Editorial
Sie machen neugierig, faszinieren und provozieren, prägen nur vorübergehend den Stadtraum, sind Zwischenlösung oder Platzhalter, ungewöhnlich und oft experimentell, mobil und demontabel – und bis man sie vollends wahrgenommen hat, auch schon wieder verschwunden. Traumartig mögen temporäre Bauten daher manchen Menschen im Gedächtnis bleiben. Aus der Erinnerung an ein solches entstand u. a. die Idee für dieses Heft: Das Foto links zeigt einen Gebäudeausschnitt des »STRUDEL«, einen nicht mehr existierenden Veranstaltungspavillon von stoosarchitekten, die diesen für die Dauer der zehntägigen »Badenfahrt 2007« aus Recycling- bzw. Baumaterialien wie Schalungsträgern und -brettern, Latten und Gerüstbohlen errichten ließen. Dabei kamen alle Baumaterialien ohne Zu- und Verschnitt in ihren Ursprungsgrößen zum Einsatz, nur so konnten sie komplett wiederverwendet werden. Bei den im Anschluss vorgestellten Projekten hatten der Aspekt des Modularen und des Recyclings zwar nicht immer Priorität, doch gewannen dafür andere Anforderungen an Bedeutung, schließlich müssen (oder mussten) sie teilweise einer längeren Nutzungsdauer und weitaus anspruchsvolleren Nutzungen standhalten. Dadurch kann auch aus so manch temporär geplantem Gebäude ein dauerhaftes werden, wie das ein oder andere Projekt in diesem Schwerpunkt zeigt. Aber sehen Sie selbst … | Christine Fritzenwallner
Glänzender Platzhalter
(SUBTITLE) Temporäre Markthallen in Madrid
Sechs Pavillons, schlicht und milchig-weiß gehalten, dienen auf einem innerstädtischen Platz in Madrid für zwei Jahre als temporäre Markthallen. Sie »begleiten« die benachbarte Baustelle, auf der u. a. wieder ein dauerhafter Markt errichtet wird. Dennoch wirken sie nicht wie ein unausgegorenes Provisorium – im Gegenteil. Allenfalls das leichte, kostengünstige und lichtdurchlässige Fassadenmaterial aus Polycarbonat verweist auf den temporären Charakter, im heißen Sommer Spaniens fordert es gewaltig die Klimatisierung.
Ein Linienbus donnert vorbei, im Hintergrund das warnende Piepen von Kippladern, die Luft ist staubig, die Sonne treibt einem Schweißtropfen ins Gesicht. Eine Großbaustelle lärmt in Madrids Studentenviertel, dort wo einst die marode Markthalle Barceló lag. Hier entstehen nach Plänen der Architekten Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano drei neue Bauwerke auf einem Grundstück: ein neuer Markt, eine Bibliothek und ein Sportzentrum. Die Projektarchitektin Alexandra Sobral schwärmt: »Die Bauaufgabe ist besonders, eine einmalige Chance, etwas Neues mitten im historischen Stadtkern Madrids zu platzieren«. 2007 hatten die Architekten den Wettbewerb dazu gewonnen. Zwei Jahre dauerte die Planung, weitere zwei sollen die Bauarbeiten dauern, bis 2011. Zu lang für die Anwohner und Händler, um auf einen Markt in ihrem Stadtteil zu verzichten. Teil des Wettbewerbs war deshalb der Entwurf für einen temporären Markt auf dem Quartiersplatz hinter der Baustelle, den »Jardines del Arquitecto Ribera« direkt neben dem Barockbau des historischen Museums, am Rand des Stadtteils Chueca.
