Editorial
Ob gemeinschaftliches Wohnen, großzügige Lofts, Townhouses oder Dachaufstockungen, eins steht fest: In Berlin entsteht eine Vielzahl kreativer Wohnungsbauten. Wir nehmen ihre Architektur und jeweilige Einbettung in den städtebaulichen Kontext sowie ihre Wohn-, Finanzierungs- und Bauherrenmodelle kritisch unter die Lupe und fragen: Wie wohnt Berlin? | uk
Hybrid am Berg
(SUBTITLE) Mehrfamilienhaus »Wohnen an der Barnimkante« in der Fehrbelliner Strasse
Ursprünglich als reines Holzhaus geplant, wurde dieses Projekt zu einer Mischung aus Stahl- und Betontragwerk mit Holzfassaden. So kombiniert es die Vorzüge der drei Materialien: große stützenfreie Räume dank vorgespannter Decken, breite Öffnungen dank Stahlträgern, schlanke Wände dank hochgedämmter Fassadenelemente, die sogar – und das macht das Projekt dann doch zum »Holzhaus« – hofseitig über sieben Geschosse mit Lärchenbrettern verschalt werden durften.
Für Berliner Verhältnisse ist der Prenzlauer Berg tatsächlich ein Berg: Von der Torstraße zum Teutoburger Platz steigen die Straßen besonders steil an. Oben am Platz entstand in einer Baulücke das Projekt »Wohnen an der Barnimkante«, das die geologische Besonderheit dieses eiszeitlichen Randes zum Thema macht. Ohne die einheitliche Berliner Traufhöhe von 22 m zu durchbrechen, überragt das neue Haus seine Hinterhoflandschaft um volle zwei Geschosse – und gestattet seinen Bewohnern ein Panorama der gesamten Innenstadt. Mit dieser Lage als Startkapital gelang es der Architektin, ein auch ansonsten ungewöhnliches Haus zu realisieren.
Seit den 90er Jahren im Kiez heimisch, wohnte sie zuletzt im heruntergekommenen Nachbarhaus, das sie 2004 denkmalgerecht sanierte und umbaute. So entstand gemeinsam mit dem Eigentümer der Baulücke (praktischerweise ihr Ehemann) die Idee, hier einen Neubau zu realisieren: ein Vorderhaus mit einem an die Brandwand des Nachbarhauses gebauten Seitenflügel. Nachdem dafür zunächst eine Baugruppe im Gespräch war, die mit der Architektin das Pionierprojekt eines reinen siebengeschossigen Holzhauses wagen wollte, entschied sich das Paar doch zu einer Lösung in Eigenregie.
Zu groß schienen die Risiken einer solchen Pioniertat. Die Baugruppe fand andernorts eine Lücke: In der Esmarchstraße 3 baute sie (mit den Architekten Kaden+Klingbeil) tatsächlich ein »reines« Holzhaus, bei dem das Material aber aus Brandschutzgründen zugeputzt wurde.
»Sichtholz«
Die Architektin findet solche Kompromisse fragwürdig. Sie wollte das Holz, zumindest auf der Hofseite, sichtbar lassen. Im ökologisch sensibilisierten Prenzlberg sollte das ein zugkräftiges Wohlfühl-Argument sein. Holz als Tragwerk aber hätte nicht die stützenfreien Innenräume ermöglicht, die für einen Verkauf der Wohnungen auf dem freien Markt ratsam sind. Anders als eine Baugruppe, die schon früh ihre Grundrisse festlegen kann, schätzen Bauträger die Flexibilität, um unterschiedliche Bauherren anzusprechen. Also entstand die Mischkonstruktion aus Stahlskelett, weit spannenden Betondecken und nichttragenden Holzrahmenwänden. Während die ruhig gegliederte Platzfassade mit anthrazitfarbenen Faserzementplatten bekleidet wurde, durfte die Hoffassade freier gestaltet werden. Breite, fast geschosshohe Öffnungen am Vorderhaus und schmale Schlitze am Seitenflügel stehen sich gegenüber. Geschickt wurde ein »Berliner Zimmer« vermieden, indem im schwer zu belichtenden Zwickel zwischen den zwei Baukörpern das großzügige Treppenhaus untergebracht wurde.
