Editorial

Glas ist ein faszinierender und zugleich ambivalenter Baustoff. Er bietet einerseits hohe gestalterische Vielfalt, verlangt aber andererseits nach besonders sorgsamem Umgang. Richtig eingesetzt lohnt sich der oft vergleichsweise hohe planerische – und nicht selten auch finanzielle – Aufwand allemal, denn wie kein anderer Baustoff erfüllt Glas die elementaren Bedürfnisse des Menschen nach Tageslicht und nach visuellem Kontakt zur Umgebung jenseits der Gebäudehülle. Der ständig wechselnde Ausdruck des Glases im Spiel mit dem Licht ruft zudem reizvolle Sinneseindrücke hervor und erzeugt im Stadtraum sich laufend wandelnde architektonische Bilder. Im Schwerpunktteil und in der Rubrik »Technik aktuell« der November-Ausgabe zeigen wir anhand von ganz unterschiedlichen Anwendungen die gestalterischen Möglichkeiten – aber auch deren Grenzen – sowie die technischen Neuerungen des Werkstoffs auf.
Ulrike Kunkel

Libelleneffekt

(SUBTITLE) Wohntürme am Kattendijkdok in Antwerpen

Je nach Standort, Lichteinfall und Wetterlage gewinnt die schimmernde Glasbekleidung der beiden Wohntürme am Hafengelände einen anderen Farbwert. Ein nüchternes und sehr rationales Immobilienprojekt gewinnt auf diese Weise ein individuelles Gepräge, das in seiner technischen Anmutung gut mit der heterogenen Atmosphäre der Hafenanlagen korrespondiert.

Am Westkaai des Kattedijkdok ankert die MS Britannia. Heimathafen des 110 m langen Binnenschiffs ist Basel. Im Oktober pendelt das schwimmende Hotel auf Städtekreuzfahrt zwischen dem Rhein, Amsterdam und Antwerpen. Die traditionsreichen Kultur- und Handelsbeziehungen zwischen dem Oberrhein und Flandern werden auch durch die beiden Wohntürme repräsentiert, die unmittelbar neben der Anlegestelle aufragen: Der Entwurf der glasverkleideten Bauten stammt vom Basler Büro Diener & Diener.

Die schimmernden Wohntürme inmitten der Dockanlagen markieren den Strukturwandel in einem lange vernachlässigten, traditionell von Hafennutzung und Lagerhäusern geprägten Stadtteil. Die Antwerpener nennen das von Docks, Schleusen und Kanälen durchzogene Viertel nördlich der Altstadt »het Eilandje«. Seit den 90er Jahren werden in Antwerpen Pläne für die Umstrukturierung dieses ältesten Teils des Hafengeländes diskutiert; seit 2002 existiert ein Masterplan. In Zukunft wird eine Kulturachse von der Altstadt über das spektakuläre neue »Museum aan de Strom«, das im Mai 2011 seine Tore öffnet, nach Norden führen. Dort befinden sich, nur wenig entfernt von den neuen Hochhäusern, die Gebäude der königlich flämischen Philharmonie und des Royal Ballet of Flanders. In einer riesigen denkmalgeschützten ehemaligen Lagerhalle werden neue Marktnutzungen, Büros und ein Kinozentrum entstehen. Angrenzend sind nach dem städtischen Masterplan auf der Westseite des Kattendijkdok sechs knapp 60 m hohe Turmhäuser geplant, die jeweils als Paare von einem Architektenteam entworfen werden. Den Auftrag für die ersten zwei Türme erhielten Diener & Diener direkt vom Projektentwickler Project², der 2003 aus einem Investorenwettbewerb für die Umsetzung der städtebaulichen Planung am Westkaai hervorgegangen war. Die anderen beiden Turmpaare werden von David Chipperfield und dem Schweizer Architektenduo Anette Gigon und Mike Guyer geplant.