Seit Dezember 2009 ist dieser nun in Betrieb und verlagert den Mittelpunkt des Viertels um etwa 200 m weiter westlich. Sechs einzelne Pavillons aus Polycarbonat und einem weiß gestrichenen Stahltragwerk locken Passanten und Nachbarn zum Markthandel. Klein und farblos, wie zufällig abgestellte Tupperdosen, stehen sie im Kontrast zur bunten, hohen Wohnbebauung, die den Platz umfasst. So fremd sie hier auch wirken, ihre Gestalt lässt angenehm Luft auf dem Platz, der sonst mit Bäumen und Brunnen der Erholung dient. Die niedrige Höhe der Pavillons orientiert sich am benachbarten Museum, ihre Anordnung an Bestandselementen wie Bäumen, einem Spielplatz und zwei Tiefgaragenzufahrten. Eine überdachte offene Passage verbindet die Einzelbauten zu einem Markt. Der Hauptzugang liegt an der nördlichen, belebteren Platzkante, die Anlieferzonen der Händler liegen im Süden.
Profitabler für die Händler …
Schon vorab schlossen sich die Händler des alten Markts zu Gremien zusammen, jeweils nach Warensortiment, um sich auf kleinerer Fläche besser zu organisieren. Die Idee, einzelne Pavillons zu errichten, ergab sich aus der sinnvollen Bündelung von Nutzungen und der dafür notwendigen Infrastruktur. Jedem Pavillon ist ein Warensortiment zugeordnet: Brot und Feinkost, Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse, Haushaltswaren und Kleidung. Die temporäre Fläche ist um 50 % kleiner als der alte Markt, das Warenangebot und die Zahl der Händler konnten aber fast vollständig erhalten bleiben. Nicht für alle Händler war es einfach, ihre Standplätze im alten Markt aufzugeben und sich auf konzentrischem, kleinem Grundriss zurechtzufinden. »Aber dann merkten viele von ihnen nach den ersten Monaten, dass sie auf konzentrierter Fläche den gleichen oder sogar mehr Gewinn gemacht hatten«, erklärt Alexandra Sobral. Das liegt auch an einem effizienteren Grundriss und Mieteinsparungen. Die Stände im Pavillon reihen sich im Kreis an der Außenwand entlang und, bei den großen Pavillons, um einen mittig gelegenen Kühl- und Lagerraum. In den kleinen Pavillons bleibt in der Mitte Platz für Stühle und Tische.
… praktischer für die Kunden
Zur besseren Orientierung ist jedem Pavillon eine andere Farbe zugeordnet, erkennbar am stählernen Eingang und an den farbigen Anzeigetafeln mit den Standnummern. Ansonsten sind die Bauteile des Markts in Weiß gehalten – ein Zugeständnis an die Händler, wie die Projektleiterin sagt: »So bleibt ihnen Gestaltungsraum, und die Adaption des Temporären fällt leichter«. Werbelogos und Schriftzüge verzieren nun die Köpfe der Stände. Ein weiteres Zugeständnis ist die Umzäunung des Geländes mit Stahlstelen. Die Architekten planten eigentlich einen offen zugänglichen Marktaußenraum, doch die Händler hatten Angst vor Vandalismus – völlig berechtigt, denn die sauber-glatte Polycarbonatfassade wäre eine Reizfläche für die im Viertel umtriebigen Graffiti-Sprayer, die sich bereits an sämtlichen Erdgeschossfassaden in der Umgebung verewigten.
Skeptisch waren anfänglich auch die Anwohner, wie Sobral erzählt: »Die fensterlosen Fassaden mit Polycarbonat, die amorphe Form, das kannte man hier so nicht. Aber die Raumatmosphäre im Innern überzeugte sie«. Das Tageslicht fällt so hell durch die transluzente Fassade, dass sich die Innenräume nach oben hin im weißen Gegenlicht aufzulösen scheinen. Kunstlicht dient hier nur zur nächtlichen Illumination, tagsüber wird es nicht benötigt.
Hell, licht – und auch ein bisschen heiss?