Zwei Brandschutzgutachten für die Holzbeplankung
Um die Beplankung jedoch wurde lange gerungen. Die Berliner Bauordnung lässt Holz als Bekleidungsmaterial im Geschossbau nicht zu. Die Bauaufsichtsbehörde verlangte folglich ein Brandschutzkonzept, das die Abweichung durch ein Gutachten absicherte. Zwei Gutachten, letzteres quasi amtlich von der Materialprüfanstalt in Leipzig, waren schließlich notwendig, um die Beamten davon zu überzeugen, dass die geschossweise angebrachten horizontalen Bleche und ein Wandaufbau mit feuerhemmenden Calziumsilikatplatten den Brandüberschlag an der Holzfassade ebenso lange hinauszögern wie ein Verputz. Mehrere Monate Verzögerung kostete der Streit – ein Präzedenzfall, gewiss.
Die Bretter aus unbehandelter, astreicher Lärche geben im Kontrast zu den leichten stählernen Geländern und der gewendelten Fluchttreppe ein gelungenes Bild ab. Fern einer deplatzierten Zirbelstüberl-Romantik bringen sie doch etwas natürlich Warmes, Leichtes, Weite Atmendes in die Enge des steinernen Berlin – als sei an der Barnimkante ein Bootsanleger der Eiszeit wiedererstanden…
Integration in den Stadtraum
»Die Straße ist der Innenraum der Stadt«, sagt die Architektin und fügt das Haus außen, auf der Platzseite, unauffällig ein. Flankiert von zwei prächtigen Baudenkmälern, wäre jede aufgeregte Pose dem Haus auch schlecht bekommen. Zwanzigmal dasselbe französische Fensterformat (aus Lärchenholz), in Vierergruppen geschossweise abgesetzt und nur leicht »baugruppenmäßig« verwackelt angeordnet, sagen schlicht: Hier wird gestapelt gewohnt, mit nicht ganz so üppiger Deckenhöhe wie nebenan (immerhin 2,80 m) und geschossweisen Variationen im Grundriss. Erst über der Traufkante weicht die Zurückhaltung: Schon beim Umbau des denkmalgeschützten Nachbarhauses konnte statt des verlangten Schrägdachs eine verglaste Gaube durchgesetzt werden. Nun gelang es der Architektin sogar, ein geräumiges Staffelgeschoss zu realisieren, das in der Straßenflucht zwar kaum in Erscheinung tritt – erst vom Platz aus sieht man den »Kasten« –, ein Nachbarhaus indes deutlich überragt.
Hell und flexibel – das Innere
Wie die äußere Erscheinung, so vermeidet die innere Gestaltung das Auffällige, Luxuriöse. Die elf Wohnungen – sieben im Vorderhaus, vier im Seitenflügel, darunter eine Maisonettewohnung – sind alle verschieden. Drei Installationskerne lassen die Küche mal vorn, mal hinten stehen, mal wird durchgewohnt, mal konventionell in Zimmern. Pastell- oder erdfarben getönte Wände geben den Räumen Tiefe und setzen sehr schöne Akzente. Die Käufer seien der ursprünglichen Baugruppe ähnlich, sagt die Architektin, mehrere junge Familien mit Kindern leben im Haus. Der um die Mittagszeit sonnige Hof konnte mit dem des Nachbarhauses zusammengelegt und einheitlich gestaltet werden (karges Stahlkantendesign von Topotek 1), so dass die Kinder außer den eher schmalen Balkonen etwas Ausweichfläche geboten bekommen. Und dann liegt ja der große Platz gleich vis-à-vis. Eine Baugemeinschaft hätte die Dachterrasse mit dem spektakulären Blick vielleicht allen Parteien zugänglich gemacht.
