Editorial

Wehe, Sie wagen es, ein Buch wegzuwerfen! / Das Queren des Platzes in Schuhen ist untersagt / Kein Zutritt für Röcke tragende Frauen / Hausbauen strengstens verboten / Von links kommende Kamele meiden / Bloß keine Netze spinnen! / Erscheinen Sie niemals zu dritt mit offenem Messer / Küssen Sie sich bloß nicht! / Zeigen Sie mit dem Daumen nicht nach unten / Halten Sie nie eine Pfanne über die Flamme … usw.

Die zahlreichen Verbote, die den Umschlag der vorliegenden Ausgabe des Hintergrund zieren, wirken nur auf den ersten Blick wie eine Überzeichnung jenes dichten Schilderwalds, der unser Verhalten in sogenannten öffentlichen Räumen tagtäglich zu regeln versucht. Auch wenn einige der auf Plakat und Einladungskarte der Ausstellung „Platz da! European Public Space“ (14.10.2010 – 31.01.2011) verwendeten Symbole frei erfunden sind und der rote Kreis – entgegen der Konvention von Verbotsschildern – von links unten nach rechts oben durchkreuzt wird (wen würde das schon irritieren), kommen uns diese Hinweistafeln so vertraut und selbstverständlich vor, als bestehe kein Zweifel darüber, wozu sie da sind und was sie uns sagen wollen. Ob jemand sich im Durchqueren eines öffentlichen Raums regeltreu oder vorschriftswidrig verhält, wird erst im Schadensfall zum Thema; von solchen Ausnahmen abgesehen, gehen wir meist von der (irrigen) Annahme aus, dass die Benutzung eines „Freiraums“ in den Zuständigkeitsbereich der persönlichen Freiheit fällt – was immer man darunter versteht. Das 10. Jubiläum des vom CCCB (Centre de Cultura Contemporània de Barcelona) biennal durchgeführten European Prize for Public Space veranlasste das Az W, eine exemplarische Annäherung an das Thema „öffentlicher Raum“ und seine gestalterischen wie gesellschaftspolitischen Ausprägungen zu unternehmen. In der von Andrea Seidling kuratierten Ausstellung stehen den preisgekrönten internationalen Projekten unterschiedliche Facetten der Wiener Wirklichkeit gegenüber; anhand von „eingesessenen Plätzen“ und aktuellen künstlerischen und urbanistischen Interventionen werden die Repräsentations- und Reglementierungsformen öffentlicher Räume in Wien und anderswo untersucht. Im Programmteil dieses Hefts können Sie den öffentlichen Raum als „Bühne der gesellschaftlichen Verhältnisse“ studieren, aber auch das kritische Potenzial von architektonischen „Okkupationen“ erkunden.

Auch im Az W Journal bleibt der „öffentliche Raum“ ein brisantes Thema, sei es bei Marion Kuzmanys sonntags-tour an den Donaukanal, sei es im Gespräch, das ich mit den Architekten Erich Hubmann & Andreas Vass im Anschluss an das a_schaufenster 13 im Sommer führen durfte und zu dem Hermann Czech im letzten Durchgang einen Kommentar beigesteuert hat. Für die Intensität des Gedankenaustauschs (und die damit verbundene editorische Ausdauer) sei allen Beteiligten herzlich gedankt; Dank auch an Otto Kapfinger für die Verschriftlichung seiner anlässlich einer Buchpräsentation gehaltenen Rede an und über Johann Georg Gsteu – das Bedürfnis, Gesprochenes (somit Flüchtiges) in den (öffentlichen) Raum einer Zeitschrift einfließen zu lassen, war auch hier ein ungeteiltes Vergnügen.
Gabriele Kaiser

Inhalt

04 Vorwort Gabriele Kaiser
07 Intro Andrea Seidling

Thema Platz da!

