Editorial

Schluss mit Zwischenstädten

Das Glattal gilt seit 15 Jahren als Exempel der Zersiedelung. ‹‹Hybridlandschaft›› und ‹‹urbanes Konglomerat ›› geistern als Euphemismen dafür herum. Schluss!, ruft eine Gruppe Zürcher Architekten und plant im Glattal eine Grossstadt. Hochparterre stellt den Entwurf erstmals vor und kommentiert ihn. Am 31. Januar erläutert das Krokodil — EM2N, Pool Architekten, Roger Boltshauser und Frank Zierau — im Glattzentrum sein Projekt. Anschliessend laden wir zur Podiumsdiskussion. Alle Informationen zu diesem Städtebau-Stammtisch lesen Sie nebenan und am Schluss der Titelgeschichte. 2008 lobte die ETH Zürich sich selbst für ihr Forschungsgebäude HIT: Minergie-Eco und Avantgarde der Beleuchtungseffizienz. Jetzt stellen nachrechnende Experten fest: Das Haus frisst doppelt so viel Beleuchtungsstrom wie geplant und erfüllt die Minergie-Anforderungen nicht. Hanspeter Guggenbühl hat die brisante Geschichte für Hochparterre recherchiert. Energie und ETH sind auch das Thema der ‹‹Meinungen››: Wir beurteilen den Wirbel um ‹‹Zero-Emissions Architecture››, das Energie-Konzept von ETH-Professor Hansjörg Leibundgut, das die Architekten aus der ‹‹Isolationshaft›› befreien soll. In der Designrubrik ‹‹Siebensachen›› würdigt Meret Ernst jeden Monat kritisch-charmant drei Gegenstände. Die Fotografien dazu müssen die Objekte deuten und sich von Werbebildern abheben. Diese Aufgabe packt 2011 die Fotografin Isabel Truniger an. Zum ersten Mal wird im Rahmen der Swiss Photo Awards ein Preis für Architekturfotografie verliehen — ausgerichtet von Hochparterre und world-architects.com. Wir freuen uns auf die Preisverleihung am 20. Mai in Zürich und wünschen Ihnen aufschlussreiche Januarlektüre.
Rahel Marti

Inhalt

06 Meinungen
07 Lautsprecher
08 Funde
11 Sitten und Bräuche
17 Massarbeit

Titelgeschichte
18 Mehr Stadt an der Glatt
Sie nennen sich das Krokodil: Eine Gruppe junger BSA-Architekten macht das Glattal zur Grossstadt. Ein Plan zur Verdichtung.

Design
28 Wissen was geht: Hochparterre.ch
Hochparterre stellt seine neue Webseite, das neue Schweizer Nachrichtenportal für Architekten und Designerinnen, vor.

Architektur
30 Kultur im Ringdepot
Die St. Galler Lokremise erstrahlt für neue Nutzer im alten Glanz.

Energie
36 Vorzeigebau ist keine Leuchte
Ein Minergie-Gebäude der ETH Zürich hält nicht, was es verspricht.

Design
38 Alles unter Kontrolle
Blick auf die Carbon-Produktion des Veloherstellers BMC mit Nose.

Architektur
42 Umbau in Moskau
Ein Vorgeschmack auf Hochparterres Reise nach Moskau.

Architektur
44 S AM wieder auf Kurs
Die Direktion des Architekturmuseum Basel im Interview.

Architektur
48 Eine Eigene Natürlichkeit
Der Tendenza-Erfinder Steinmann erklärt ein Schulhaus im Tessin.

Design
52 Design-Piraten
Erfinderrecht und Ideenklau am Beispiel des Rollkoffers.

56 Leute
58 Siebensachen
60 Bücher
62 Fin de Chantier
68 Raumtraum

Vorzeigebau ist keine Leuchte

Das Minergie-Eco-Lehr und Forschungsgebäude der ETH Zürich auf dem Hönggerberg frisst doppelt so viel Beleuchtungsstrom wie geplant. Das Label hält nicht, was es verspricht.