Die Entscheidung für die Fassade aus Polycarbonat ist aber nicht nur eine raumgestalterische. »Ein Markt, egal ob temporär oder dauerhaft, braucht eine aufwendige Infrastruktur, Wasser und Strom, Hygienemaßnahmen und Kochmöglichkeiten. Sparen konnten wir v. a. durch das Material: Die Polycarbonat-Paneele leiten Licht, dämmen, sind modular anzubringen, leicht transportabel und einfach montierbar, und zusätzlich kosten sie weniger als andere Materialien«. Dass es aber auch zu einem erheblichen Solar- und damit zu einem Wärmeeintrag führt, lässt die Architektin so nicht gelten. »Für die Frischwaren brauchen wir ohnehin eine Klimakühlung, sie funktioniert hier über die Rückgewinnung der Ablufttemperatur.« Damit wird die heiße Zuluft von außen bereits etwas vorgekühlt und Energie gespart. Die Temperatur der Pavillons kann jeweils einzeln gesteuert werden, dennoch ist die Raumtemperatur, wie in Spanien üblich, in allen Pavillons stark heruntergekühlt. Doch verbraucht die Bauweise nicht sehr viel Strom? »Das Fassadenmaterial spart sogar eher Strom, weil es eine Beleuchtung unnötig macht und zudem wiederverwendbar ist«, entgegnet Sobral.
Die Wiederverwendbarkeit des gesamten Komplexes war Wunsch der Stadtverwaltung Madrid, der Bauherrin. Die Nachnutzung ist zwar noch nicht geklärt, doch die Stahlkonstruktion ist nur verschraubt, lässt sich leicht abbauen und transportieren. Ca. 2 m hohe Fachwerkträger überspannen die einzelnen Hallen, die Dachhaut besteht aus Stahltrapezblech. An den Seiten steifen doppelte Ringträger aus quadratischen Stahlrohrprofilen die Fassade aus und tragen die niedrige Überdachung der Passage zwischen den Pavillons. Beide Trägersysteme leiten die Last weiter an Stahlstützen, die direkt hinter der Fassadenebene im Innenraum stehen. So bleiben die genutzten Flächen in der Mitte der Pavillons sowie die Passage stützenfrei. Die Stände lassen sich unabhängig von der Gebäudekonstruktion ausbauen, dann wird der Markt zur Halle – perfekt für Kulturveranstaltungen und die spanischen »ferias«.
Doch wo lagert die gesamte Konstruktion eigentlich auf? Alexandra Sobral führt in die bestehende Tiefgarage unter dem Platz. Deren Betontragwerk wurde für die Zeit der Umnutzung des darüber gelegenen Platzes um Stahlstützen ergänzt, um die zusätzliche Last der Pavillons abzutragen. Für dieses temporäre Fundament mussten allerdings Stellplätze weichen.
Sieben Monate dauerte die Errichtung des Markts. Der gesamte Boden des Platzes musste abgetragen und eine ca. 70 cm hohe Zwischenebene eingezogen werden, über die jetzt die Pavillons mit einer gemeinsamen Infrastruktur verbunden sind. Diese läuft in einer Hauptzentrale, einer Stahl-Aluminium-Konstruktion, an der nördlichen Platzbegrenzung zusammen. »Der doppelte Boden kann auch nach dem Abbau des Markts weiter bestehen und z. B. bei späteren Stadtfesten die Stände andienen«, erklärt die Projektleiterin.
Experimentieren mit Fragmenten
Der Platz selbst wird nach der Marktnutzung wieder als Freifläche dienen. Für den zukünftigen Markt Barceló werden sich die Anwohner wieder umgewöhnen müssen, der Gebäudekomplex im Bau ist stringent, gradlinig und fast dreimal so groß. Die temporären Pavillons sind ein Experiment: Was kann man an diesem streng gefassten, historischen Ort machen und wie findet sich dort eine Ordnung von Fragmenten und Funktionen? Das Thema der Fragmentierung von Einheiten und ihrem konstruktiven und funktionalen Zusammenhalt, die Ordnung im scheinbar Ungeordneten oder Kleinteiligen und ihre Einpassung in den Bestand, die Stadt oder die Landschaft, diese Fragen beschäftigen das Büro seit einiger Zeit. Zwischen meist sehr stringente, gradlinige Projekte mischen sich nun vermehrt Zell- und Fragmentstrukturen, die zu einem Ganzen wachsen.
