Editorial
Nachfolgen und Internet schauen
Was tun Architekten, wenn sie alt werden: arbeiten bis zum Ende. Die Nachfolge regeln? Das ist so eine Sache. Sprechen tut man nicht gerne darüber, denn wird das Lämplein ausgelöscht, ist das Werk fertig. Hochparterre hat dennoch nachgefragt und widmet seine Titelgeschichte den Bräuchen und Sitten in der Nachfolgeregelungen unter Architekten. Und die Reporterinnen und Reporter haben erstaunliche Modelle gefunden.
Und Hochparterre selbst? Wir sind wie eine Metzgerei oder eine Gärtnerei. An seinem 65. Geburtstag legte Benedikt Loderer den Griffel auf den Tisch, klappte den Pultdeckel zu und brach auf zu neuen Ufern. Als Verwaltungsratspräsident bleibt er der Firma erhalten und, das wird die Leserinnen und Leser mehr interessieren: als Autor auch. Als Gesellschaftsreporter zum Beispiel schreibt er in dieser Ausgabe die «Leute». Schon früh haben Loderer und ich die Nachfolge geordnet und mich zum Mehrheitsaktionär gemacht. Gut ein Dutzend Jahre habe ich als Verleger und Chefredaktor noch vor mir. Bleibe ich gesund und tragen mich die Hochparterris, so bleibe ich mit Lust am Pult. In dieser Zeit werden zuerst Loderers und dann meine Aktien in die Hände jüngerer Hochparterris kommen. Alles wird anders werden, und alles wird gut, denn das Ziel ist, dass auch künftig das Heft und Verlag denen gehören, die hier arbeiten.
Auch von der jüngsten Frau der Firma ist Schönes und Gutes zu melden. Ariane Idrizi hat ihre Lehrabschlussprüfung bestanden und ist nun «eidg. dipl. Kauffrau erweiterte Grundbildung Kommunikation».
Ich gratuliere Hochparterres erster, nun aber nicht mehr Lehrtochter herzlich.
Köbi Gantenbein
Inhalt
06 Meinungen
07 Lautsprecher
08 Funde
11 Sitten und Bräuche
17 Massarbeit
Titelgeschichte
18 Nach mir die Zukunft. Wie regeln Architekturbüros ihre Nachfolge? Die Chefs berichten, Peter Zumthor und Jacques Herzog im Interview.
30 Architektur: Häusergedichte. Heidi und Peter Wenger zeichnen und dichten über Architektur.
32 Design: Drei Mal Regal. Drei Designer nehmen Stellung zum Regal.
36 Landschaft: Der Gartenunternehmer. Enzo Enea in der Gunst der Schönen und Reichen. Ein Porträt.
38 Architektur: Eine Strasse bekennt Farbe. Zwei Neubauten prägen den Zürcher Rigiplatz.
42 Design: Urknall mit Kugel und Kreis. Eine Ausstellung erklärt, was Cern-Physiker tun.
44 Verkehr: Füsse vor. Was will die Begegnungszone? Fussverkehr Schweiz im Interview.
48 Ingenieurbau: Wasser Zähmen. Brückenbauer Conzett und Zumthor bändigen den Valser Fluss.
52 Raumplanung: Dübendorf ohne Flieger. Politikerinnen sprechen zur Zukunft des Flugplatzes.
54 Leute
56 Siebensachen
58 Bücher
62 Fin de Chantier
68 Raumtraum
Eine Strasse bekennt Farbe
Knapkiewicz & Fickert machen mit zwei malerischen Wohnhäusern einen Verkehrskanal zum städtischen Raum. Und beenden so eine endlose Zürcher Planungsgeschichte.
«Erdbeer-Vanille», so werden die beiden neuen Häuser im Quartier, meist liebevoll, genannt. Unten ein kühles Rot, darüber ein grünliches Beige. Schauen wir uns die Fassade genauer an, entdecken wir die Feinheiten, wird aus der Eiscreme Architektur: Die Fenster der beiden unteren, roten Wohngeschosse sind breiter und unregelmässiger gesetzt als die der beiden hellen Etagen darüber.