‹‹Science City wird ein Leuchtturm der Nachhaltigkeit ››, prophezeite Walter Steinmann, Direktor des Bundesamtes für Energie, 2007 an einer Medienorientierung der ETH. “Science City ist ein Leuchtturm der Nachhaltigkeit››, bekräftigte drei Jahre später dessen Projektleiter David Müller. Der erste Bau des neuen ETH-Campus Science City auf dem Hönggerberg in Zürich wurde im Oktober 2008 eingeweiht und 2010 mit dem österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Es handelt sich um das “Information Science Laboratory››, kurz ‹‹Gebäude HIT›› genannt siehe HP 5 / 09.

Das 68 Millionen Franken teure Gebäude bietet Raum für 700 Arbeits- und Forschungsplätze und ‹‹gehört zu den innovativsten in Europa››, lobte die ETH am Einweihungstag und fuhr fort: ‹‹Es wurde nach zukunftsgerichteten Energie-, Betriebs- und Umweltkonzepten gebaut und erfüllt den Minergie-Eco-Standard.›› Das neue Gebäude erhielt das Minergie-Eco-Label schon vor der Eröffnung, im August 2008. Die Tafel prangt heute in der Eingangshalle des von den Architekten Baumschlager und Eberle geplanten Vorzeigebaus. Zertifizierungsstelle für den Kanton Zürich ist die kantonale Baudirektion.

Minergie-Eco bürgt nicht nur für tiefen Energieverbrauch. Obendrein muss das damit ausgezeichnete Objekt auch bau ökologische Kriterien erfüllen und für gute Gesundheit sorgen. Dazu gehört eine optimale Tageslichtnutzung sowie eine gute und sparsame künstliche Beleuchtung. Der zulässige Energieverbrauch (Energiekennzahl) für Beleuchtung beträgt bei diesem Gebäude 10,3 Kilowattstunden pro Quadratmeter Energienutzungsfläche und Jahr (kWh / m2 / a). Dieser Wert werde haargenau eingehalten. Das jedenfalls ergab der Energienachweis, den die Walliser Firma Lauber Iwisa, zuständig für die Haustechnik im Neubau, im Mai 2006 ablieferte.

Doppelt so viel Lichtstrom

In der Regel vertraut der Verein Minergie dem Energienachweis, der auf Planungsdaten beruht. Nur in wenigen Fällen ordnet er später Strichproben an, unter anderem beim Gebäude HIT. Der Befund dieser Kontrolle, welche die Beleuchtungs-Experten Stefan Gasser (Eteam) und Daniel Tschudy (Amstein Walthert) am 9. Juni 2009 im Beisein von je einem Vertreter der ETH und des Vereins Minergie durchführten, trübte den vorauseilenden Werbeglanz. Punkto Licht ist das HIT-Gebäude keine Leuchte, es verbraucht doppelt so viel Strom wie vorgegeben:

– Im Seminarraum und in einem Teil der Büros reicht die Lichtleistung nicht, um die verlangte Helligkeit zu erreichen. Folge: Etliche Nutzer ergänzen das eingebaute Licht mit — im Energienachweis nicht vorgesehenen — Tischlampen. Ein Augenschein im Dezember 2010 zeigte, dass eine Reihe dieser Tischlampen mit stromfressenden 60-Watt-Glühlampen bestückt sind.

– Die Tageslicht-Nutzung, die im Nachweis als sehr gut deklariert wird, beurteilten die Kontrolleure als mittelmässig, was mehr Kunstlicht erfordert. Den Blendschutz qualifizierten sie als minderwertig. Stoffrollos vermindern die Nutzung des Tageslichts zusätzlich und erhöhen wiederum den Lichtstromverbrauch.

– In Toiletten war die installierte Leistung der Beleuchtung um 150 Prozent höher, als der Energienachweis angab. In Korridoren entsprach die installierte Leistung dem Nachweis, doch zum Teil wurden andere als die angegebenen Leuchten eingebaut.