09 Okkupationen
10 fattinger, orso, rieper., feld72, raumlaborberlin, Recetas Urbanas, transparadiso
30 Peter Krobath: Cross-Border-Leasing, Robin Hood und Wikipedia
34 Lehren, forschen, kooperieren, realisieren. Institut Kunst und Gestaltung
an der TU Wien (Modul Kunsttransfer)
46 Bühnen – Ort und Platz
48 Dschungel – Fotogeschichten aus Wien
50 Gisela Erlacher, Barbara Krobath, Lukas Schaller, Wolfgang Thaler

Az W Journal

58 „Landschaftsprojekte sind Umbauten in einem kollektiven Maßstab“, Erich Hubmann & Andreas Vass im Gespräch mit Gabriele Kaiser, Anmerkungen von Hermann Czech
72 Marion Kuzmany: sonntags donaukanal news revisited
74 Otto Kapfinger: Laudatio für J.G. Gsteu
77 Neu in der Bibliothek
80 Dietmar Steiner: European Prize for Urban Public Space

83 Team Az W
84 Mitglieder Architecture Lounge, xlarge Partner

Cross-Border-Leasing

(SUBTITLE) Robin Hood und Wikipedia

Was verbindet Gehsteige und Waldwege, Datenbanken und Parkbänke, genetische Codes und Wasserleitungen? Sie alle zählen zu den Commons, können von uns gemeinsam genutzt und verwaltet werden. Aber ist das noch möglich?

Eine Idee geht um. Sie ist Jahrhunderte alt, Jahrtausende. Ein Gespenst in neuem Outfit? Nein: Diese Idee wird in der täglichen Praxis von Millionen Menschen umgesetzt, auf österreichischen Almwiesen oder im südamerikanischen Regenwald, im urbanen öffentlichen Raum oder im Internet. Und sie eint neuerdings unterschiedliche Gruppen in der Debatte über eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung, über eine gerechtere Gesellschaft, an der alle partizipieren können. Manche sprechen bereits von einer „Bewegung der Bewegungen“.

Die Rede ist von Rückgewinnung, Ausbau und Stärkung der Commons, auf Deutsch Gemeingüter oder Allmende genannt. Damit sind sowohl natürliche Ressourcen gemeint (wie Weiden, Wald, Wiesen, Wellen, Wasser, Schnee, Auen, Teiche, Moore, Meeresboden, Kanäle, Artenvielfalt, Energieträger, Fotosynthese, Stabilität des Klimas, Ozonschicht etc.), als auch kulturelle und soziale Ressourcen (Märchen, Sprachen, Stille, Schreiben, Lesen, Forschungsergebnisse, Tänze, Musik, Wikipedia, Datenbanken, DNA, Gehsteige, Parks, Plätze, Wegefreiheit, Bauernmärkte, Festivals, soziale Netze).

Die nimmersatten Kapitalgesellschaften verschlingen diese Gemeingüter (und nennen es „Wachstum“), der Staat ist meist ein schlechter Hüter (weil zu sehr an die mächtigen Unternehmen gebunden), also sollen, so eine der Grundforderungen in der Debatte, die gemeinsamen Ressourcen durch das Commoning verwaltet werden, von den Nutzern oder Betroffenen selbst, ohne Staat und ohne Markt, jenseits des binären Weltbildes von Privat oder Öffentlich. Es geht um einen geregelten Gebrauch der Commons, der künftigen Generationen nichts nimmt, um die Gewährung vorübergehender Nutzungsrechte statt um schranken- und zeitlose Verfügung. Gemeingüter sind so gesehen auch eine Form der sozialen Beziehung. Oder anders herum gesagt: Jedes Common ist ein Produkt von Commoning, auch wenn es sich um einen Rohstoff handelt, weil er eben durch eine bestimmte soziale Praxis erst zum Gemeingut wird. Die Weide, der Fischgrund und die Demokratie sind ja nie ein für alle Mal ein Common, sondern immer nur solange sie als solche (re)produziert werden, solange sich also Menschen finden, die sich darum kümmern.