Die untere Hälfte betont die Horizontale, die obere die Vertikale; unten Strasse, oben Himmel. Zwischen den beiden Farben liegt nicht nur die vom Maler gezogene Grenze, sondern ein beträchtlich breiterer Fenstersturz — unauffällige Zeichen hoher Könnerschaft.
Zwei schöne Häuser sind heutzutage schon selten. An einer solch schwierigen Lage sind sie ein grosser Wurf. Ihre Fassaden richten sich auf eine der Hauptausfallstrassen Zürichs, der Universitäts/ Winterthurerstrasse, die zwei Tramlinien und eine Buslinie mit sich entlang des Zürichbergs führt. Die beiden voneinander getrennten Grundstücke sind im Besitz der Stadt, die sie im Baurecht an die Wohn- und Siedlungsgenossenschaft Zürich abgetreten hat. Lange schirmte man sich gegenüber solchen Strassen mit ihren Blechströmen einfach nur ab, errichtete Bollwerke, innen Nebenräume, aussen Schallschutzwände.
So auch beim Rigiplatz nebenan, der sich mit niedriger Wand, Gestrüpp und unbenutzten Bänken von der Strasse abwendet. Auf seiner nackten Fläche werden mal Velos, mal Weihnachtsbäume verkauft, ansonsten werfen die Designerleuchten lange Schatten.
Den Tischgruppen des «Alten Löwen» fehlt trotz des alten Kastaniendaches das Flair eines Biergartens. Das rund 200 Jahre alte Haus spielt in dieser Geschichte eine zentrale Rolle. Die beiden neuen Häuser auf seiner anderen Seite wenden sich der Strasse nicht ab. Sie nehmen sie als Stadtraum ernst, zeigen stolz ihre städtischen Fassaden und verbreitern mit Arkaden das Trottoir. Das eigentliche Zentrum von Zürich-Oberstrass, das namenlose Plätzchen vor Migros, Seilbahn Rigiblick und Apotheke, setzt sich nun jenseits von Strasse und Tramhaltestelle fort, auch in den neuen Läden des Erdgeschosses.
Gesicht zur Strasse
Das Innere der 19 Wohnungen und 4 Ateliers trägt dieser urbanen Haltung Rechnung: Wohnräume und Küchen blicken über raumhohe, vierfach verglaste Fenster lautlos auf die Strasse, die anderen Räume öffnen sich über spezielle Lüftungserker immer auch über die Kopfseiten der Häuser. Deren öffentliches Gesicht richtet sich zur Strasse, das genossenschaftliche Herz der Wohnungen aber schlägt auf der Rückseite. Dort löst sich die städtische Strenge auf, wird zum luftig sonnigen Wohnidyll mit atemberaubender Aussicht über Zürich.
Die offenen Treppenhäuser gehen in die Wohnungszugänge über, die gleichzeitig private Aussenräume mit Gartentor sind — urbane Anonymität ist da nicht gefragt, es sind Familienwohnungen, die mit den zuschaltbaren Ateliers im grossen Haus auch moderne Lebensentwürfe ermöglichen —nicht wunderlich, wohnen da viele Architekten.
«Erdbeer-Vanille» — noch vor zwölf Jahren gab man der geplanten Überbauung ganz andere Namen: «Plattenbau», «Schuhschachteln», «Dorferneuerungspolitik à la Ceausescu». Als 1998 die Architekten Kaschka Knapkiewicz und Axel Fickert den Wettbewerb am Rigiplatz gewannen, nahm eine bisher unerreichte Schmähkampagne ihren Anfang, mit dem Stadtzürcher Heimatschutz als Drahtzieher siehe «Unendliches Planen am Rigiplatz», Seite 40.