Zum Abschluss bedauert Alexandra Sobral noch: »Schade, dass wir den Markt nicht abends besichtigen. Er ist von innen mit Leuchtstoffröhren illuminiert und die Pavillons strahlen laternenartig in den Stadtteil. Sie verdeutlichen: Hier passiert etwas Neues«. Den Anwohnern, da ist sie sich sicher, wird der temporäre Markt fehlen. Aber vielleicht gehen die Pavillons danach auf Reisen und leuchten so zumindest in anderen Städten und Stadtteilen weiter.db, Di., 2010.09.07
07. September 2010 Rosa Grewe
Gesegnetes Provisorium
(SUBTITLE) Kapelle in Pompaples
Origami, die japanische Papierfaltkunst, diente bei der Formfindung des kleinen Behelfsgotteshauses in der Französischen Schweiz als Ideengeber. Dank beispielhafter Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren entstand ein temporäres Gebäude, das schließlich alle in seinen Bann gezogen und von einer dauerhaften Daseinsberechtigung überzeugt hat.
Als »milieu du monde«, als Mittelpunkt der Welt, wird die kleine waadtländische Ortschaft Pompaples im Volksmund bezeichnet, denn Pompaples liegt genau auf der Wasserscheide der Einzugsbereiche von Rhein und Rhone, markiert also die Grenze zwischen dem Norden und dem Süden Europas. Architekten dürfte der Name des Nachbarorts La Sarraz vertrauter sein, denn im dortigen Schloss wurde 1928 der CIAM gegründet. Westlich von Pompaples liegt auf einem 525 m hohen Hügel der Spitalkomplex von St-Loup, der 1852 von den waadtländer Diakonissen gegründet wurde. Eine schmale Zufahrtsstrasse windet sich den Hang empor, dann steht man inmitten eines Ensembles von Bauten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die eine lockere halbkreisförmige Formation bilden. Nach Westen öffnet sich die Anlage zur umgebenden Wald- und Wiesenlandschaft.
Die Anlage war in die Jahre gekommen, als sich die Communauté des Diaconesses von St-Loup dazu entschied, einen Wettbewerb mit vorgeschaltetem Präqualifikationsverfahren zur Renovierung ihres Mutterhauses auszuloben, das sich im Nordosten des Ensembles befindet. Den ersten Preis erhielt im Jahr 2007 eine Arbeitsgemeinschaft aus zwei Lausanner Architekturbüros: das junge Team LOCALARCHITECTURE und das seit 1979 bestehende Bureau d’ Architecture Danilo Mondada. Aus dem Projekt ergab sich im Jahr darauf ein zweiter, nunmehr direkt vergebener Auftrag an die Architekten. Weil die Renovierung auch die im Mutterhaus untergebrachte Kapelle betraf, wünschten sich die Diakonissen einen für ihre täglichen Gottesdienste zu nutzenden, temporären Ort. LOCALARCHITECTURE und Danilo Mondada konzipierten daraufhin eine Kapelle, die – gleichsam als spirituelles Zentrum – nahe dem Hubschrauberlandeplatz auf der Freifläche der Waldlichtung inmitten des Areals errichtet wurde.
Ein kleines Wunderwerk, trotz und Dank Vieler Beteiligter
Die Partner von LOCALARCHITECTURE – Marco Bieler, Antoine Robert-Granpierre und Laurent Saurer – diplomierten an der EPFL Lausanne; Antoine Robert-Granpierre unterrichtet dort überdies seit 2007 als Assistent von Harry Gugger. Die enge Verbindung zur Architekturfakultät in Lausanne sowie das auch an anderen Projekten des Büros erkennbare Interesse für eine zeitgemäße Verwendung von Holz führte dazu, dass die Architekten angesichts der Bauaufgabe Kontakt mit IBOIS aufnahmen, dem an der EPFL angesiedelten Laboratorium für Holzkonstruktion. 2005 gegründet, widmet es sich der interdisziplinären Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren im Bereich der Holzkonstruktion. Yves Weinand, Leiter von IBOIS, verkörpert mit seiner eigenen Biografie das Zusammengehen beider Disziplinen: Er wurde als Ingenieur an der EPFL und als Architekt am Institut supérieure d’architecture in Saint-Luc ausgebildet. Ziel des Labors ist es, der traditionellen Arbeitsteilung beider Berufsgruppen entgegenzuwirken. Das Wissen der Ingenieure direkt in den gestalterischen Prozess der Architekten einzubinden, sei nicht immer einfach, erklärt Weinand, die »berufsstandsspezifische Selbstbeschränkung infolge einer dogmatischen Verabsolutierung der Berechenbarkeit stehe experimentelleren Ansätzen«, wie er sie postuliere, vielfach noch entgegen.