Gestapelte Wunschgrundrisse

Der städtische Masterplan enthielt sehr genaue Vorgaben über Standort und Außenkontur der Türme. Von Seiten des Projektentwicklers wiederum wurden genaue Erwartungen zu Größe, Aufteilung und Zusammensetzung der Wohnungstypen formuliert, die das Ergebnis einer Markterhebung für Antwerpen waren. Die Architekten organisierten die elf geforderten Appartementgrößen in sieben Geschosstypen, die mindestens einmal, höchstens viermal übereinandergestapelt werden, bevor sie von einem anderen Geschosstyp abgelöst werden. Dieses Organisationsprinzip bildet sich bewusst in der Fassade ab und verdeutlicht sichtbar die Mechanismen der immobilenwirtschaftlichen Kalkulation. Je nach Geschosstyp sind die Fensteröffnungen der Lochfassade versetzt. Die kristalline Großform gewinnt auf diese Weise stärkere Präsenz, da sie nicht durch ein regelmäßiges Raster zerschnitten wird. Konstruktiv hatte diese gestalterische Entscheidung die Folge, dass die Außenwände aus Betonfertigelementen nicht als tragendes Skelett mit ausfachenden Elementen, sondern insgesamt als tragende Wand mit eingeschnittenen Öffnungen zu dimensionieren war.

Die Ausstattung der Wohnungen, die vom Entwickler als »luxe appartementen« (Luxuswohnungen) angeboten werden, ist hochwertig, die Architektursprache des Innern sachlich, nüchtern und zurückgenommen. Käufer haben zahlreiche Möglichkeiten, Ausstattung, Fußbodenmaterial oder auch Details der Grundrissaufteilung nach persönlichen Vorstellungen anpassen zu lassen. Jede Wohnung besitzt eine »Terrasse«, die je nach Wohnungstyp in einer anderen Gebäudeecke angeordnet ist. Über geschosshohe Schiebefenster ist dieser Freisitz mit den Wohnräumen verbunden. In der Fassade ist der geschickt über Eck integrierte Außenwohnraum kaum zu bemerken. Um diese Freisitze zu ermöglichen, war die städtische Planungsbehörde bereit, die vorgegebenen Außenmaße der Türme zu vergrößern. Die Terrassen können an einer Seite mit einem gläsernen Windschutz geschlossen werden. Ein vollständiger Abschluss ist nicht möglich, da die Stadt eine Vergrößerung der Wohnfläche gegenüber der Planung auf diese Weise verhindern wollte.

Beheizt werden die 70 bis 360 m² großen Wohnungen durch Wandkonvektoren. In Wand oder Fußboden integrierte Heizungssysteme sind in Belgien wenig verbreitet, so dass es nicht möglich war, vor Ort einen Anbieter zu finden, der Gewährleistung und den 24-stündigen Service anbieten konnte, auf den der Projektentwickler bestand. Auch in anderer Hinsicht nahmen die Richtlinien und technischen Standards in Belgien Einfluss auf das Projekt. Die strengen belgischen Umweltvorschriften erlauben im Wohnungsbau für Fassaden nur einen Öffnungsanteil von maximal 45 %. Um Energieverluste zu minimieren, werden die Wohnungen im Regelbetrieb künstlich belüftet. Die über das Dach angesaugte Frischluft wird über einen Wärmetauscher durch die Abluft aus Küchen und Bädern erwärmt und über die Wohn- und Schlafräume zugeführt. Ein Öffnen der Fenster ist für die Belüftung nicht nötig, aber grundsätzlich möglich. Aufgrund der starken Winde, die in Küstennähe auftreten können, mussten die Fensterflügel als PASK-Konstruktion (Parallel-Abstell-Schiebe-Kipp) ausgebildet werden. Auf diese Weise bleibt gewährleistet, dass eine einzelne Person auch bei starkem Wind die Fenster schließen kann.