Der Grund: Ein drittes Gebäude der Architekten sollte den räudigen «Alten Löwen» ersetzen, durch den sich seit einigen Jahrzehnten das Trottoir bohrt und der so Gesicht und Adresse verlor. Die Neubaugegner erreichten, dass das alte Haus stehen blieb, zwei Biedermeierhäuser mussten jedoch weichen. Obwohl die beiden neuen Baukörper in ihren Grundzügen dem Wettbewerbsentwurf entsprechen, änderte sich in der Überarbeitung viel: Aus Bandfenstern wurden Lochfenster, aus rechtwinkligen Kuben wurden «weichere» Baukörper, die sich trotz ihrer Grösse an die kleinmassstäblichen Häuser nebenan schmiegen. Dafür sorgen vor allem eigenwillig geformte Anbauten, die sich dem Vorhandenen entgegenstrecken und sich über eine leichte Treppe sogar mit dem «Löwen» verbinden, um einer seiner Wohnungen als Terrasse zu dienen.
Mit sprechenden Details und Materialideen haben die Architekten ihre Häuser in die Umgebung «hineingemalt»: Die leicht geneigten und begrünten Satteldächer enden in Regenrinnen, die verzinkten Stäbe der Loggiengeländer «tanzen», und Sparrenköpfe tragen die Dachüberstände der kupfergedeckten Anbauten, auch wenn diese gar kein Sparrendach haben. «Unsere Häuser wachsen aus dem Milieu heraus», sagen die Architekten. Und: «Am Ende war uns der willkommen.»
Farbig und lustvoll
Die Architektur von Knapkiewicz & Fickert wird zusehends malerischer, das zeigen nicht nur ihre Häuser am Rigiplatz, sondern auch andere Projekte wie die Wohnüberbauung «Lokomotive» in Winterthur siehe HP 12 / 06. Ihre typologische Sicherheit beim Wohnungsbau paart sich mit einem immer breiter werdenden Spektrum stilistischer Möglichkeiten — Berührungsängste kennen sie kaum. Dass es dem Architektenpaar darum geht, ihre Bauten einzupassen, nicht jedoch zu verniedlichen, das zeigt die mächtige Betonstütze an der Rückseite des grossen Hauses: Sie steht frei vor den Loggien und macht die dortige Höhe von sieben Geschossen körperlich spürbar. Unmittelbar daneben malte der Künstler Franz Wanner ein Fresko, das die Baustelle des Hauses als eine Art Gründungsmythos zeigt. Kleine Landschaften schmücken die farbkräftigen Treppenhäuser. Die Irritation, die diese Kunstwerke auslösen, setzt sich im Innern der Wohnungen auf andere Art fort.
Lustvoll und augenzwinkernd kombinierten die Architekten da Materialien, um Allerweltslösungen zu vermeiden — das Budget war eng, und genossenschaftliche Bauherren sind nicht immer geschmackssicher. So schmücken honigfarbige Glasmosaike die Bäder und Tropenholzimitat die Küchenschranktüren — manche potenzielle Mieter konnten da gar nicht drüber lachen und sprangen ab, so hört man. Die Liste der Interessenten war trotzdem lang, denn neben Lage und Aussicht ist auch die räumliche Qualität hoch: Jeder der nur 2,40 Meter niedrigen Räume hat mindestens zwei Türen, auch die Bäder. So werden in der Wohnung viele Wege möglich, und eine relativ kleine Wohnung wirkt grösser.