Im Vergleich zu anderen Neubauten im Stadtteil gibt sich das Haus aber ausgesprochen schlicht und, auf der Straßenebene, freundlich: statt abweisender Fliesen ein Sockel aus Faserzementplatten von nur geringfügig dunklerer Farbe (graffitiresistent), darin ein einladendes großes Schaufenster mit Holztür (das Büro der Architektin), statt eines Tiefgaragenschlundes ein nur schmales, passend lärchenholzbekleidetes Rolltor. So war die Architektin sehr erstaunt, ja verbittert, als Autonome auf die Baustelle einen Anschlag verübten. Mittlerweile scheint die Szene aber beruhigt, vielleicht gar überzeugt. Andere Projekte, etwa der luxuriöse, abgeschottete Marthashof (s. S. 37) werden im Kiez weit kontroverser wahrgenommen als die Barnimkante.
Standard bei der Haustechnik
Im Vermarktungskonzept des Gebäudes wurde die Ökologie großgeschrieben. Schaut man genauer hin, handelt es sich um ein gut gedämmtes Niedrigenergiehaus mit Dreischeibenverglasung und einer (zentralen) Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung. Eine Gasbrennwerttherme mit nur 60 kW versorgt die Fußbodenheizung und wärmt das Brauchwasser. Auf weitergehende Öko-Konzepte wurde indes verzichtet – es gibt keine Solaranlage, keinen Grauwasserkreislauf oder baubiologische Materialien. Beim ersten großen Projekt waren die Planer offenbar unsicher, ob der Markt den Mehraufwand honoriert. Eine Baugemeinschaft mit ihrer klaren Eigentümerstruktur wäre da wohl mutiger gewesen – auch das spricht für diese Trägerschaft.
Der Erfolg der »Barnimkante« lässt Susanne Scharabi inzwischen Größeres wagen: Während sie sich bisher beruflich nur in ihrem Kiez bewegte (derzeit entsteht eine Mensa für die nahe Waldorfschule – ganz aus Holz), ist ihr nächstes Projekt, gemeinsam mit einem Kollegen, eine Baugruppe mit über 60 Parteien in Berlin-Treptow.db, Di., 2010.08.17
17. August 2010 Christoph Gunßer
Bizarre Stadtreparatur
(SUBTITLE) Wohn- und Geschäftshaus an der Linien-/Ecke Rosa- Luxemburg-Strasse
Ebenso Skulptur wie Gebäude, wurde das »L40« auf eine spezielle Nutzergruppe zugeschnitten: Sammler finden darin Räume, die genügend Wände, ausreichend Höhe und das richtige Licht bieten, um Kunstwerke zu präsentieren und mit ihnen zu wohnen. Zugleich ist die skurrile Erscheinung ein Stück kluge Stadtreparatur an einem Ort in Berlin Mitte, der vorher eigentlich nicht bewohnbar schien.
Dunkel, scharfkantig und seltsam zerklüftet steht es da, dieses Haus. Bald wirkt es düster-geheimnisvoll mit seinen schwarz pigmentierten Sichtbetonfassaden und den großen geschlossenen Wandflächen.
Bald erscheint es fast leicht und offenherzig dank seiner weiten Auskragungen und seiner großzügigen, zu langen Bändern zusammengefassten Fenster. Nicht einfach zu sagen, was es eigentlich sein soll, dieses Bauwerk. Nur dass es selbstbewusst und Aufmerksamkeit heischend seinen zu drei Seiten von Straßen begrenzten Platz besetzt. Erst bei genauerer Betrachtung entpuppt sich das zwischen Linien-, Rosa-Luxemburg- und Torstraße gelegene Gebäude, das unter dem Namen L40 firmiert, als Wohnhaus – als ein besonderes freilich, in fast jeder Hinsicht.
Erdacht vom Architekten Roger Bundschuh und der Künstlerin Cosima von Bonin, planerisch umgesetzt und realisiert vom in Berlin ansässigen Büro BundschuhBaumhauer (seit Kurzem: Bundschuh Architekten), wurde das Wohngebäude auf die Bedürfnisse einer ganz spezifischen Zielgruppe hin konzipiert: auf Kunstsammler, die mit ihrer Kunst leben und auch im Alltag das Unkonventionelle schätzen.