– Die Lichtsteuerung funktionierte in vielen Räumen nicht oder war falsch eingestellt. Seinen Befund fasst Stefan Gasser folgendermassen zusammen: ‹‹Minergie heisst mehr Komfort mit weniger Energie. Im HIT-Gebäude trifft das Gegenteil zu: weniger Komfort mit mehr Energie.›› Aufgrund ihrer Bestandesaufnahme errechneten die Kontrolleure für die Beleuchtung eine Energiekennzahl von 20 kWh / m2 / a. Dieser Wert ist annähernd doppelt so hoch wie der Minergie- Grenzwert von 10,3 kWh / m2 / a. Statt 164 000 kWh verschlingt die Beleuchtung laut Rechnung des Kontrollberichts 326 000 kWh Strom pro Jahr.

ETH will nachbessern

Daniel Emmenegger, Projektleiter der ETH, und Matthias Sulzer von der Lauber Iwisa, die den Energienachweis verfasste, bestätigen gegenüber Hochparterre einige der beschriebenen Mängel: Die Beleuchtung in einem Teil der Büros sei tatsächlich ungenügend. Das rühre daher, dass die Büros vorübergehend anders eingeteilt sind, als geplant war. ‹‹Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass sich die Anforderungen beim Bau und vor allem bei der Nutzung eines Gebäudes ändern. Diesem Umstand können Labels, die allein auf Planungswerten basieren, zu wenig Rechnung tragen››, kommentiert Architekt Dietmar Eberle.

Laut dem ETH-Projektleiter Emmenegger ist ein Programm zur Optimierung der Beleuchtung in der Zwischenzeit eingeleitet worden und werde 2011 umgesetzt. Dabei gehe es in erster Linie darum, die Lichtsteuerung überall zu optimieren. In Seminarräumen soll die Beleuchtung nachgerüstet werden. Bei einem für flexible Nutzung konzipierten Gebäude ‹‹muss bei der Haustechnik eben Lehrgeld bezahlt werden››, begründet Emmenegger. Die anfallenden Kosten beziffert er auf 70 000 bis 80 000 Franken. Damit sollte es möglich sein, die Anforderungen von Minergie- Eco nachträglich zu erfüllen.

Diese optimistische Einschätzung stellt Stefan Gasser, Lichtexperte und Verfasser des Kontrollberichts, in Frage: ‹‹Die Lichtplanung ging von Anfang an von falschen Voraussetzungen aus.›› So sei die Tageslichtnutzung massiv überschätzt worden. Zudem widerspreche die fixe und schematische Platzierung der Leuchten der angestrebten flexiblen Nutzung. ‹‹Solch grundlegende Planungsfehler lassen sich mit Anpassung der Steuerung kaum genügend korrigieren››, folgert er. Nach der Optimierung soll die Beleuchtung einer erneuten Minergie-Kontrolle unterzogen werden. Dann wird sich zeigen, wer Recht hat. Hochparterre wird darüber berichten.

Bei Minergie kein Einzelfall

Fest steht: Die ETH wirbt seit zweieinhalb Jahren mit einem Minergie-Eco-Zertifikat, das ihr Gebäude nicht erfüllt. Der Kontrollbericht, der das belegt, liegt seit anderthalb Jahren bei Christoph Gmür, der innerhalb der Zürcher Baudirektion für die Minergie-Zertifizierung zuständig ist. Gmür plante zwar eine Sitzung, um die Differenzen zu klären, doch diese fand nie statt. ‹‹Weil der Fall umstritten war››, sagt Gmür, habe er das Dossier vor einem Jahr an den Geschäftsführer von Minergie, Franz Beyeler, weitergereicht. Gegenüber Hochparterre erklärt Beyeler: ‹‹Den Vorwurf, dass ich das Dossier liegen liess, nehme ich auf mich.››