Im Quartier sind die Schmährufe rar geworden. Vielleicht liegt es an der Bewohnerstruktur, die sich in den letzten Jahren aufgefrischt hat. Vielleicht liegt es am neuen Quartierladen, der Produkte aus der Region verkauft. Vielleicht liegt es aber auch an der Erscheinung der beiden Neubauten und daran, dass sie aus dem Hindernis und der Lärmquelle Strasse wieder einen Stadtraum gemacht haben. Heute hört man Sätze wie: «Die Häuser sind so schön, dass man zu Architekten wieder Vertrauen gewinnt.»hochparterre, Mo., 2010.08.23
23. August 2010 Axel Simon
Wasser zähmen
Conzett und Zumthor bauen gemeinsam den neuen Hochwasserschutz in Vals. Und dem Dorf ein neues Wahrzeichen. Wasser zähmen
Regen und Schmelzwasser verwandelten den Dorfbach in einen reissenden Strom und liessen ihn schliesslich über die Ufer treten. Die Einwohner von Vals standen auf ihrem verwüsteten Dorfplatz und diskutierten, geschlossen in die USA auszuwandern. Dank kantonaler Hilfe blieben sie. Das war vor 142 Jahren. Im Juni 2010 feiern sie ihre neuen Hochwasserschutzbauten und mit ihnen ein neues Wahrzeichen, eine Brücke aus Stein. Ein Schülertheater spielt die historische Gemeindeversammlung auf dem Dorfplatz nach. Die Sonne scheint, der Valser Rhein plätschert, und es braucht schon viel Fantasie, die wuchtigen Mauern, die nicht weniger wuchtige Brücke und das Rinnsal darunter in einen Zusammenhang zu bringen.
Der Fluss
Jeder Valser erinnert sich an die Jahre, als der Rhein es besonders toll trieb. Mit Stausee, Mineralwasser und Therme brachte das Wasser den Wohlstand in die Gemeinde, es brachte aber auch immer wieder Leid. Und die Dorfbewohner reagierten. Nach dem Hochwasser von 1927 bauten sie die Dorfbrücke neu, ein schlichtes Stahlfachwerk, nach dem von 1954 kam die Staumauer, deren Rückhalt eine Katastrophe verhinderte, als 1987 die Regenmenge sogar jene von 1868 übertraf. Als 1999 abermals einige Häuser im Wasser standen, stattete die Gemeinde die Dorfbrücke mit einer Hebevorrichtung aus und gab Studien in Auftrag. Sie zeigten die prekäre Lage: Die Kirche und mit ihr der Dorfkern lagen in der Gefahrenzone. Damit mehr Wasser abfliessen kann, musste das Durchflussprofil des Flusses vergrössert werden. Das Projekt eines Ingenieurbüros schlug die technisch übliche Lösung vor, eine Erhöhung der seitlichen Dämme. Die Böschungen liefen bedrohlich weit in die Gärten hinein und rückten der ersten Häuserreihe auf den Leib. Die Valser protestierten, und der Gemeinderat stellte eine Begleitgruppe zusammen, die das Projekt Hochwasserschutz zur Dorftauglichkeit bringen sollte. In Gestaltungsfragen suchte die Gruppe, der auch der ehemalige Bündner Denkmalpfleger Diego Giovanoli angehörte, den Rat von Peter Zumthor und Jürg Conzett.
Die beiden schlugen vor, die vorhandenen Dämme durch Schutzmauern zu ergänzen, was die Gemeinde schliesslich annahm — nach einer «freundschaftlichen und harten Entscheidungsfindung», wie sich Giovanoli erinnert.
Die Mauern
Die neuen Mauern und die Brücke sind aus Valser Gneis, dem Stein, der etwas oberhalb des Dorfes aus dem Berg gebrochen wird. Er deckt die Dächer des Tales, und die Welt kennt ihn, seit Peter Zumthor daraus vor 14 Jahren seine Therme baute. 2006 begannen die Bauarbeiten der Schutzmauern. Zumthor, Conzett und Steinlieferant Truffer tüftelten ein günstiges Zurichten der Gneisbrocken aus. Ein paralleler Schnitt sorgte für eine einheitliche Breite und glatte Vorder- und Rückseiten, die grob belassenen Umrisse führten zu handbreiten, unregelmässigen Fugen. Als neues Rückgrat des Dorfes ragen die Mauern bis zu fünf Meter vom Boden des Flussbetts auf. Dorfauswärts verringern Wiesenböschungen die Höhe der Mauern, bis diese schliesslich in den Böschungen enden und das verbreiterte Bett nur noch von diesen gefasst wird. Statt wie bisher Erlen säumen nun neue Leuchten die für Vals wichtigen Spazierwege entlang des Wassers. Die von Peter Zumthor gestalteten, eleganten, dunklen Peitschen zeichnen zarte Lichtpunkte auf den Mergelboden.