Gold und Champagner

Herausragendes Merkmal der Wohntürme ist ihre Verkleidung mit vorgehängten Strukturgläsern – ein Fassadensystem, das Diener & Diener in ähnlicher Form bereits in der Schweiz, Deutschland und Schweden erprobt haben. Die wärmegedämmte Außenwand ist mit eloxierten Aluminiumblechen verkleidet. Vor der Metallverkleidung sind in einem Abstand von 2,5 cm Gussglasscheiben mit einseitig eingeprägter Rillenstruktur angebracht. Aluminiumhaut, Fenstereinfassungen und alle übrigen Fassadenelemente des südlichen Turms sind einheitlich goldfarben, die des nördlichen Turms champagnerfarben eloxiert. Das geriffelte transparente Material verleiht der Fassade in Zusammenspiel mit der dahinterliegenden Metallhaut eine unbestimmte Tiefe. Die grünliche Eigenfarbe des Glases, Spiegel- und Brechungseffekte erzeugen je nach Blickwinkel und Lichtsituation eine variierende, reizvolle Farbigkeit von eisigen Horizont- bis hin zu Goldtönen. Da sich die Grundfarbe der gegeneinander versetzten Türme leicht unterscheidet, besteht stets eine interessante Farbdifferenz.

Dem Betrachter, der die Fassadenkonstruktion aus der Nähe betrachtet, ergeht es allerdings ähnlich wie dem Naturforscher Goethe bei der Untersuchung des wechselnden Farbenspiels einer Libelle. Der faszinierende Effekt wiederholt sich bei der Betrachtung aus der Nähe nicht. Wo Goethe sich über das »traurig dunkle Blau« des zuvor noch schillernden Insekts beklagte, erkennt der Besucher, der näher an die Westkaai-Türme herantritt, den Grundton der goldenen Metallelemente mit all den Assoziationen, die dieses Material vielleicht an die eloxierten Fassaden früherer Jahrzehnte anklingen lässt. Die Architektur weicht diesem Effekt nicht aus. Das Fassadensystem ist bis ins EG heruntergezogen und bewusst als technische Verkleidung ablesbar. Zwischen den bis zu 3,50 m hohen Glasbahnen verlaufen zentimeterbreite Fugen, die den Blick auf die dahinterliegende Metallhaut freigeben. Auch die Haltevorrichtungen der Glaselemente sind nicht kaschiert. Die industrielle Logik der Details korrespondiert mit der Atmosphäre der ehemaligen Hafenlage.

Befürchtungen bezüglich Vandalismus und Graffiti haben die Architekten ebenso wenig wie Bedenken gegen Verschmutzungen, die sich eventuell zwischen Glashaut und Metallverkleidung festsetzen könnten. Die erste Fassade dieses Typs, die Diener & Diener Ende der 90er Jahre in Malmö realisiert haben, ist mittlerweile mehr als zehn Jahre alt. Die Glashaut wurde bisher weder beschädigt, noch haben sich auf der glatten Innenseite Verschmutzungen ablagern können. »Ich sehe keinen Grund dafür, warum die Fassade nicht 80 Jahre überdauern sollte«, erläutert Uwe Herlyn aus dem Berliner Büro der Architekten. Eine Alternative zur Glasverkleidung, etwa in Form von Naturstein oder Metallelementen, haben die Architekten nicht erwogen, schließlich ließe sich der beabsichtigte »Libelleneffekt« mit anderen Materialien ohnehin nicht erzielen.

db, Mi., 2010.11.03

03. November 2010 Karl R. Kegler

Transluzenz statt Transzendenz

(SUBTITLE) Katholische Kirche in Dietenhofen

Das Licht spielt im Kirchenbau seit jeher eine wesentliche Rolle. Schon die Glasfenster der Gotik dienten dazu, theologische Inhalte wie mystische Stimmungen zu vermitteln – Licht galt und gilt als Medium des Immateriellen, Glas als ein besonderer Baustoff. Die Ganzglasfassaden von heute haben die Möglichkeiten hier enorm gesteigert: In dieser modernen Kirche auf elliptischem Grundriss taucht man in einen Licht-Raum jenseits der Bilder und Symbole. Nicht nur im Klerus umstritten, zeigt diese freie und zugleich fremde Form aber auch die Ambivalenzen des Baustoffs auf.