Dass Minergie-Zertifikate nicht halten, was sie versprechen, ist offenbar kein Einzelfall. So haben die Lichtexperten Gasser und Tschudy die Energiekennzahl Beleuchtung von sechs Bauten überprüft, die mit dem Minergie-Label ausgezeichnet wurden. Resultat: Nicht nur beim ETH Gebäude HIT, auch in drei weiteren Fällen wurde die zulässige Energiekennzahl Beleuchtung deutlich verfehlt: Beim Ikea-Bürohaus in Pratteln, bei einer Schule in Wil / SG und nicht zuletzt beim Neubau des Medienzentrums Maihof in Luzern. Hier war die ermittelte Energiekennzahl Licht dreimal so hoch wie der Grenzwert, nur weil die Lichtsteuerung falsch eingestellt war. Dank Kontrolle ist dieser Fehler behoben worden. Energiekennzahlen Kantonale Vorschriften und die strengeren Normen von Minergie orientieren sich an der Energiekennzahl (Jahresverbrauch pro m2 Energiebezugsfläche). Bei Wohngebäuden wird nur der Verbrauch für Wärme (Heizung und Warmwasser) erfasst und vorgeschrieben, bei Nutzbauten zusätzlich der Stromverbrauch für die Beleuchtung.

Kommentar Mehr als nur eine Blamage

Geht es darum, die beste Technik zu propagieren, lehnen sich ETH-Vertreter weit aus dem Fenster. In dem die Architekturabteilung die ‹‹Zero-Emission Architecture›› propagiert, provoziert sie einen Richtungskampf mit den Kantonen und dem Verein Minergie siehe Meinungen Seite 6. Andererseits schmückt die ETH ihre Leuchtturm-Bauten gerne mit dem Label Minergie. Im Fall des HIT-Gebäudes entpuppt sich dieses Zertifikat jetzt als Etikettenschwindel. Das ist eine Blamage, sowohl für die ETH als auch für den Label-Verkäufer Minergie.

Doch es geht um mehr. Der hier beschriebene Fall illustriert drei grundlegende Probleme: Erstens: Die Ergebnisse halten vielfach nicht, was gross publizierte Prognosen, Ankündigungen oder Planungen versprechen. Das rührt daher, dass planerische Vorgaben nicht richtig vollzogen werden. Zudem bleiben viele Resultate mangels Kontrollen im Dunkeln. Zweitens: Ökonomische Erwägungen — von der Senkung der Baukosten bis zum Ertrag aus dem Label-Verkauf — haben Vorrang gegenüber Qualität und Qualitätskontrolle. Deshalb ist es un- verständlich, dass Kantone Gebäu- de mit Minergie zertifizieren, bevor die Bauten in Betrieb stehen und erste Resultate vorliegen. Drittens: Technik ist störungsanfällig und ihre Wirkung wird überschätzt. Darum ist es falsch, zu glauben, die Haustechnik werde es schon richten, wenn Architektinnen und Bauingenieure bei der Planung den haushälterischen Umgang mit Energie und anderen Ressourcen vernachlässigen.

hochparterre, Di., 2011.01.18

18. Januar 2011 Hanspeter Guggenbühl



verknüpfte Bauwerke
e-science Lab ETHZ

S AM wieder auf Kurs

Das Architekturmuseum Basel hat die Schulden getilgt. Parallel zur neuen Ausstellung sagt die Direktion, wohin die Reise geht.

Wie geht es dem S AM ein Jahr nach der Krise?
Sandra Luzia Schafroth: Es geht uns gut. Wir sind zwar noch immer in der Konsolidierung und diese wird auch nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein. Aber die Schulden sind bereinigt. Unser Jahresbudget wurde bis auf Weiteres auf 680 000 Franken angepasst — gegenüber 1,1 Millionen Franken vor der Krise. Das ist zwar ein kleines Budget, dafür ist es bis Ende 2011 gesichert. Projektbezogen versuchen wir, laufend zusätzliche Einnahmen zu generieren; 2010 gelang uns dies in der Höhe von rund 200 000 Franken.