Aus diesem Grund handelt es sich bei der Kapelle von St-Loup um ein Pilotprojekt, das im doppelten Sinne als modellhaft anzusehen ist: als Beispiel für eine Gemeinschaftsarbeit von Architekten und Ingenieuren zum einen, als Architektur, die durch ihren ephemeren Charakter wie ein Modell im Maßstab 1:1 wirkt, zum anderen. Für die Realisierung des kleinen Gebäudes gründeten Yves Weinand und Hani Buri von IBOIS das Büro SHEL architecture, engineering and production design in Genf. Unterstützt wurde das Vorhaben zusätzlich vom Schweizerischen Bundesamt für Umwelt BAFU. Zu verdanken ist der kleine Experimental- und Sakralbau aber schließlich den Diakonissen von St-Loup als Auftraggeberinnen, die das ungewöhnliche Projekt von Anfang an vorbehaltlos unterstützten.
Überzeugendes Origami
Ausgangsidee des Entwurfs war das Prinzip der japanischen Papierfaltkunst Origami. Diese beruht auf dem Prinzip, das sich das weiche und biegsame Material Papier durch Falten ohne zusätzliche Hilfsmittel versteifen lässt. Dieser Gedanke ist in der Ingenieurbaukunst nicht unbekannt; Beispiel hierfür sind Faltdachkonstruktionen aus Beton. In den Holzbau wurde das Verfahren bislang indes nicht übertragen.
Bei der Kapelle von St-Loup dienten Brettschichtholzplatten als Baumaterial. Ein erstes intuitives Faltungskonzept wurde in ein CAD-Programm übertragen und dann sukzessive optimiert. Aus dem Modellierwerkzeug wurden die Daten als flächig vernetzte Elemente in ein Statikprogramm übertragen. Für die vertikalen Elemente fanden 40 mm dicke, für die horizontalen 60 mm dicke Brettschichtplatten Verwendung. Da sich Holz nicht wirklich falten lässt, legte man an den Kanten Lochbleche ein und verschraubte diese. Die einzelnen Abschnitte der Konstruktion steifen sich aber aufgrund der Verkantung gegenseitig aus. Die Platten wurden dann mit einer Dichtungsbahn abgedeckt und schließlich mit 19 mm imprägnierten Dreischichtplatten bekleidet. Dass Tragwerk und Ummantelung aus verschiedenen Materialen bestehen, mag die Konsequenz der Idee beeinträchtigen, ließ sich aber nicht vermeiden und ist fast nicht erkennbar. Die Formfindung basierte auf der Entscheidung, dass eine breite und niedrige trapezförmige Öffnung den Eingang markieren sollte, eine schmale und hohe trapezförmige die Altarwand. Die gekrümmten Linien, die sich durch die Verbindung dieser Außenpunkte ergaben, wurden in eine Abfolge von Faltungen aufgegliedert. Faktoren, die die Formfindung im Detail beeinflussten, waren der Ablauf des Dachwassers, die akustische Optimierung des Innenraums – und der architektonische Ausdruck. Die Architekten verstehen ihren Bau als zeitgenössische Hommage an romanische Kirchen, wie sie sich in der Umgebung finden, wobei die vertikalen Faltungen des Innenraums die Rolle der Säulen übernehmen. Durch die Faltungen rhythmisiert, ist ein überaus stimmungsvoller kleiner Sakralraum entstanden. Aufgrund der leicht »gebauchten« Form der seitlichen Wandbegrenzungen ergibt sich eine Zentralisierung, die die reine Längsorientierung mildert. Transparentes Polykarbonat, vor dem außen kaum sichtbar ein bräunliches Textil als Windschutz angebracht ist, schließt die Eingangs- und Altarwand. Von außen gesehen, wirken diese Wände geschlossen; von innen öffnet sich der Blick hinter dem Altar in die Landschaft – und in gegenläufiger Richtung auf das Gebäudeensemble des Diakonissenhauses. Wenn die Diakonissen am Mittag ihren Gottesdienst feiern und singen, tönt der leichte Holzbau wie ein klingendes Instrument.