Egon Eiermanns Berliner Gedächtniskirche (1957-61) habe sich ihm als ein Ort großer innerer Ruhe eingeprägt, gesteht der Architekt Karl Frey, nach Vorbildern befragt. Nicht transzendent, sondern transluzent, lichtdurchflutet, stellte er sich deshalb auch die Kirche vor, die er im mittelfränkischen Marktort Dietenhofen westlich von Nürnberg zu entwerfen hatte. In einem langen Prozess entstand so ein höchst unorthodoxes Gebäude für 125 Gläubige, der erste Kirchenneubau im Bistum Eichstätt seit über 20 Jahren und das erste energieautarke Gotteshaus Deutschlands. Im traditionell evangelisch geprägten Nürnberger Land waren die rund 800 Dietenhofener Katholiken bislang in einer Notkirche am Ortsrand zusammengekommen. Da die Gemeinde gegen den Trend gewachsen und der Altbau marode geworden war, stellte die Diözese im fernen Eichstätt 1992 einen Neubau in Aussicht. Man erwarb das Gelände einer ehemaligen Fleischerei am westlichen Rand der Altstadt, in Sichtweite der alten evangelischen Kirche, die das Ortsbild prägt. Das Terrain fällt gen Süden um einige Meter zur Landstraße ab, die hier, einer grünen Bachaue folgend, zur Hauptstraße wird. Rückseiten von Gewerbebauten im Norden, ein schmuckes barockes Stadthaus im Osten, das ist der Kontext des Entwurfs.

Auf einer um wenige Stufen abgehobenen Terrasse, einen Riegel aus Nebenräumen im Rücken, platzierte der Baumeister ein Objekt, das rasch als »Silo«, »Seelengarage« oder »Kühlturmarchitektur« angefeindet wurde, noch dazu mit einem »Wassertank auf Stelzen« als Glockenturm. Es ist die abstrakte, konsequent industriell realisierte Kehrseite eines schlüssigen, wegweisenden Innenraumkonzepts: »Draußen lästern die Leut`, drinnen werden sie still«, sagt der Architekt.

Die Crux: Eine Zylinderellipse ist als Kirche nicht »lesbar«. In der Tradition der Moderne als »reine Form unter dem Licht« realisiert, verweigert sie sich den Bildvorstellungen und soll statt dessen auf das »ganz Andere« verweisen – und dies sichtbar machen: Gerade die Fremdheit des Objekts werde dem historischen Umfeld gerecht, betont sein Erfinder. Außerdem spricht sie auch Menschen an, die mit herkömmlicher Kirchensymbolik nichts zu tun haben wollen.

Schuppenhaut und Waldesdämmern: die zweischichtige Fassade

Ein Kranz aus 24 Stahlstützen umschließt den im Grundriss 16 x 24 m messenden Raum. 10 m hoch, wurden die leiterartig verdoppelten Stützen im Plateau eingespannt, so dass keine diagonale Aussteifung nötig ist. Der Kranz trägt eine ebenfalls stählerne, 50 t schwere Deckenkonstruktion, deren verschweißtes Rippennetzwerk im Innenraum sichtbar ist. Sie ihrerseits trägt zu Speicherzwecken eine ebenso schwere flache Betonplatte, auf der Dämmung und Dichtung angebracht sind.