Kerbe für mehr Licht, Schaum gegen Lärm
Die Besonderheiten des L40 fangen bereits mit dem Grundstück an. Die mit rund 440 m² für Berliner Verhältnisse kleine, unregelmäßig geschnittene Parzelle ist historisch, wurde aber vor Kurzem noch als Straße genutzt. Ihre Wiederauferstehung als Bauplatz verdankt sie der behutsamen Stadtreparatur (Planwerk Innenstadt), in deren Rahmen man, nicht zuletzt mit dem Ziel der Verkehrsberuhigung, den alten Verlauf der Rosa-Luxemburg- Straße wiederherstellte. Die Vorgabe für die Neubebauung des Areals lautete auf Schließung des um einen klein dimensionierten Hof gruppierten Häuserblocks und auf Einhaltung der städtebaulichen Raumkanten. Um nun den Hofraum nicht wieder zu einem jener lichtlosen Schächte werden zu lassen, für die das »steinerne Berlin« einst berüchtigt war, entschieden sich die Architekten, dem Baukörper zur Rosa-Luxemburg-Straße hin jene charakteristische Einkerbung zu verleihen, die wesentlich zu seinem expressiven Charakter beiträgt.
Das bringt im Zusammenspiel mit der verglasten Zone im EG und 1. OG Licht in den Hof und lässt nebenbei Dachterrassen für zwei Mietparteien entstehen.
Aus einer weiteren Besonderheit – der exponierten städtebaulichen Lage der Parzelle – ergaben sich hingegen Probleme, die nur mit Hilfe der Technik gelöst werden konnten. Das L40 steht an einer verkehrsreichen und entsprechend lärmbelasteten Ecke. Da ist nicht nur der Autoverkehr auf der mehrspurigen, stark befahrenen und auch noch als Tram-Trasse dienenden Torstraße, von der just hier die ebenfalls stark frequentierte Schönhauser Allee abzweigt. Da gibt es außerdem, um die Lärmkatastrophe perfekt zu machen, die unterhalb der Rosa-Luxemburg-Straße verlaufende U-Bahn-Linie, die regelmäßig für Erschütterungen sorgt. Gegen diese akustischen und seismischen Zumutungen wurde eine kostspielige elastische Gebäudelagerung realisiert: Das L40 ist also nicht fix mit dem Untergrund verbunden, sondern steht in einer mit Polyurethanschaummatten ausgekleideten Wanne. Den Rest besorgen optimal schallisolierte Fenster.
Wohnen wie im Aquarium
Der Effekt ist verblüffend. Aus den Wohnungen blickt man auf den pulsierenden Großstadtverkehr, der visuell eine ungeheure Präsenz entwickelt und dabei, wie im Stummfilm, völlig lautlos an einem vorbei zu rollen scheint. Gar nicht besonders hingegen sind die Gewerberäume im EG und 1. OG sieht man von den verzerrten Grundrissen, die sich weitgehend aus dem Zuschnitt des Grundstücks ergeben, einmal ab. Ganz anders ist es um die insgesamt acht Wohnungen bestellt: Zwischen 70 und 215 m² groß, bieten sie räumliche Qualitäten und Grundrisslösungen, die man nicht so schnell findet.
Die Kunstsammler-Menschen, die sie bewohnen sollen, das sei vorausgeschickt, sind idealerweise Singles, oder sie leben – wie auch immer verpartnert – zu zweit. Für größere Haushalte (Kinder oder dergleichen) fehlen weniger die Flächen als vielmehr die Räumlichkeiten.