Als Teil der Flussverbauung mussten drei neue Brücken her: eine neue Dorfbrücke, je eine kleinere flussauf- und flussabwärts. Conzetts Skizzen überzeugten die Berater, und die Gemeinde beauftragte ihn mit dem Bau aller drei Brücken. Die beiden kleineren bestehen aus je einem geraden Hohlkastenträger aus Cortenstahl mit Edelstahlgeländern und sind auch im Rollstuhl gut zu queren — das Altersheim liegt unmittelbar am Dammweg. Die obere Milchbrücke klappt im Fall der Fälle hydraulisch über die brausende Flut. Die Rovanadabrücke in der Nähe des Ortseingangs ersetzt zwei bestehende Betonbrücken und sitzt fest zwischen den neuen, etwas unsensibel angelegten Böschungen.
Die Hauptbrücke
Das Prunkstück ist die steinerne Brücke in der Mitte von Vals. Sie führt die Kantonsstrasse auf den Dorfplatz. Die geometrischen Bedingungen waren eng: Die steile Rampe zwischen Brücke und Platz sollte nicht noch steiler werden, gleichzeitig musste das Durchflussprofil der Brücke möglichst gross sein. Das sprach entweder für eine komplizierte Hubvorrichtung oder für eine Brücke, die schwer genug ist, den Wassermassen standzuhalten. Conzett baute die Brücke massiv aus Valser Stein, wie einst Zumthor seine Therme — wohlgemerkt: Bei beiden Bauten ist der Stein nicht bloss Verkleidung, er trägt. Eine Bogenbrücke legte das Material nahe. Der Ingenieur kreuzte sie mit einer Trogbrücke, um einen freien Durchfluss zu garantieren und das Wasser von der Strasse und dem Platz fernzuhalten. Die expressive Form, die sich daraus ergab, markiert nun den Ort des Übergangs.
Eine starke Form, doch erscheint die Brücke einfacher, als sie ist, geometrisch wie konstruktiv. Die beiden seitlichen Mauerscheiben sind zwar gleich und auch in sich symmetrisch, allerdings sind sie durch die schräge Lage der Brücke gegeneinander verschoben. Damit sich die Fahrbahnplatte dabei nur in eine Richtung wölbt, gab Conzett ihr die Form eines Zylinderausschnitts. Konstruktiv wollte er auf Klammern, Bügel oder Stangen verzichten, stattdessen Stein und Beton kraftschlüssig verbinden, miteinander verzahnen. Angeregt durch die Mauerkronen der Albulabahn-Viadukte mit ihren Konsolsteinen und Abdeckplatten ersann er eine leicht gewölbte und vorgespannte Betonplatte mit zwei seitlichen Reihen stehender, leicht konischer Betonbalken. Um diese herum schichteten die Arbeiter aus Steinplatten die flachen Bögen. Eine komplizierte Konstruktion: Die Fahrbahnplatte hängt mit den Betonbalken an den Bögen und übernimmt gleichzeitig mit Vorspannkabeln deren Zugkräfte.