Die bauphysikalisch wirksame Hülle in der Vertikalen bildet das ortsbildprägende, vom Boden bis zur Dachkante reichende Schuppenkleid aus 384 bedruckten Glaselementen – tatsächlich kennt man solche »blinden« Glaskonstruktionen inzwischen von allerlei Zweckbauten. Hier handelt es sich indes um eine ausgeklügelte Sonderkonstruktion: Die im Siebdruckverfahren vierfach bedruckten ebenen Scheiben (insgesamt 550 m²) verdecken die Stahlkonstruktion komplett. Eine Scheibe reicht jeweils von Stütze zu Stütze, was den Ellipsenzylinder zu einem 24-kantigen Polygon-Körper macht. Nach Art von Gewächshäusern überlappen die Scheiben einander in der Vertikalen wie Schuppen. Jedes Glaselement besteht aus zwei Scheiben heißgelagertem Einscheibensicherheitsglas (ESG-H). Dabei ist die äußere – äußerlich für »die Lebendigkeit der Reflexion« (Architekt) quer geriffelte – innen ätzweiß bedruckte Scheibe 8 mm dick; die hinter 16 mm gasgefülltem Scheibenzwischenraum folgende Innenscheibe ist klar und 6 mm dick. Mit einem U-Wert von 1, 1 und einem g-Wert von 27 ist die Konstruktion thermisch wirksam. Sichtbar gefasst werden die Scheiben von seitlichen Pressleisten aus Alu, die wiederum über Stahlpfosten und -riegel auf angeschweißte Stege der Stahlkonstruktion geschraubt sind. Untereinander dichten elastische Gummistreifen das Schuppenkleid ab. Einzelne Scheiben in der untersten und zweitobersten der 12 Lagen der Fassade sind quergeteilt und mittels Scharnieren klappbar, um eine Hinterlüftung der Konstruktion zu gewährleisten. Sobald die Temperatur einen bestimmten, frei regelbaren Wert überschreitet, öffnen sich diese Klappen, um die Warmluft aus dem Zwischenraum der Fassade abziehen zu lassen. Dies also ist die kühle, die kantig-kristallene Schicht der Fassade, die sich der Architekt gern noch differenzierter gewünscht hätte. Tatsächlich hätte eine noch feinere Stückelung des Schuppenkleids wohl eine homogenere, fremdartigere Wirkung entfalten können. Und die in der dritten Lage integrierte »Kunst am Bau«, ein Kreuzweg, bleibt schlicht unverständlich: Die veränderte Siebdruckstruktur wirkt, als sei das Glas hier provisorisch mit Zeitungen abgeklebt worden.

288 einfache Glasscheiben bilden die innere Schale der Fassade. Sie wurden im Gegensatz zur äußeren Haut nicht industriell, sondern von Hand bearbeitet: Sichtbar ungleichmäßig ziehen sich schwarze Streifen quer über die Fläche, die, nach der Bemalung sandgestrahlt, völlig matt wirkt. Auch diese Schale ist schuppenartig leicht geneigt montiert, doch lassen ein paar fingerbreit Abstand Luft und Geräusche hindurch dringen. Die braun lackierte Konstruktion ist hier sichtbar.

Die Stimmung eines Walddickichts in der Abenddämmerung schwebte dem Architekten vor, als er diese Schicht entwarf. Tatsächlich lässt die Glasfassade die wechselnden himmlischen Lichtstimmungen wundersam gefiltert und gedämpft herein. Akzentuiert durch farbige Streifen mundgeblasenen Glases an den Scheitelpunkten der Ellipse, entsteht ein ätherisches Panoptikum, das tatsächlich – wie im Vorbild Wald – naturreligiöse Züge trägt. Leider dringen auch die Geräusche der Außenwelt störend herein, zumal bei geöffneten Lüftungsklappen. Keine »feste Burg«, eine dünne Membran umgibt schließlich den Raum. Der enorme Nachhall in dieser harten Höhle mag Kirchenmusiker beflügeln, das gesprochene Wort machte er so gut wie unmöglich. Erst eine Lautsprecheranlage schuf Abhilfe. Bauphysikalisch erfüllt die gläserne Hülle ansonsten weitgehend ihren Zweck. Sechs Erdsonden, deren Pumpen von der Photovoltaikanlage auf dem Dach gespeist werden, sorgen sommers via Lüftungsanlage für etwas Kühlung im aufgeheizten Rund (zur Messe müssen die Lüftungsklappen der Außenhaut aus akustischen Gründen geschlossen werden), im Winter wärmen sie den Raum über eine Fußbodenheizung auf maximal 18 Grad. Die Gemeinde trägt es mit Fassung – dienten doch »Rundhütten und Zelte« dem mittlerweile viel besichtigten Bau als Vorbild.