Fangen wir etwas früher an. Am Beginn der Geschichte gab es überall Gemeingüter. Die Menschen streiften durch die Welt und verfügten als Stammesgemeinschaften über Territorien. Vor rund 10.000 Jahren entstanden Landwirtschaft, feste Siedlungen und das Privateigentum. Herrscher oder militärische Eroberer erteilten bestimmten Leuten Besitztitel an Grund und Boden. Trotzdem blieb ein großer Teil des Landes in Europa Gemeingut. Im Römischen Reich wurden Gewässer, Küstenlinien, wild lebende Tiere und der Luftraum sogar ausdrücklich als res communes gewertet, als allen zur Verfügung stehende Ressourcen.

Im Mittelalter erhoben Könige und Lehnsherren Rechtsansprüche auf Flüsse, Wälder und Wildtiere, wobei diese Ansprüche regelmäßig zurückgewiesen wurden. Die berühmte Magna Charta, die zu unterzeichnen sich der englische König mit dem bezeichnenden Namen Johann Ohneland 1215 genötigt sah, schrieb Wälder und Fischereizonen als res communes fest. Aus dieser Zeit stammen auch die Geschichten des ersten Helden des Commons, des heute noch beliebten Robin Hood, der sich dafür einsetzte, dass das einfache Volk weiterhin im Wald jagen und Holz sammeln und in den Gewässern fischen darf, auch wenn das alles dem König gehört. Im 15. und 16. Jahrhundert stieg die Bedeutung des internationalen Handels für englische Wolle, und die wirtschaftliche Elite versuchte eine Effizenzsteigerung, indem sie bis dahin gemeinschaftlich bewirtschaftete Flächen zusammenlegte und einzäunte, privatisierte. Ab dem 18. und 19. Jahrhundert wurde die „Einhegung der Allmende“ zunehmend parlamentarisch verfügt.

Der Prozess der Einhegung ist noch im Gange, nur geht es heute neben Wald, Land und Wasser auch um moderne Kulturtechnologien, z. B. um Rundfunkfrequenzen oder genetische und digitale Codes. Ein dramatischer Strukturwandel ist im Gange. Noch ist es vielen nicht bewusst, dass sich etwa hinter der Patentierungsflut auf Nanobestandteile von Materie die Möglichkeit verbirgt, die Kontrolle über mehrere Wissenschaftszweige durchzusetzen. „Es scheint das Schicksal der Commons zu sein: Erst wenn sie oder ihre Surrogate verschwunden sind, werden wir uns ihrer Notwendigkeit bewusst“, schreibt Commons-Expertin Silke Helfrich (sie betreut die ausgezeichnete Webseite www.commonsblog.wordpress.com).

Die Wiederentdeckung der Gemeingüter geschieht nicht von ungefähr zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Auseinandersetzung darüber, welche Güter öffentlich und welche privat sind, wer von ihnen profitiert und wer ausgesperrt bleibt, steuert auf einen neuen Höhepunkt zu. Klimawandel, Finanzkrise, der Cross-Border-Leasing-Betrug, der Kampf um die Bodenschätze in der Arktis, Landgrabbing in Afrika oder Umweltkatastrophen wie die von BP verursachte Ölpest im Golf von Mexiko haben viele für das Thema sensibel gemacht.