Die Kapelle, deren Baukosten lediglich 290 000 Schweizer Franken betrug, war als temporäres Gebäude gedacht. Ein möglicher Verkauf und Wiederaufbau an anderer Stelle sollte die Kosten reduzieren, außerdem bestand für die Wiese inmitten des Hospitalkomplexes nur eine Baubewilligung für ein nicht-dauerhaftes Gebäude. Doch die Diakonissen begannen ihren temporären liturgischen Ort zu lieben, und überdies zieht der Bau seit seiner Eröffnung viele Besucher an. Daher überzeugten die Architekten ihre Auftraggeber, das Gebäude stehen zu lassen; die dafür nötige Baubewilligung wurde inzwischen erteilt. Nichts ist dauerhafter als ein Provisorium.db, Di., 2010.09.07
07. September 2010 Hubertus Adam
Wider den Lärm
(SUBTITLE) OpernPavillon »21 MINI Opera Space«
Kein Aufschrei, kein Entsetzen – der silbrig-kühle, spitzwinklige Pavillon auf dem Marstallplatz in München scheint trotz Dornen und Zacken beim Publikum anzukommen – bzw. angekommen zu sein, schließlich nähert sich seine Zeit dem Ende. Gerade wegen seines harten Kontrasts zur Umgebung belebt er wohltuend provokant den Platz. Die Entwurfsherleitung für die Gestaltung des Pavillons ist allerdings genauso kühn wie sein Outfit: Auf die Außenhülle wurde formal eine Sequenz aus einem Song Jimi Hendrix' und aus einer Oper von Mozart transkribiert. Kann Musik Ideengeber sein und sich ein temporäres, dünnes Leichtbauwerk für eine Opernaufführung eignen?
München als wohltemperierten Nährboden avantgardistischer Architektur zu bezeichnen, wäre mehr als verwegen. Dazu ist die bajuwarische Seele viel zu traditionsbewusst und die sprichwörtliche »Gemütlichkeit« den Münchnern ein viel zu hohes Gut. Was nicht bedeutet, dass es in der »nördlichsten Stadt Italiens« nicht richtungsweisende Bauwerke gäbe – allen voran – und mit weitem Abstand – das Olympiastadion, das den erst kürzlich verstorbenen Günter Behnisch international bekannt machte. Auch die Pinakothek der Moderne und die BMW Welt locken jährlich tausende Besucher an – u. a. wegen ihrer Architektur. »Gegner« letztgenannter Projekte hielten mit ihrer Kritik nie hinterm Berg. Und nun explodiert mitten im Herzen Münchens, auf dem Marstallplatz gegenüber der 1820-22 von Leo von Klenze errichteten ehemaligen Hofreitschule des Bayerischen Königshauses, eine architektonische Bombe – doch dieses Mal schauen die Münchner gelassen zu.
Die 2,1 Mio. Euro teure mobile Spielstätte für die Opernfestspiele ist das dritte Münchner Projekt der Wiener Himmelsstürmer COOP HIMMELB(L)AU. Nach nur achtmonatiger Planungszeit ging der Wunsch von Staatsoper-Intendant Nikolaus Bachler nach einer »ästhetisch aufregenden Lösung« in Erfüllung. Einen »Ort der Begegnung und des Austauschs« sollte Wolf D. Prix kreieren, der diesen Auftrag nach eigenen Angaben bei einem Treffen mit Bachler im Wiener Burgtheater erhielt. Finanziert wurde das Projekt zu je einem Drittel vom Freistaat Bayern, der Bayerischen Staatsoper und vom Projektpartner BMW-Group/MINI, wodurch sich auch der Name erklärt.