Offen für Interpretationen: der Innenraum

Mögen Akustik, Temperatur oder auch das Gestühl des Kirchenraums nicht immer angenehm sein, optisch hat Frey in seinem ersten und letzten Gotteshaus für die Diözese – er ging vor Kurzem in Ruhestand – tatsächlich die angestrebte »große innere Ruhe« erreicht: Wenn der Baumeister den Raum als eine »Umarmung« empfindet, lässt sich das durchaus nachvollziehen. Indes drängt sich das Kirchliche, Institutionelle dabei nicht in den Vordergrund. Da die liturgischen Regeln und Bezüge frei interpretiert wurden, etwa durch den allenthalben waltenden Modul 12 cm, die Konnotation der Farben oder den auf wenige Worte reduzierten Kreuzweg, ist der Einzelne frei, zu assoziieren, zu denken, zu fühlen. Und in einer so abstrakten Kirche »ohne Heiligenkitsch und Barocknippes« (Beitrag im Online-Forum kreuz.de) entfaltet dann gar eine einzelne konkrete Marienfigur ihre besondere Wirkung.

db, Mi., 2010.11.03

03. November 2010 Christoph Gunßer

Erdbebensicheres Glashaus

(SUBTITLE) Schule und Hort in Yokohama

Kindgerecht im herkömmlichen Sinne ist das Gebäude nicht. Schule und Kinderhort der christlichen Hongodai-Gemeinde überraschen aber durch die Poesie, die in transparenten Fassaden und strengem Raster stecken kann, und durch die Elastizität ihrer Konstruktion.

An diesem Gebäude kommt kaum jemand zufällig vorbei: Wer Schule und Kinderhort der christlichen Hongodai-Gemeinde besuchen will, fährt von Tokyo aus mit Zug und Bus etwa eineinhalb Stunden, und muss selbst vom näher gelegenen Yokohama noch 40 Minuten Fahrzeit einplanen. Nähert sich der Besucher seinem Ziel, so beschleicht ihn das Gefühl, das Metropolgebiet Tokio-Yokohama franse plötzlich aus, werfe sich zu Hügeln auf, um sich Häuser vom Leib zu halten: Gebiete mit dicht gepackten und wild verstreuten Wohnhäusern wechseln sich ab, dazwischen wuchert wildes Grün. Auf den letzten Metern zu Fuß weitet sich vor dem Besucher plötzlich der Raum und gibt den Blick auf ein noch fast leeres Baufeld frei. Von jungen Bäumen umgeben »sitzt« dort ein zweistöckiger Bau, dessen flirrende Haut mit zahlreichen Vor- und Rücksprüngen es nicht erlaubt, die Konturen ohne Weiteres zu erfassen. Hat sich das Auge an Durchblicke und Spiegelungen gewöhnt, erkennt es ein pavillonartiges Bauwerk, das sich aus kleinen verglasten Würfeln zusammenzusetzen scheint.