Dass die Commonsdebatte für einige Zeit von der Denkfläche verschwunden war, liegt unter anderem an einem missverständlichen, doch leider berühmt gewordenen Aufsatz Garret Hardins aus dem Jahr 1969. In der „Tragedy of the Commons“ („Die Tragödie der Allmende“) meinte der Biologe, wenn Menschen ein Stück Land gemeinsam nutzen, werde es unweigerlich übernutzt – die Menschen seien immer bestrebt, kurzfristig ihren materiellen Nutzen zu maximieren, und die Gemeinschaftsgüter seien daher zur Selbstzerstörung verurteilt. Diese These wurde von vielen unbesehen übernommen. Ein genauerer Blick zeigt, dass Hardins Beispiel kein Gemeingut betrifft, sondern ein Niemandsland. Und dass erfolgreiche Gemeingüter sehr wohl klar definierte Grenzen und Regeln haben und seit Hunderten von Jahren funktionieren. „Für Hardin ist die Allmende ein Schlaraffenland, das leergefressen wird. Für seine Kritiker sind Gemeingüter eher ein Picknick, zu dem jeder etwas beiträgt und wo sich jeder in Maßen bedient“, beschreibt der Journalist Bernhard Pötter die Auseinandersetzung mit einer passenden Metapher.

„Gruppen, die regelmäßig miteinander kommunizieren können, sind in der Lage, fast optimale Ergebnisse zu erzielen, anstatt die Ressourcen zu übernutzen“, stellt die Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom, die seit Jahrzehnten die Allmende erforscht, fest. Die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Ostrom im Herbst 2009 war ein wichtiger Anstoß für das Comeback der Commonsdebatte. Ostrom hat viele Gemeingütersysteme von den Philippinen bis zu den Schweizer Almen studiert, und dabei vor allem untersucht, wie Menschen in diesen Projekten miteinander kooperieren. Sie kam zu dem Ergebnis, dass für eine angemessene und nachhaltige Bewirtschaftung von lokalen Allmende-Ressourcen in vielen Fällen eine institutionalisierte lokale Kooperation der Betroffenen sowohl staatlicher Kontrolle als auch Privatisierungen überlegen ist. Für erfolgreiche Lösungen von lokalen Allmende-Problemen zählt Ostrom folgende Prinzipien auf: klar definierte Grenzen und einen wirksamen Ausschluss von externen Nichtberechtigten. Regeln bezüglich der Aneignung und der Bereitstellung der Allmende-Ressourcen müssen den lokalen Bedingungen angepasst sein. Die Nutzer können an Vereinbarungen zur Änderung der Regeln teilnehmen, sodass eine bessere Anpassung an sich ändernde Bedingungen ermöglicht wird.

Überwachung der Einhaltung der Regeln.
Abgestufte Sanktionsmöglichkeiten bei Regelverstößen.
Mechanismen zur Konfliktlösung.
Die Selbstbestimmung der Gemeinde wird durch übergeordnete Regierungsstellen anerkannt.

Ist dieser „Commonismus“ der lang ersehnte Dritte Weg zwischen der Unantastbarkeit des Privateigentums im Kapitalismus und der staatlichen Bevormundung im Sozialismus? Der große Praxistest steht noch aus. Die lokalen Beispiele machen Mut (wo z.B. Stadtbewohner die bereits privatisierte Wasserversorgung wieder in die eigene Hand nehmen oder sich ländliche Gemeinden auf nachhaltige Weise energieautark machen), die Ideen für globale Commons- Bestimmungen (wie z.B. das „Sky Trust“-System für eine gerechtere Regelung des Emissionshandels) müssen erst politisch durchgesetzt werden.

Hintergrund, Do., 2010.10.21

21. Oktober 2010 Peter Krobath

European Prize for Urban Public Space

Die vergangenen zehn Jahre des biennalen European Prize for Urban Public Space belegen nicht nur die Entwicklung der Auszeichnung herausragender gestalterischer Leistungen, sondern begleiten auch die diskursive Entwicklung der Bedeutung des öffentlichen Raums des letzten Jahrzehnts. War der erste Preis im Jahr 2000 noch von einer lokalen Jury des CCCB bestimmt, begann 2002 die kontinuierlich bis heute wachsende Kooperation mit anderen europäischen Institutionen der Architektur. Damit ist eine einzigartige und repräsentative Sicht der Entwicklung des urbanen öffentlichen Raums in Europa mit seinen Preisträgern und dem akkumulierten Archiv gewährleistet. Ich versuche nun aus der Sicht eines Jurymitglieds seit 2002 die Entwicklung des Preises und des Engagements des CCCB als Widerspiegelung und Konzentrat der europäischen Debatte zu kommentieren.