Als temporäres Gebäude fällt der Pavillon in die Kategorie Fliegende Bauten und unterliegt somit einem vereinfachten Baugenehmigungsverfahren. Unmittelbar auf das Pflaster des Platzes gestellt, konnte er in wenigen Wochen montiert und kann er binnen rund zwei Wochen wieder demontiert werden. Ob er, wie geplant, nach Ende der vierwöchigen Spielzeit in München eine »Reise um die Welt« zu anderen Spielstätten und Orten antreten wird, um einen Teil der Baukosten reinzuholen, ist noch offen. Zunächst wird er wohl Mitte September abgebaut und zwischengelagert werden. Die Aufgabenstellung, ein Widerspruch in sich?
Der in Leichtbauweise errichtete, mobile Musikpavillon für 300 sitzende bzw. 700 stehende Besucher sollte eine gute Akustik haben und gleichzeitig den Lärm der Stadt abschirmen. Keine einfache Aufgabe, da insbesondere tiefere Frequenzen, wie sie beispielsweise durch Fahrzeugverkehr entstehen, nur durch schwere Materialien zuverlässig in den Griff zu bekommen sind. Der für einen Kammermusiksaal übliche Hintergrundgeräuschpegel von maximal 25 dBA kann mit Leichtbauweise nicht erreicht werden. Ziel der Planer war jedoch, einen Hintergrundgeräuschpegel von 35 dBA für die niedrigen Frequenzen nicht zu überschreiten. Am Marstallplatz wurden zwar keine exakten Schallmessungen durchgeführt, doch weisen vergleichbare Plätze einen Geräuschpegel von rund 55 dBA und Lärmemissionen durch Fahrzeugverkehr von 65 bis 75 dBA auf.
Gelungen: Ein »akustisches schwarzes Loch«
Die Strategie, das Unmögliche möglich zu machen, lautet »Soundscaping« und geht so: Man erzeuge eine »Geräuschkulisse«, die Umgebungslärm reduziert – und schaffe gleichzeitig geräuscharme Bereiche um den Pavillon herum. Dazu waren drei Maßnahmen erforderlich, die zusammen mit dem Londoner Akustikplaner Arup entwickelt wurden: Erstens die Abschirmung zur (hier kopfsteingepflasterten) Straßenseite. Zweitens eine Gebäudegeometrie, die durch die Ausrichtung der Oberflächen Schall sowohl absorbiert als auch umlenkt. Und drittens die Verwendung zusätzlich Schall schluckender bzw. reflektierender Materialien für die Außenhaut und für das Podest vor dem Pavillon. Dieses sowie die Rampen, die zur Überbrückung eines installationstechnisch erforderlichen Höhenunterschiedes zwischen Marstallplatz und Pavillon von mehreren Seiten auf das Gebäude zu führen, bestehen aus einem roten Tartanboden. Der Kunststoffbelag erinnert an einen roten Teppich und federt beim Betreten ein wenig.
Und weil all das eventuell immer noch nicht ausreicht, alle möglicherweise auftretenden Hintergrundgeräusche ausreichend zu dämmen, empfahlen die Planer, die meisten Darbietungen im Pavillon zu verstärken, um die Hintergrundgeräusche zu übertönen und mögliche Beeinträchtigungen während einer Aufführung zu vermeiden.
Offensichtlich hat sich das Gesamtkonzept bewährt. Nach Ende der Spielzeit zeigt sich die Bayerische Staatsoper jedenfalls zufrieden und bestätigt, dass das Feedback der Besucher »durchweg positiv« ausgefallen sei.