Heisst «Schulden bereinigt», dass das Museum alle offenen Rechungen, insgesamt rund 800 000 Franken bezahlen konnte? Sandra Luzia Schafroth: Ja, wir haben keine offenen Rechnungen aus Altlasten mehr. Wir konnten mit jedem der rund 200 Gläubiger einzelne Vereinbarungen treffen und wir freuen uns, dass wir mit allen Lieferanten auch in Zukunft weiterarbeiten können. Wir konnten Schritt für Schritt die Schuldlast abtragen. Einige Gläubiger haben sogar auf Teile ihrer Forderungen verzichtet. Dank der finanziellen Unterstützung von Stiftungen, privaten Gönnern, einigen Ingenieur- und Architekturbüros, dem SIA (mit einem zinslosen Darlehen von 100 000 Franken) und dem BSA konnten die Rechnungen beglichen werden. Während und besonders nun, nach der Krise, erfuhren wir eine grosse Solidarität aus der ganzen Schweiz, viele Architektur- und Ingenieurbüros, aber auch Kunst- und Kulturinstitutionen, Firmen und Private haben das S AM unterstützt.

Welche neuen Geldgeber sind dazugekommen?
Hubertus Adam: Seit Sommer 2010 bezahlt der Kanton Basel Stadt jährlich 80 000 Franken ans Budget. Mit dem Bund sind wir noch in Verhandlung. Wir glauben aber fest, dass er Architekturvermittlung mehr fördern sollte, weil Architektur ein wichtiger Faktor für die Aussen-, aber auch Innenwahrnehmung der Schweiz ist.

Wie steht es um die Sponsoren?
Sandra Luzia Schafroth: Neue Sponsoren sind seit der Krise noch nicht dazu gekommen, wir haben aber projektbezogen doch einige gewinnen können und unsere aktuellen Gespräche etwa mit Vertretern der Bauindustrie lassen uns hoffen. Die Unsicherheit, die durch die Krise auf Sponsorenseite entstanden ist, ist verständlich, trotzdem ist niemand abgesprungen. Wir sind überzeugt, dass wir das Vertrauen wieder gewinnen können oder sogar bereits wieder gewonnen haben.

Wie viele Ausstellungen pro Jahr sollen mit dem knappen Budget von 680 000 Franken zu sehen sein?
Hubertus Adam: Drei, eine davon eine Eigenproduktion. Was aber nicht heisst, dass Übernahmen weniger kosten und keine Arbeit bedeuten: Fremde Ausstellungen müssen an unsere Räume und auch ans Schweizer Publikum angepasst werden. Je nach Ausstellung ist der Aufwand grösser oder kleiner.

Francesca Ferguson hat 2009 das Museum verlassen. Wieso ist so viel Zeit vergangen, bis eine neue künstlerische Leitung eingesetzt wurde?
Sandra Luzia Schafroth: Das Museum war unter mir inhaltlich keineswegs führungslos, zudem hat mich der künstlerische Beirat stark unterstützt. Wir konnten nach der Sanierung bereits ab Januar 2010 mit einem neuen Programm beginnen — die «Environments-and-counter-Environments»-Ausstellung war ein voller Erfolg und auch die Gesprächsreihe «expanding museum » war gut besucht. Wir mussten in dieser Zeit aber Prioritäten setzen: Die Konsolidierung war vordringlicher. Erst als wir sahen, wie es weitergehen könnte, als die ersten Budgets fixiert und angepasst waren, die erste neue Ausstellung lief und wir viele Gespräche geführt hatten, haben wir dem Stiftungsrat die aktuelle Lösung einer Co-Leitung von «Artistic Director» und «Managing Director» vorgeschlagen. In unseren Augen ging das so schnell wie möglich.