Bildung und Mission

Das Tokioter Büro Takeshi Hosaka Architekten hat die christliche Bildungseinrichtung in der Peripherie der Stadt Yokohama geschaffen. Bauherr ist die evangelische Hongodai Christ Church. Christen hatten es in der Vergangenheit in Japan nicht leicht: Kurz nachdem im 16. Jahrhundert die ersten christlichen Gemeinden gegründet worden waren, wurde die Religion auch schon verboten und ihre Anhänger verfolgt. 200 Jahre später wurde das Verbot aufgehoben, woraufhin vor allem aus Amerika neue Missionare ins Land kamen. Zugang zur Bevölkerung erlangten sie u. a. durch die Schulen, die sie eröffneten. Diese Tradition der Schulgründung gibt es bis heute, und der Ruf dieser Bildungseinrichtungen ist oft ausgezeichnet. Für die christlichen Gemeinden bietet sich durch sie die Chance, die Erziehung nach den Werten ihrer Religion zu gestalten. Das einprägsame, fast symbolische Gebäude, das Takeshi Hosaka für die Hongodai Christ Church schuf, dient daher nicht nur der Bildung, sondern auch der Mission. Die Entwurfsidee des Architekten wurde von den Gegebenheiten vor Ort inspiriert: An das Grundstück grenzt eine Waldfläche – oder zumindest: der Ausläufer einer größeren baumbestandenen Restfläche, für die im Metropolgebiet Tokio-Yokohama die Bezeichnung »Wald« durchaus angemessen ist. In seinem Entwurf setzt Hosaka den Wald mit neu gepflanzten Bäumen auf dem Grundstück fort und durchzieht ihn mit einer Linie, deren diverse Schlaufen für die späteren Patios stehen. Die geschwungene Linie korrigiert er schließlich zum orthogonalen, auf einem Raster basierenden Gebäudeumriss. Dieses Konzept, bei der die anfangs freie Form am Ende in ein Raster gepresst wird, mag etwas verkopft wirken – dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass Takeshi Hosaka damit etwas Märchenhaftes geschaffen hat. › Räume im Raster

Lediglich eine Stehle aus Metall sowie ein unscheinbares Vordach machen auf den zur Straße orientierten Eingang des Gebäudes aufmerksam. Dahinter grenzt ein Tresen den Eingangsbereich mit dem obligatorischen Schuhregal von den Räumen des Kinderhorts ab. Rechts davon führt eine zweiläufige Treppe ins OG, das die Schule beherbergt. Ein zentraler Bereich bietet dort genug Platz, um mit allen Kindern morgendliche Messen zu feiern. Da die Gemeinde klein ist und sich die Schule erst im Aufbau befindet, gibt es pro Jahrgang nur etwa zwei bis drei Schüler. Den Bauherren war es wichtig, dass die Klassen einzeln unterrichtet werden können, die Schüler dabei aber dennoch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft spüren und die Umwelt wahrnehmen. Hosaka gestaltete das Gebäude daher transparent und versah es mit zahlreichen Schiebetüren und -fenstern, mit denen sich der Bau je nach Wunsch abgrenzen oder öffnen lässt. Die einzelnen Klassenräume lassen sich durch schalldämpfende Acrylglasschiebewände von dem zentralen Gemeinschaftsbereich abtrennen, so dass angemessen große Unterrichtsräume entstehen. Ein wichtiges Element sind dabei die transparenten Patios, welche die Räume strukturieren und – als kleine Gärten im Innern des Gebäudes – Innen- und Außenraum auf einer weiteren Ebene sehr gekonnt miteinander verweben.

Neben der allgegenwärtigen Verglasung ist das Innere vor allem durch Holz geprägt: Nussbaum-Furnierparkett als Bodenbelag und vom Schreiner gefertigte Möbel, die allerdings oft etwas unentschieden herumstehen, da die Wände fehlen, an die sie sich lehnen könnten. Ein weiteres, etwas zu auffälliges Merkmal der Innenräume sind die Leuchten: in Kreuzform angeordnete Neonröhren. Im herkömmlichen Sinne kindgerecht gestaltet, ist das Gebäude im Innern nicht: Es gibt keine farbigen Wände, die sich schützend zwischen Kinder und Außenwelt stellen, keine Höhlen, in die sich die kleinen Nutzer zurückziehen könnten. Bauherren und Architekten haben vielmehr beinahe entmaterialisierte Räume geschaffen, in denen sich Licht, Wind und Natur intensiv erleben lassen.