Gestalterisch handelt es sich bei dem Opernpavillon um eine Box mit einer bespielbaren Fläche von 21 x 17 m und einer Höhe zwischen 6 und 8 m. Ein »akustisches schwarzes Loch«, wie die Architekten sagen, »das die sinnliche Wahrnehmung um den Pavillon und am Marstallplatz verändert und so die Aufmerksamkeit zusätzlich zum visuellen Eindruck erhöht«. Die Box ist modular zusammengesetzt, so dass sie in Seecontainer verpackt und weiter transportiert werden kann, ihre Primärkonstruktion besteht aus einem Stahltragwerk. Die erforderliche Schalldämmung ergibt sich durch den Schichtenaufbau: Einem 50 mm dicken Metallsandwichpaneel im Innern folgt ein 200 mm tiefer Luftraum und als Außenhaut eine 3 mm dicke, teilweise perforierte, eloxierte und gebürstete Aluminiumbekleidung. Erst zum Schluss wurden außen die markanten »Spikes« – pyramidenartige Schallkörper, die wie Dornen auf der Fassade sitzen – angebracht. Sie haben jedoch keine Entsprechung im Inneren.
Im Gegensatz zum ursprünglichen Konzept, das noch rund herumlaufende Elemente vorsah, beschränkt sich der realisierte Pavillon (aus Budgetgründen!) auf die Ausbildung der Schallkörper nur an der Nordwestseite. Das ist insofern bedauerlich, als sich dadurch jetzt eine eindeutige Rückseite ergibt, die auch noch lieblos mit Technikcontainern drapiert wurde – für das angrenzende Café kein angemessenes Gegenüber. Die Nutzung an anderen Orten wird durch die einseitige Schalldämmung zudem weniger flexibel.
Neugierig machender Fremd- und Resonanzkörper
Ob COOP HIMMELB(L)AU mit diesem Gebäude Maßstäbe gesetzt hat, mag dem persönlichen Urteil jedes Einzelnen nach einem Besuch vor Ort überlassen bleiben. Ein Zeichen haben die Wiener damit aber allemal gesetzt. Was hier in wenigen Wochen Bauzeit entstanden ist, gibt nicht nur eine akzeptable Antwort auf diesen Ort – es ist wahrscheinlich die einzig mögliche Reaktion. Ein – in positivem Sinne des Wortes – »Fremdkörper«, der neugierig macht, eigenständig ist und gar nicht erst versucht, auf den »genius loci« zu reagieren. Die Sorge vieler Münchner, dass durch den Pavillon der Blick auf den Marstall verdeckt würde, erwies sich übrigens als unbegründet. Im Gegenteil: Schlendert man aus Richtung Maximilianstraße am Probengebäude der Bayerischen Staatsoper vorbei, weckt der Blick auf die stachelige Fassade Interesse. Zumindest diese Ecke erfüllt den beabsichtigten Zweck. Der Kontrast zum dahinter liegenden Marstallgebäude ist phänomenal und mutig zugleich. Hier kann man den Architekten beipflichten: »Gute Architektur hat immer Maßstäbe gesetzt, sie war nie reaktiv, sondern immer aktiv«. Ebenso kann man Wolf D. Prix’ Wunsch nachvollziehen: »Ich hoffe, dass der Pavillon fehlen wird, wenn er abgebaut wird«und die Leere zurückkehrt auf den Marstallplatz.
Gebaute Musik?
Ein Wermutstropfen aber bleibt: War im Entwurf des ursprünglich mit umlaufenden Schallkörpern gespickten Pavillons noch »Musik drin«, sind beim realisierten Gebäude davon nur wenige Noten übrig geblieben. Mozarts »Don Giovanni« und Jimi Hendrix‘ »Purple Haze« haben Wolf D. Prix angeblich zu dieser Fassade inspiriert. Aus letzterem wurde die Sequenz »Scuse me while I kiss the sky« herausgefiltert und durch Verknüpfung mit dem computergenerierten 3D-Modell über ein »Scripting« in formgebende Elemente umgewandelt. So soll die Musik, wenn auch dieser Vorgang für Laien schwer nachvollziehbar ist, räumlich erfahrbar gemacht worden sein.
Parallelen zwischen Musik und Architektur sind spätestens seit Iannis Xenakis‘ Phillips-Pavillon für die Brüsseler Weltausstellung 1958 bekannt. Doch das Münchner Ergebnis erinnert leider weniger an die »dreidimensionale Umsetzung von Musik in Architektur«. Musik ist schließlich mehr als die Summe einzelner Töne.db, Di., 2010.09.07
07. September 2010 Klaus F. Linscheid