Wieso wurde die Stelle nicht ausgeschrieben?
Sandra Luzia Schafroth: Bevor das Museum nicht wieder einigermassen auf Kurs ist, ist eine Ausschreibung unrealistisch. Die Konsolidierung wird noch einige Zeit dauern. Hubertus Adam ist als künstlerischer Leiter mindestens bis Ende 2012 tätig, dann soll die Stelle international ausgeschrieben werden. Hubertus Adam: In der aktuellen Konsolidierungsphase sind die Aufgaben des Managing Directors vordringlich. Wir sind zwar auf gutem Weg, aber es gibt noch so viel zu tun in diesem Bereich. Zukünftiges Ziel ist ganz klar eine Co-Leitung, bei der die künstlerische und administrative Direktion hinsichtlich der Stellenprozente paritätisch besetzt sind.

Mehr Schweizbezug

Als künstlerischer Leiter haben Sie nicht nur die Aufgabe, das Museum mit Ausstellungen und Debatten zu bespielen, sondern auch die Institution zu profilieren und zu positionieren. Wohin soll die Reise gehen?
Hubertus Adam: Wir wollen das S im S AM wieder stärken, ohne dass sich das Museum, im Sinne einer Nabelschau, nur um die Schweiz kümmert. Mit «grenzüberschreitenden» Ausstellungen wollen wir versuchen, das Museum gegenüber anderen Disziplinen zu öffnen und die Zusammenarbeit — bei der aktuellen Viebrock-Ausstellung etwa mit dem Theater Basel und der Nationalbibliothek Bern — mit anderen Institutionen zu fördern. Damit wollen wir neben Architektinnen und Architekten ein erweitertes, kulturell und an Gestaltungsfragen interessiertes Publikum ansprechen. Wichtige Rolle werden auch Debatten spielen, das heisst, wir wollen nicht nur Ausstellungen organisieren, sondern den Diskurs direkt mit dem Publikum führen.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Hubertus Adam: 2011 werden wir die Ausstellung des Brückenbauers Jürg Conzett aus dem Schweizer Pavillon der Architekturbiennale Venedig 2010 übernehmen. Danach zeigen wir voraussichtlich «Architektur, wie sie im Buche steht», eine Ausstellung des Architekturmuseums der TU München, die wir für die Schweiz adaptieren. Ende 2011 wird eine Ausstellung zur Schweizer Architektur im Ausland zu sehen sein. Im Vordergrund steht dabei die Frage, welche Büros mit welchen Strategien im Ausland erfolgreich sind. 2012 organisieren wir dann eine Ausstellung zum Thema «Architektur und Biologie». Darin wollen wir aufzeigen, was biologische Forschung mit der Entwurfsgenese in der Architektur zu hat.

Das S AM nennt sich Museum, funktioniert aber wie eine Kunsthalle. Wie steht es um das Thema Sammeln?
Hubertus Adam: Wir wollen und können aufgrund mangelnder räumlicher und personeller Ressourcen nicht zu Institutionen, die archivieren, inventarisieren und konservieren, in Konkurrenz treten. Es gibt zwar diesen Ast im S AM — das Museum besitzt Nachlässe —, aber uns fehlten bislang die Kapazitäten für die Aufarbeitung. Wenn schon «Forschung und Dokumentation », könnten wir uns vorstellen, das Thema «oral history» zu besetzen. Mit der Dokumentation von Interviews und Befragungen von Architekten liesse sich mit vergleichsweise einfachen Mitteln ein Kompetenzzentrum aufbauen. Sandra Luzia Schafroth: Uns fehlt letztlich auch eine Art Kabinett, in welchem man zeitlich flexibel gute Studioausstellungen zeigen könnte. Unsere vier Ausstellungssäle sind kaum einzeln bespielbar.

Selbst wenn wir einen Vortrag veranstalten, müssen wir auf auswärtige Räume ausweichen. Das ist immer ein zusätzlicher finanzieller und personeller Aufwand.

Wie steht es jetzt um eure Publikationen?
Hubertus Adam: Die Katalogreihe mit dem Christoph Merian Verlag wird bei eigenen Ausstellungen fortgeführt — am 21. Januar erscheint anlässlich der Museumsnacht der Katalog zur Anna-Viebrock-Ausstellung. Zu jeder Ausstellung erscheint überdies eine Zeitung mit Grundinformationen für die Besucher und einem Überblick über die aktuellen Aktivitäten des S AM. Beide Publikationen sind deutsch / englisch und, sofern es das Budget erlaubt, auch französisch.