Der Stein
Da die Steinplatten dasselbe Format haben wie jene der Therme, ist uns die Oberfläche vertraut. Das allerdings sei keine Marketing-Idee, so die Planer, sondern resultiere — ebenso wie die Steine der Mauer — aus einer möglichst ökonomischen Produktion, konkret aus einer Maschine des Steinbruchs, die aus einem Block mehrere Platten parallel sägt. Am unteren Rand der Mauerscheiben wird die Verzahnung von Stein und Beton zum gestalterischen Thema: Betonzinken und Pakete aus jeweils vier Steinplatten greifen ineinander. In den Mauerkronen bedecken quadratische Steinplatten die Köpfe der Betonbalken. Laut Conzett kostete die Steinkonstruktion nur 300 000 Franken mehr als andere Konstruktionen. Auch wenn der Tourismusverein «visitvals» die Brücke schon als neues Wahrzeichen feiert: Das Dorf empfängt die Brücke nicht nur mit offenen Armen, tat es nie. Viele Dorfbewohner zweifeln daran, dass sie sich im Alltag bewährt. Sie sei vom Auto aus schwer einsehbar, die gebuckelte Fahrbahn aus Stein würde schnell vereisen, ein Blick aufs Wasser sei nicht möglich. Eins jedoch ist sicher: Der Ort ist anders, seit es die Brücke gibt. Ihre elegant gefügte Schwere zeigt schön, worum es ihrem Erbauer geht: mit einer besonderen Konstruktion dem besonderen Ort eine Form zu geben. Ihre schräge Achse nimmt die Richtung der Kirche auf, deren Turm und schmuckloses Schiff den Dorfplatz von schräg hinten dominieren. Wer über den mit Stein belegten Brückenbuckel geht, durchschreitet überrascht einen Raum. Dieser blendet einen Teil der Umgebung einen Moment lang aus, fokussiert dafür einen anderen Teil. Nicht umsonst fand die Pressekonferenz zur Eröffnung der Brücke an einem Tisch mitten auf ihr statt. Ein Fragezeichen bleibt: Die Beziehung zwischen den Zyklopenmauern und der Dorfbrücke.
Zwar ist ein und dasselbe Material da rau, dort fein, da grob geschichtet, dort komplex gefügt, doch fehlt ein Übergang: Die beiden Massstäbe prallen unvermittelt aufeinander. Die gestapelten Steinkolosse der Mauer heben kurz vor den kunstvollen Bögen an, nehmen sie unverfroren in die Zange, statt sie als Verfeinerung ihrer selbst zu feiern. Die Brücke jedoch ist ein Kunstwerk, ist nun, zusammen mit der Kirche, das monumentale Bauwerk am Platz.
Beide, Brücke und Kirche, erzeugen eine Spannung, setzen den Raum dazwischen unter Strom. Mit selbstverständlichem Pathos erzählt uns das Brückenbauwerk aus Stein von der drohenden Gefahr des Wassers in Vals.
Von Vals nach Venedig mit Jürg Conzett
Interview: Axel Simon
Ende Monat öffnet die diesjährige Architekturbiennale in Venedig ihre Tore, vom 29. August bis 21. November). Das Bundesamt für Kultur beauftragte den Ingenieur Jürg Conzett (54) mit der Ausrichtung des Schweizer Beitrags. Bei einem Spaziergang entlang des Valser Rheins gab er Auskunft.
Ein Ingenieur vertritt die Schweiz an der Architekturbiennale?
Ich war überrascht und erfreut, als die Anfrage kam: Ingenieurbauten sind Teil der Architekturlandschaft!
Was wird uns im Schweizer Pavillon in den Giardini erwarten?
Bei der Frage, was stellen wir aus, war ich vollkommen frei. Eine Werkschau interessierte mich nicht. Das kennt man. Stattdessen mache ich zusammen mit dem Fotografen Martin Linsi eine Ausstellung mit dem Thema «Landschaft und Kunstbauten». Wir haben Brücken und andere technische Bauten in der Schweiz besucht, die mir persönlich etwas bedeuten. Zu den Fotos gibt es dann Texte von mir. Eine relativ konventionelle Ausstellung, aber keine kunsthistorische Einordnung. Ich möchte die Tradition der konstruierten Bauten aufzeigen und damit auch Stellung beziehen gegen den starken Designanteil im heutigen Brückenbau.
Haben Sie ein konkretes Beispiel einer ausgewählten Brücke?