Zum Konzept der Sammlerwohnungen gehören zum einen die großen, geschlossenen Wandflächen, die den Räumen immer wieder eine galerieartige Anmutung verleihen – vor allem in den Wohnungen, die partiell über Oberlichtbänder erhellt werden –, zum anderen aber auch eine klare Differenzierung von (halb-)öffentlich-extrovertierten und privaten, introvertierten Situationen. Während zur letzteren Kategorie vor allem die Schlafräume zählen, die fast immer zum Hof oder zur eher ruhigen Linienstraße hin orientiert sind, liegen die sich nach außen öffnenden Wohnküchen und die eigentlichen Wohnzimmerzonen in der Regel zur Rosa-Luxemburg-Straße hin. Über raumhohe Fenster oder lange Fensterbänder wird hier der Bezug zur umgebenden Stadt gesucht. Dabei korrespondiert der großzügige Ausblick, zumindest bei Nacht, mit einem ebenso großzügigen Einblick in die Wohnungen. Mit anderen Worten, das L40 ist ein Haus für Leute, die nicht nur ihre Kunst gerne anschauen und herzeigen, sondern auch Spaß daran haben, sich selbst und ihr Alltagsleben zumindest partiell auszustellen.
Buhlen um die Gunst der Wenigen
Was sonst noch Erwähnung finden sollte: Die beeindruckende Raumhöhe, die Altbauniveau erreicht und durch extrem hohe Türöffnungen betont wird. Loggien und/oder Dachterrassen, die man gern hätte. Ein schönes, sich immer wieder trichterförmig verengendes Treppenhaus. Die gehobene, durchweg geschmackvolle Ausstattung, die ihren Preis haben wird. Freilich, über Gelddinge mag die Bauherrschaft keine Auskünfte geben.
Haustechnisch bietet das Haus dabei nur Standard: Fußbodenheizung und Warmwassernetz werden konventionell von einer Gastherme gespeist. Schon ungewöhnlicher ist die Konstruktion der Außenwände: Auf Ortbeton als Tragstruktur folgen 80 mm Kerndämmung und eine vorgehängte Schale aus eingefärbtem Leichtbeton (s. Detailbogen ab S. 86).
Die am meisten diskutierte und auffälligste Besonderheit des L40 betrifft seine formale Erscheinung. Die erklärt sich partiell durch die städtebauliche Situation und die intendierte Nutzung. Wenn Roger Bundschuh in diesem Zusammenhang von einer betont anti-bürgerlichen Ästhetik spricht, die durchaus provokativen Charakter haben soll, bezieht er das wohl kaum auf die Gestalt des Baukörpers, denn hier sind die Bezüge zum Formenvokabular des Russischen Konstruktivismus und der Klassischen Moderne zu offensichtlich, um öffentliches Ärgernis zu erregen. Möglicher Stein des Anstoßes ist vielmehr die Fassadenfarbe, für die es in diesem Fall keine rationale Erklärung gibt. Schwarz erregt eben manche Gemüter. Andere mögen es.
Wir finden, das Schwarz passt hier gut ins Programm – nicht allein weil es gewisse Klischees bedient, sondern weil das L40 ja grundsätzlich kein gefälliges Haus sein will. Es buhlt nicht um das Lob der Vielen, sondern setzt auf die Bewunderung der Wenigen, die seine Eigenart zu schätzen und zu nutzen wissen. Man mag es auf der ästhetischen Ebene kritisieren und seine Konzeption als elitär-individualistisch brandmarken. Die Konsequenz und formale Stimmigkeit aber, mit der hier ein besonderes Programm umgesetzt wurde, erscheint vorbildlich. Das L40 ist vielleicht ein Sonderling, aber kein Störenfried. Es fügt sich, eigene Akzente setzend, hervorragend ein in jenen stilistischen Mix, der Berlin über weite Strecken prägt und zu einem architektonisch spannenden Ort macht.db, Di., 2010.08.17
17. August 2010 Mathias Remmele
Hausbesetzung light
(SUBTITLE) Aufstockung eines Gewerbebaus in der Uferstrasse
Immer häufiger fällt der Blick entlang der berühmten Berliner Traufkante auf elegante Penthäuser hinter beeindruckend dimensionierten Dachterrassen. Viele dieser Lofts lassen es als ein Vorrecht Vermögender erscheinen, die exklusivste Etage einer Stadt zu bewohnen. Eine Dachaufstockung auf einem alten Gewerbebau in Berlin Wedding zeigt, dass ein Platz an der Sonne auch preisgünstig zu haben ist, wenn man Mut zum Experiment hat und sich von gewohnten Standards verabschiedet.