Wenn Sie das S AM zwischen Architekturinstitut, Museum, Kunsthalle und Forum positionieren müssten, wo käme es zu liegen?
Hubertus Adam: Wir wollen ein Kompetenzzentrum für Architektur sein. Das S AM hat darum Kunsthallencharakter mit Forumsaspekten. Weil aber nicht alle Besucher Architekten sind und viele aus dem Ausland kommen, bieten wir auch ein niederschwelliges Angebot an, etwa Architekturführungen. Trotzdem nennen wir uns Museum— vielleicht sind wir eine neue Art eines Museums. Unsere Exponate stehen auch in Basel, der Region, der Schweiz und darüber hinaus.


Wie definieren Sie ihr Zielpublikum?
Hubertus Adam: Unser Stammpublikum sind Architekten oder Menschen aus architekturnahen Bereichen, aber auch solche, die an Kultur im weitesten Sinne interessiert sind. Sandra Luzia Schafroth: Die Besucher sind national und international. Besonders während der Art Basel, der Swissbau und der Uhren- und Schmuckmesse haben wir Besucher aus aller Welt. Viele Reisegruppen machen auf ihrer Schweiztour gezielt im Museum Halt.

Ihr Stammpublikum ist aber klar schweizerisch. Wie sieht es mit dem Schweizanspruch aus?
Hubertus Adam: Wie gesagt, wir wollen das S im S AM stärken, ohne in einen Provinzialismus zu verfallen. Als Schweizerisches Architekturmuseum sehen wir unsere Aufgabe darin, das hiesige Bau- und Planungsgeschehen zu präsentieren und zu reflektieren. Daneben bedeutet das S auch, dem Schweizer Publikum zu zeigen, was anderswo geschieht und erprobt wird.

Macht es Sinn, dass die Person, die das Museum nun inhaltlich positioniert und entwickelt, nachher ihren Sessel für jemand anderes frei macht?
Hubertus Adam: Ich fülle das Museum programmatisch mit Inhalten, bis wir und der Stiftungsrat genauer wissen, was und wohin das S AM will. Die Strategie, die wir entwickeln, muss aber klar Spielräume beinhalten. Meine Aufgabe ist es, unter den gegebenen Rahmenbedingungen sinnvolle Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Kommentar Gelungener Warmstart

Das S AM ist schuldenfrei. Eineinhalb Jahre nachdem bekannt wurde, dass ein 800 000 Franken schwerer Schuldenberg das Museum zu erdrücken drohte, sind die Verantwortlichen mit den rund 200 Gläubigern ins Reine gekommen. Chapeau! Das ist wohl das schönste Weihnachtsgeschenk, das sich das Architekturmuseum 2010 machen konnte. Und es ist die wichtigste Voraussetzung für den Neustart, den das um Hubertus Adam erweiterte operative Team nun nach der Krise hinlegen muss und will. Der neue künstlerische Leiter ist insofern ein Glücksfall, indem er bereits als Kurator und Beirat einen Fuss im Museum hatte und andererseits ein versierter Kenner der Schweizer, aber auch internationalen Szene ist. Sein Anspruch, das Museum neu entlang der Schnittstellen der Architektur zu anderen Disziplinen zu bewegen, lässt hoffen. Mit solchen «grenzüberschreitenden » Ausstellungen können neue Besucher angesprochen und andere Institutionen zu Zusammenarbeiten motiviert werden. Trotzdem: Offen bleibt, was es genau heisst, «das S im S AM stärken, ohne in irgendeinen Provinzialismus zu verfallen ». Hier muss das Museum noch viele Hausaufgaben erledigen. Wie der Schweizbezug aussieht, wird über Erfolg und Misserfolg entscheiden, denn: Auch wenn das Publikum und auch der Anspruch teilweise international sind, kommt der grosse Teil der Besucher aus der Deutschschweiz, ja aus der Region Basel. Auch wie potenzielle, aus der Schweizer Bauwirtschaft stammende Sponsoren auf die Neupositionierung ansprechen, bleibt abzuwarten. Des- halb: Bevor sich das S AM in der internationalen Architekturlandschaft positioniert, sollte es klar machen, wie seine Rolle in der Schweiz aussehen kann und soll.