Einfach beben lassen

Der allgegenwärtigen Gefahr durch Erdbeben versucht man in Japan meist mit der Festigkeit der Konstruktion und der Materialdicke zu begegnen – bei Schule und Kinderhort der Hongodai-Kirche wagten die Planer einen anderen Weg. Auf dem Betonfundament sitzt eine Holzrahmenkonstruktion, die allerdings ohne Auskreuzungen oder Aussteifungen auskommt. Stattdessen wurden die fünf Patios als Stahlrahmenkonstruktionen in das Raster eingefügt. Einen besonderen Trick mussten sich die Planer allerdings bei der Verglasung einfallen lassen: Das spröde und unnachgiebige Material würde im Falle eines schweren Erdbebens sofort brechen, da es – anders als die Rahmenkonstruktion – Drehmomente nicht aufnehmen kann. Daher sind die festen und verschiebbaren Glaselemente auf hydraulischen Stoßdämpfern gelagert. Dem Einbau des Systems gingen verschiedene Tests an 1:1-Modellen sowie Erdbebensimulationen am Rechner voraus.

Was in erdbebenarmen Ländern wenig problematisch scheint, ist in Japan tatsächlich eine kleine Revolution: Gerade bei Schulen und Kinderhorts sind die Sicherheitsstandards sehr hoch, so dass solch filigrane und transparente Konstruktionen wie bei diesem Gebäude kaum verwirklicht werden. Statt dem Beben die Masse dicker Stahlbetonwände entgegenzusetzen, bewältigt der Bau die Herausforderung sehr viel japanischer: durch Elastizität. Klima im Glashaus

Beim Anblick der Schule stellt sich für Menschen, die mit einer sich ständig verschärfenden EnEV konfrontiert sind, sofort die Frage: Wie lässt sich dieses komplett verglaste Gebäude klimatisch in den Griff bekommen? Noch dazu in einem Land, dessen tropische Sommer den Gebrauch einer Klimaanlage selbst in Gebäuden mit wenig direkter Sonneneinstrahlung unumgänglich machen? Was die sommerliche Kühlung anbelangt, bleiben die Architekten mit ihrer Erläuterung tatsächlich etwas im Vagen: Die Beschattung durch die umgebenden Bäume sowie natürliche Querlüftung sollen eine Überhitzung des Gebäudes verhindern. Nur in Ausnahmefällen – wenn die Fenster nicht geöffnet werden können – solle die Klimaanlage zur Kühlung hinzugezogen werden.

Die Heizung erfolgt über den Fußboden, allerdings dient nicht Wasser, sondern Luft als Medium. Die von einer Wärmepumpe auf eine bestimmte Temperatur gebrachte Luft wird in Schläuchen durch den Fußboden geleitet, um diesen aufzuheizen, bevor sie im Bereich unterhalb der Fensterscheiben in den Raum austritt und damit auch die Oberflächentemperatur der Gläser hebt.

In Japan hat es bei den Verordnungen zur Energieeinsparung von Gebäuden schon seit Jahrzehnten keine Veränderung mehr gegeben. Insgesamt lässt das Thema Nachhaltiges Bauen die japanische Bauindustrie weitgehend kalt – die Lebensdauer von Häusern beträgt durchschnittlich nur 30 Jahre, und natürlich ist weder der Industrie noch den Bauunternehmern daran gelegen, diese Zeitspanne zu verlängern. Darüber hinaus neigen die Bauherren eher dazu, bei gleich bleibender Bauweise den eigenen Komfort zu reduzieren, als durch eine entsprechende Umstellung der Bauweise trotz hohem Komfort eine Energieeinsparung zu erreichen.

Bauen in Japan lässt sich nicht ohne Weiteres an westlichen Maßstäben messen, deshalb würde man dem Gebäude der Hongodai-Kirche auch nicht gerecht, wenn man es losgelöst vom lokalen Kontext beurteilt. Wer diesen gläsernen Bau inmitten von Bäumen besucht, die angenehm dimensionierten Räume durchwandert, durch die geöffneten Schiebefenster das Rauschen des Waldes hört und den Blick nur durch das umgebende Grün begrenzt fühlt, wird die Stärken dieses Entwurfs dann auch zu schätzen wissen.

db, Mi., 2010.11.03

03. November 2010 Claudia Hildner

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