Diesen Neubau würde man auf der grünen Wiese erwarten und nicht auf einem Dach im Wedding. Denn was dort seit Kurzem in einem Hinterhof an der Uferstraße über vier gründerzeitlichen Gewerbeetagen steht, ist unverkennbar ein Gewächshaus. Unter der lichtdurchlässigen Hülle aus Polycarbonatplatten gedeihen jedoch nicht die in Berlin beliebten Nutzpflanzen, sondern die Ideen seiner Bauherren, einer Kuratorin und eines Komponisten. Sie sind hier den Beweis angetreten, dass ein Penthaus nicht teuer sein muss.
Inspiriert hat sie der Besuch des Pavillons, den die französischen Architekten Lacaton & Vassal für die Documenta 12 in Kassel im Jahr 2007 entworfen hatten. Die Hülle des Ausstellungsbaus, von dem sich die Architekten wegen seiner museumstypischen Klimatisierung distanzieren, bildeten
Gewächshäuser, wie sie Lacaton & Vassal auch im Wohnungsbau verwenden. Ein solches Gewächshaus auf ein ungenutztes Dach in der Hauptstadt zu stellen, erschien den Berliner Bauherren als Möglichkeit, sich ein preisgünstiges Zuhause zu schaffen – mit Hilfe einer unverhofften Abfindung von 40 000 Euro für ihren vorzeitigen Auszug aus einem zum Verkauf vorgesehenen Gebäude Anfang 2008. Mit Spürsinn und Glück fanden sie einen Hausbesitzer, der ihnen für ihre Zwecke ein Dach eines Gewerbebaus zur Verfügung stellte, für 30 Jahre zur Pacht.
Ringen mit den Behörden
Der kurzen Bauplatzsuche folgte eine vierzehnmonatige Planungs- und Genehmigungsphase, während der die Bauherren und ihr Architekt Christof Mayer mit den Baubehörden um die Verwirklichung des Vorhabens ringen mussten. Der Plan, eine Teilfläche des Dachs ganz zu überbauen, scheiterte an den zum Vorderhaus hin notwendigen Abstandsflächen. Der geforderte Rücksprung führte zur Ausbildung eines langgestreckten Gewächshaus-Baukörpers. Er nimmt mit knapp 15 m die ganze Länge eines Teils des L-förmigen Flachdachs ein, musste allerdings im Südwesten mit einer massiven Stirnwand abgeschlossen werden, als Fortsetzung der Brandwand darunter.
Unter der am Scheitelpunkt 5 m hohen Gewächshaushülle erstreckt sich im Zentrum über ihre ganze Breite von 6,4 m ein fast quadratischer Raum. Wie ein Wintergarten liegt er zwischen zwei niedrigeren, eingeschossigen Einbauten, die in das eng um sie herumgeführte Gewächshaus eingestellt sind. Sie haben aus Brandschutzgründen massive Decken und Außenwände aus dämmendem Gasbeton und bergen die beheizbaren Räume: eine Küche und ein Wohn- und Arbeitszimmer im Nordosten, ein kleines Schlafzimmer, das Bad und ein Windfang im Südwesten.
Die Lasten der Dachaufstockung ruhen auf zwei 50 cm hohen Stahlbetonbalken unter ihren Längsseiten und auf Außenwänden des Altbaus. Die Betonbalken liegen auf der abschließenden Bestandsdecke. Dass diese einst als Decke des im Krieg beschädigten und danach abgetragenen obersten Geschosses diente, war nicht nur statisch, sondern auch für die Erschließung von Vorteil.