[Die Gesprächspartner:
Sandra Luzia Schafroth hat das Museum seit dem Abgang von Francesca Ferguson im August 2009 interimistisch geführt. Sie ist heute Managing Director und hat das S AM massgeblich entschuldet.

Hubertus Adam ist bis 2012 künstlerischer Leiter. Der Kunsthistoriker und Architekturjournalist soll in dieser Zeit die Positionierung und Profilierung des Museums verankern.]

hochparterre, Di., 2011.01.18

18. Januar 2011 Roderick Hönig

Spiegelkabinett auf chinesisch

Das ‹‹unsichtbare Haus›› nennt der junge Architekt Mitsunori Sano sein Erstlingswerk. Unsichtbar ist nicht ganz korrekt, weggespiegelt wäre richtiger. Die Rede ist vom neuen Atelierhaus des Schweizer Künstlers Not Vital in Peking. Sano arbeitete dreieinhalb Jahre als Assistent für den Bündner Künstler in Sent. Der Japaner arbeitete dort am ‹‹Rauf-Runter-Rauf-Haus›› siehe HP 4 / 09 und konstruierte eine Chromstahl-Brücke für Vitals Park in Sent. Fürs Gesellenstück übertrug Vital dem an der Accademia in Mendrisio ausgebildeten Architekten den Auftrag für ein Atelierhaus im Pekinger Kunstquartier Caochangdi. Vital konnte ein kleines Backsteinhaus in unmittelbarer Nachbarschaft des Ateliers des Künstlers Ai Weiwei und der Galerie des Luzerners Urs Meile im Baurecht erwerben.

Sano orientierte sich bei seinem Entwurf an der lokalen Handwerkstradition und den Materialien: Die Aussenhülle des ehemals zweigeschossigen Hauses liess er stehen, sie besteht aus einem feinen dunkelbraunen Klinkermauerwerk. Sano liess den zehn Meter hohen Bau leer räumen und stellt den Wohnteil als Stahlkonstruktion in die Backsteinhülle hinein. Der Wohntrakt besetzt einen Viertel des 14 auf 25 Meter grossen Grundrisses. Hier stapeln sich eine Wohn-Ess-Küche, ein Wohnraum, drei Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer übereinander. Die Haupträume sind gegen einen schmalen Lichthof orientiert, die Nebenräume werden durch kleine Fenster auf der Rückfassade belichtet. Spannend ist, wie Sano das innen liegende ‹‹Wohnhaus›› im luftigen Atelier verschwinden lässt.

Indem er die beiden Innenfassaden vollständig mit riesigen, verchromten Stahlplatten verkleidet, spiegelt sich der Einbau einfach weg. Stundenlang hätten chinesische Arbeiter die langen Schweissfugen der einzelnen Platten wieder glatt gehämmert, noch einmal verchromt und poliert, so Sano. Die Schweissnähte sind zwar nicht ganz verschwunden — sie werden in der Reflektion sichtbar — doch tut das dem faszinierenden Effekt keinen Abbruch. Vital arbeitet und wohnt jeweils vier Monate pro Jahr in Peking, wo er vor allem grössere Chromstahlplastiken besser und günstiger realisieren kann als in Europa. Über den von der Stadt angedrohten Abbruch des Künstlerquartiers, von dem der Bauherr kurz nach Bezug des Ateliers erfuhr, wird zum Glück nicht mehr viel geredet.

hochparterre, Di., 2011.01.18

18. Januar 2011 Roderick Hönig

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