beim ursprünglichen Bau über beide Geschosse als massive Wand ausgebildet. Die einander gegenüberliegenden, den Hofkorridor flankierenden Glasfassaden des Maisonettetrakts haben optisch wiederum die Leichtigkeit von Innenwänden – unterstrichen durch die Verwendung desselben «Drahtzaun»-Musters, mit dem auch bei den eigentlichen Innenwänden die Transparenz durch den Sichtschutz gedämpft wird (Abb. 4). Dessen bedarf es hier, obwohl zum Hof hin die öffentlicheren Räume – Treppenhäuser, Musikzimmer und Wohnhalle – orientiert sind, rücken die Nachbarn doch wegen der Enge des Hofs einander in ungewohnte Nähe.
Repräsentationsbau – sublimierter Zwiespalt
Das Aushalten des Zwiespalts bzw. seine Sublimation ist auch das Thema beim repräsentativen Zeilenbau entlang der Lothringerstrasse. Denn dem Leichtbau wurde mit den als Raum-im-Raum konzipierten akustischen Einbauten eine konterkarierende Massivität verliehen (vgl. Kasten S. 24). Analog hingegen zur ursprünglichen Nutzung als Verwaltungs- und Fabrikationsort beherbergt der Zeilenbau neben Wohnungen auch Räume von öffentlichem Charakter – Gästezimmer – sowie Arbeitsstätten – vier Übungsräume und ein Tonstudio. Letztere befinden sich im Erdgeschoss. Zwei der Übungsräume sind fix vermietet, die andern beiden sowie das Tonstudio können temporär und auch von Externen genutzt werden, sodass nicht nur Musikerinnen und Musiker, die im Haus wohnen, üben können, sondern auch gemeinsame Proben möglich sind.
Im ersten Obergeschoss wurden Gästezimmer eingebaut, das zweite Obergeschoss beherbergt wiederum Wohnungen: Je höher man steigt, desto privater wird es. Während der Ausbau der Wohnungen dem Standard der Maisonettewohnungen im Hinterhaus entspricht, sind die Gästezimmer etwas einfacher ausgestattet. Auf die temporäre Nutzung ausgerichtet, wurden leichtere Materialien verwendet: Linoleum für die Böden, im selben Farbton allerdings wie die Asphaltplatten der Gemeinschaftswohnungen, und ein nur 3 mm starkes Glasmosaik als Wand- und Bodenverkleidung der Sanitärzelle anstelle der Steinzeugplatten in den Wohnungen.
In doppeltem Sinn kommt hier auch das Raum-im-Raum-Konzept zum Zug. Die Architekten haben die dienenden Funktionen in ein grosses Einbaumöbel gepackt, das ausserdem schallabsorbierend wirkt (Abb. 13, 14). Integriert in dieses Möbel ist die als Galerie ausgebildete Schlafkoje, deren Holzgerüst an die ehemaligen Holzgestelle in der Lagerhalle erinnert. Und gedacht sind die Kojen auch, um sich todmüde aufs Lager sinken zu lassen.TEC21, Fr., 2011.07.29
29. Juli 2011 Rahel Hartmann Schweizer