Denn daher gelangt man heute vom Treppenhaus auf die Hauptterrasse des Neubaus. Eine weitere Terrasse liegt auf der anderen Seite. Zementgebundene und mit Epoxydharz beschichtete Spanplatten bilden den Bodenbelag beider Terrassen, des Wintergartens und des kleineren der massiven Einbauten. Wie im Innenraum ist das Bodenniveau der kleinen Terrasse und eines Teils der Hauptterrasse erhöht durch eine Unterkonstruktion aus Holz, so dass die Spanplatten schwellenlos innen und außen verbinden, über die auf der Decke liegenden Betonbalken hinweg. Nur der größere Einbau hat einen beschichteten Estrichboden und liegt vier Stufen tiefer. Die Unterkonstruktion im Wintergarten ist durch Bodenklappen und kleine Türen über dem Küchenboden als Stauraum nutzbar.
Ein Hauch von Dach
Die Idee, ein handelsübliches französisches Gewächshaus im urbanen Kontext Berlins einzusetzen, erforderte Anpassungen. Weil es auf einem Dach errichtet wurde und zweckentfremdet zum Wohnen, musste seine Statik neu berechnet werden. Damit die schlanken Hohlprofile der Stahlstützen Wind- und Schneelasten standhalten, wurden sie auf kleinere Profile gesteckt oder punktuell an den massiven Einbauten befestigt. Für die Dachhaut, die nur aus zwei Folien besteht, deren Zwischenraum mit Luft gefüllt ist, bedurfte es einer Ausnahmegenehmigung. Wie zart sie ist, erfuhren die Bauherren schon vor dem Einzug, als eine Sylvesterrakete beide Folien durchschlug. Ein Mitarbeiter des Herstellers flickte das Dach wie einen Fahrradschlauch.
Das Wohnen in der dünnen Gewächshaushülle, die den Raum dahinter ins volle Tageslicht taucht und die Welt draußen optisch in Streifen zerlegt, verlangt Flexibilität. Mehr als in anderen Gebäuden lebt man darin mit den Jahreszeiten und ist abhängig von ihnen.
Im Sommer ist der Raum direkt unter dem Gewächshausdach mit den durch Treppenleitern begehbaren Decken der Einbauten der Lebensmittelpunkt, und wenn die großen seitlichen Schiebetüren der Hülle geöffnet sind, werden auch die Terrassen Teil des Wohnraums.
Doch naturgemäß heizt sich das Gewächshaus in der Sonne schnell auf. Vom Hersteller gesponserte Sonnenschutzvorhänge unter den Fachwerkträgern des Dachs und entlang der Wände verhindern, dass die Hitze ins Raumzentrum dringt.
Eine motorenbetriebene Lüftungsklappe, die oberhalb der Traufe einseitig über die ganze Gebäudelänge reicht, lässt die aufsteigende warme Luft entweichen. Im Winter ist die schnelle Aufheizung bei Sonne willkommen, denn der Aufenthalt zwischen den beheizbaren Einbauten ist auf Dauer sonst nur angenehm, wenn im Wintergarten der Kamin in Betrieb ist – dessen Natursteinverkleidung wirkt wie ein ironischer Kommentar zur ansonsten nüchternen Ästhetik des Baus, die geprägt ist durch das industrielle Gewächshaus, einfache Materialien und die gebraucht gekauften Aluminiumfenster der massiven Einbauten. Wenn die Kälte zum Rückzug in die beheizbaren Teile zwingt, wird es eng, denn dann schrumpft die Nutzfläche von 108 auf 42 m².
Doch »dieser Bau ist ein Experiment«, wie der Architekt Christof Mayer sagt. Und das gilt für das mutige Wohnkonzept wie bei der Beurteilung der Baukosten von unter 600 Euro/m² und des bauphysikalischen Problempunkts, den die von außen nach innen durchgehenden Metallrinnen des Gewächshauses darstellen. Berlin jedenfalls kann mehr solcher Experimente vertragen.db, Di., 2010.08.17
17. August 2010 Frank Thinius