Zunächst gibt es begründet keine andere europäische Stadt, die eine mit Barcelona vergleichbare Kompetenz als Diskursort für den öffentlichen Raum aufweisen könnte. Denn das heute legendäre Programm der öffentlichen Plätze der 1980er Jahre, von renommierten Architekten und Künstlern gestaltet, war für Barcelona nach der politischen Blockade der Franco-Zeit ein urbanistischer Befreiungsschlag, der weltweit über die Architekturdebatte hinaus für Aufsehen sorgte. Was lag also näher als – mit dieser Kompetenz ausgestattet – einen europäischen Preis für Urban Public Space vom CCCB, jene einzigartige Institution, die sich einer umfassenden kulturellen und intellektuellen Entwicklung verpflichtet fühlt, zu erfinden und auszuloben. Angesichts der eingesandten Projekte stellten sich für die Jurien aber immer und bis heute eine Reihe von inhaltlichen Fragen. Was ist der öffentliche urbane Raum im neuen Jahrtausend? Ist er nicht längst in den medialen Raum der Internet-Communities entschwunden? Wird der öffentliche urbane Raum im realen Leben nicht zunehmend privatisiert? Und wird der noch vorhandene öffentliche Raum nicht von immer mehr Regeln und Verhaltensvorschriften politisch domestiziert und diszipliniert?

Dabei vergessen wir gerne, dass der urbane öffentliche Raum – als Public Space der angelsächsischen Terminologie – erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als generalisierender Typus definiert wurde. Davor enthielt die Terminologie der Stadtplanung in Europa nur die Begriffe von Straßen und Plätzen, von Grünräumen und Spielräumen. Es ging ganz einfach um die vom Brandschutz und der Belichtung verordneten nötigen Abstandsflächen zwischen den Gebäuden. War der öffentliche Raum aber als „gestaltet“ gedacht und geplant, dann diente er der Repräsentation fürstlicher, faschistischer, kommunistischer, jedenfalls herrschaftlicher Macht, intendierte die Absicht, durch Gestaltung eine Lenkung und Kontrolle des Verhaltens der Benutzung herbeizuführen. Erst die demokratischen Reformen ab der Mitte des 19. Jahrhundert eröffneten den Begriff eines öffentlichen Raums „für alle“, der „alltäglichen Öffentlichkeiten“. Aber auch dieser war wieder mit soziologisch bestimmten, also politischen Ritualen belegt und definiert.

Ich wage daher die These, dass es den für alle Menschen offenen, für alle Aktionen und Repräsentationen des Öffentlichen freien urbanen Raum niemals gab und geben wird. Denn jeder öffentliche Raum, und wir sehen dies heute deutlich in den „sozialen Räumen“ des Internet, ist von Ritualen der Benutzung bestimmt, die immer Verhaltensregeln, Zugangsbeschränkungen und Ausschließungen beinhalten. Manuel Solà-Morales hat dies in einer der Jurien sehr klar und lapidar formuliert: Jedes Fußball-Stadion ist privat, dennoch empfinden alle Nutzer, die sogar für den Eintritt bezahlen, die Anteilnahme an dieser Veranstaltung als Nutzung eines öffentlichen Raums. Es spielt also in der Realität keine Rolle, ob sich der urbane öffentliche Raum unter öffentlicher oder privater Verwaltung befindet, ob er als realer oder virtueller Raum existiert. Jeder Zugang, jede Tätigkeit in diesem Raum bedarf einer „politischen Verhandlung“. Die von linken TheoretikerInnen beförderte Anklage der zunehmenden Privatisierung des öffentlichen Raums, Stichwort: vom öffentlichen Platz zur privaten Shopping-Mall, hält der Realität nicht stand. So sitze ich in einer Shopping- Mall in Barcelona in einem Restaurant, dieses geöffnet zu einem öffentlichen privaten Platz, bestelle nur ein Bier, und verbringe ein Stunde mit der Lektüre eines Buches, unbelästigt. So spaziere ich den öffentlichen Raum des Paseo de Gracia entlang, bis plötzlich von martialisch aussehenden öffentlichen Sicherheitskräften der Gehsteig abgeriegelt ist, weil eine kleine Demonstration stattfindet. Schlussfolgerung: Die öffentliche Benutzung des öffentlichen Raums ist nicht eine Frage der abstrakten Besitzverhältnisse, sondern immer eine Frage der Ausübung der Macht über diesen Raum.