Der Goldach-Viadukt aus den Sechzigerjahren ist eine schnörkellose Betonkonstruktion. Martin Linsi fotografiert langsam. Erst nach einer Weile bemerkst du viele Sachen: Die Pfeilerstellung als Rahmung der Landschaft, die ganzen Verhältnisse — das ist alles durchdacht. Da wurde nie gross drüber geschrieben, aber man merkt: Es ist ein wohlüberlegtes Bauwerk mit einem Landschaftsbezug. Das ist das Thema!
Gibt es einen zeitlichen Rahmen für die Auswahl?
Ich habe relativ wenige zeitgenössische Bauten ausgewählt, viele alte, bis zurück ins Mittelalter. Auch ein paar eigene Arbeiten sind reingerutscht, was aber nicht gross auffällt.
Was, glauben Sie, interessiert die internationale Architektenschaft an alten Schweizer Brückenbauwerken?
(lacht) Das ist das, was ich liefern kann: eine persönliche Sicht auf Bauten, die sonst nicht wahrgenommen werden. Ich hoffe, das, was einen persönlich packt, strahlt auch aus und stösst auf Interesse.hochparterre, Mo., 2010.08.23
23. August 2010 Axel Simon
Am Bahnhof gestapelt
Die symmetrische Gestalt des historischen Winterthurer Bahnhofgebäudes täuscht: Seit je ist das eine Ende, wo die Altstadt liegt und die Bus se warten, viel belebter als das andere, wo einst die Milch aus dem Tösstal angeliefert wurde und sich die SBBAngestellten in der Milchküche verpflegten. Folgerichtig hat die Kommerzialisierung des Bahnhofs vor zehn Jahren am belebten, südlichen Teil begonnen. Dort baute Oliver Schwarz das «Stadttor» — Jahre bevor die grossen Bahnhöfe «Railcity» getauft wurden [siehe HP 4 / 01].
Als Gegenstück realisierten AGPS Architekten nun das «Stellwerk Railcity», ein Büro und Geschäftshaus mit einem Veloparking im Unter Geschoss. 160 Meter lang soll das Haus werden — falls die zweite Etappe auch realisiert wird. Vor läufig muss man sich mit der Hälfte begnügen. Drei Teile stapelten die Architekten übereinander: das Erdgeschoss mit ausladendem Vordach, das Hauptvolumen mit drei Büro geschossen und ein kürzeres zweigeschossiges Volumen, das über die eine Ecke hinausgeschoben ist. Das Motiv der Stapelung, verstärkt durch das dunkle «Fugengeschoss» des 3. Stocks, bricht die Höhe des Gebäudes und zieht es optisch in die Länge. Da nicht klar ist, wann (und ob überhaupt) die zweite Etappe realisiert wird, musste das halbe Gebäude als ganzes Haus erscheinen. So wartet zwar die geschlossene Wand auf den Weiterbau, doch die beiden auskragenden Geschosse verwischen den Brandmauercharakter. Blechpaneele in unterschiedlichen Grautönen und mit einem je nach Baukörper variierenden Rhythmus kleiden das Gebäude ein und unterstützen die Stapelung. Wie bei anderen Projekten von AGPS siehe HP 11 / 06 wurde bei der Gestaltung der Fassade die Künstlerin Blanca Blarer beigezogen. Dort, wo unter dem Vordach die Unterführung auf den Platz mündet, ist die strenge Ordnung unterbrochen: Da liess Blanca Blarer die Bleche des Vordachs «aus der Reihe tanzen» und im imaginären Fahrtwind der Züge flattern. Die Kommerzialisierung der «Railcity» Winterthur erreicht da bei weitem nicht das Mass des «Stadttors» am anderen Ende: Die Raiffeisenbank hat sich den einen, bei der Unterführung prominent gelegenen Laden gesichert, Migrolino ist in den anderen eingezogen. Für die Stadt von grösserer Bedeutung sind jedoch die Veloparkplätze im Untergeschoss, mussten dem Neubau doch zahlreiche Abstellplätze weichen, an denen viele Kantischüler ihren Drahtesel über Nacht deponierten.hochparterre, Mo., 2010.08.23
23. August 2010 Werner Huber