Mit dieser Frage einer heutigen Definition des urbanen öffentlichen Raums waren wir in jeder Jury des letzten Jahrzehnts konfrontiert. Ist nur dann ein öffentlicher Raum gegeben, wenn er als offene Fläche unter freiem Himmel ausgebildet ist, oder können auch Gebäude öffentlicher Raum sein? Schon der legendäre Nolli-Plan Roms von 1748 erklärt in seiner Grafik, dass sich öffentliche Flächen von Straßen und Plätzen in die Innenräume von öffentlichen Gebäuden erstrecken. Ist eine Markthalle, eine Kirche, eine Shopping-Mall heute öffentlicher Raum? Eine besonders pikante Begründung fand der Juryvorsitzende Rafael Moneo für den Preis der Oper in Oslo 2010: Der hier gebotene öffentliche Raum auf dem Dach und im Umfeld des Gebäudes ist eine derartige Bereicherung für den urbanen Raum von Oslo, dass die Bedeutung des Gebäudes darunter keine Rolle spielt. Und welchen Wert messen wir Projekten bei, die sich als Kunst- oder Architekturprojekte mit ephemeren und temporären Projekten der Thematisierung des öffentlichen Raums widmen? Jawohl, diese Projekte wurden in den letzen Jahren immer wichtiger. Was sich hier meist als partizipatorische Kunstprojekte darstellt, ist der Ausdruck einer zunehmenden Verunsicherung über allgemein gültige Rituale der Benutzung des öffentlichen Raums einer zunehmend heterogenen Gesellschaft. So deutet sich in dieser künstlerischen Avantgarde an, dass die Zukunft der Benutzung des öffentlichen Raums wohl überwiegend nur mehr „moderiert“ gesehen werden kann. Dann werden wohl die Rituale der Macht mit den Ritualen der Aneignung des Raums ebenfalls in einen andauernden politischen Diskurs münden. Auf der anderen Seite der formale Mainstream: Die derzeit üblichen Elemente der Gestaltung des urbanen öffentlichen Raums sind Bodenlampen und dramatische Lichtkonzepte, informelle Wasserflächen mit oft interaktiven Fontänen zur belustigenden Bewässerung von spielenden Kindern, Bänke und Sitzmöglichkeiten und die ornamentale Gestaltung der Bodenflächen durch Muster und Materialien. Entscheidend ist aber nicht, wie „schön“ der neue öffentliche Raum geworden ist, sondern ob er eine Geschichte erzählt, die einen Beitrag zur Identität des Ortes leisten kann.

Und manchmal, konfrontiert mit den Bildern des Zustands vorher und denen nach der neuen Gestaltung, wäre es auch besser gewesen, ganz einfach nichts zu tun. Der urbane öffentliche Raum ist eine „soziale Plastik“, ein politischer Verhandlungsraum. Das ist der „Text“, der den Diskurs der Jury jenseits der präsentierten „Bilder“ begleitet.

Hintergrund, Do., 2010.10.21

[ Langfassung in: In Favour of Public Space – Ten Years of the European Prize for Urban Public Space, Actar 2010 ]

21. Oktober 2010 Dietmar Steiner

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