Editorial

«Musik und Architektur» zu titeln ist vollmundig und erhebt nicht den Anspruch, das weite Feld auch nur annähernd zu beackern, sondern sich mit den Heften «Literatur und Architektur» (TEC21 42-43/2008) und «Film und Architektur» (TEC21 48/2009) zu einer lockeren Reihe zu fügen. In einem Atemzug spannt sich das Gebiet auf zwischen Johann Sebastian Bachs architektonisch komponierter «Kunst der Fuge» und György Ligetis miniaturisiertem Wolkenkratzer der Partitur von «Atmosphères»; zwischen der venezianischen Mehrchörigkeit, die im Markusdom ideale Verhältnisse fand, um die Sänger und Instrumentalisten an mehreren Orten im Kirchenraum zu platzieren, und Edgar Varèses «Poème Electronique». Dieses elektronische Gedicht, das 1958 in Brüssel über 400 durch den Raum bewegte Lautsprecher ausgestrahlt wurde, hatte in Iannis Xenakis‘ und Le Corbusiers hyperbolisch-paraboloidem Philips-Pavillon das kongeniale Gefäss, um eine Überlagerung verschiedener Klangräume zu bewirken, die Wahrnehmung der Musik je nach Standort des Zuhörers zu verändern.[1] Die Entwicklung bewegte sich von Schellings Metapher der Architektur als erstarrter Musik[2] bis zu Le Corbusiers Überzeugung: «This type of sculpture belongs to what I call acoustic art; in other words, these forms emit and listen.»[3]

Die adäquate Hülle für experimentelles Musikschaffen suchte nun auch COOP HIMMELB(L)AU im «Pavillon 21 MINI Opera Space» für die Münchner Opernfestspiele. Die Lösung fand dessen Design Principal Wolf D. Prix gewissermassen in der Umkehrung: Die Beziehung zwischen Architektur und Schall spielt sich im Aussenraum ab, dem der Bau sozusagen den Schall entzieht, um Ruhe für das musikalische Innenleben zu schaffen. So erinnert er an den oberen Teil des Nadelspitzenkristalls, dessen unterer sich in Xenakis‘ Pavillon manifestierte (Abb. 4, S. 16).

Gleichsam der Antipode dazu ist der Infopavillon zur Elbphilharmonie in Hamburg 
(«Lautsprecher», S. 22). Er lädt die Umgebung mit akustischen Signalen konzertanter Musik auf. Beide Bauten aber sind flüchtig – wie die Musik, die sie thematisieren.
Rahel Hartmann Schweizer

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Long John in Reinach

10 MAGAZIN
Akustik simulieren | Nachhallzeit optimieren | Ämter und Ehren

16 SCHALLWELLENBRECHER
Rahel Hartmann Schweizer
Der Philips-Pavillon 1958 an der Weltausstellung in Brüssel ist ein Bezug bei COOP HIMMELB(L)AUS Bau für die Münchner Opernfestspiele. Während Xenakis’ und Le Corbusiers Werk indes eine Verräumlichung der Musik im Innern war, fungiert der «Pavillon 21 MINI Opera Space» als gegenkoppelnder Soundscape der aussenräumlichen Geräuschkulisse.

22 LAUTSPRECHER
Monika Isler
Mit freiem Blick auf die Baustelle der Elbphilharmonie steht auf der obersten Ebene der Hamburger Magellanterrassen ein Kubus. Der Infopavillon Elbphilharmonie, errichtet vom Hamburger Studio Andreas Heller, ist ein abstrakt gehaltener Körper, im unteren Bereich schwarz und geschlossen, im oberen Teil verglast und durchlässig: Die Schmuckschatulle für das Akustikmodell.

27 SIA
Baukultur in Europa | Swiss Tunnel 
Congress 2010 | Verbrechen lohnt sich | Aus Winterthurs Unterwelt

31 PRODUKTE

37 IMPRESSUM

38 VERANSTALTUNGEN

Schallwellenbrecher

Die berühmteste Verbindung zwischen Musik und Architektur im 20. Jahrhundert schufen Iannis Xenakis und Le Corbusier 1958 mit dem Philips- Pavillon an der Weltausstellung in Brüssel. Er ist ein Bezugspunkt für Wolf D. Prix beim Projekt von COOP HIMMELB(L)AU für den Pavillon für die Münchner Opernfestspiele. Doch während der Philips-Pavillon eine Verräumlichung der im Innern aufgeführten Musik, des Poème Electronique von Edgar Varèse, darstellte, fungiert der «Pavillon 21 MINI Opera Space» als gegenkoppelnder Soundscape der aussenräumlichen Geräuschkulisse.

2003 war die letzte, im Zweiten Weltkrieg entstandene Baulücke Münchens mit der Neubebauung des Marstallplatzes im Herzen der Altstadt geschlossen worden. Die Berliner Architekten Gewers, Kühn und Kühn (GGK Architekten) bauten den Maximilianhof, den Bürkleinbau und das Probengebäude der Bayerischen Staatsoper. Dessen Fassade wurde vom Künstler Olafur Eliasson «bespielt». Er hängte der Wand eine Hülle aus Glas vor, die zum Prospekt des Platzes wird. Oben und unten in verschiedenen Winkeln montiert, reflektieren die schimmernden Farbeffektgläser des oberen Bereichs den Himmel über dem Platz, der untere dagegen «bildet» die Menschen und das Geschehen auf dem Marstallplatz «ab». Der Platz wird so zu Auditorium und Bühne, die Fassade zu einem Echtzeit-Raum eines «Theaterstücks», das sich auf dem Platz abspielt. So empfinden sich die Passanten auf dem Platz auch gleichermassen in einem Innen- wie in einem Aussenraum. Das macht sich COOP HIMMELB(L)AU zunutze beziehungsweise verstärkt den Effekt und ergänzt die optische um eine akustische «Täuschung» bzw. Irritation: die auditive Wahrnehmung des Platzes als Innenraum. Zwischen Olafur Eliassons Fassade, dem Marstall und dem Max-Planck-Institut hat das Wiener Architekturbüro den «Pavillon 21 MINI Opera Space» platziert. Er beherbergt im Rahmen der Opernfestspiele noch bis am 31. Juli 2010 experimentelle musikalische Gastspiele.[1]

Partituren wie Grundrisse

In der Genese des Büros COOP HIMMELB(L)AU spielt Musik eine zentrale Rolle. Und auch den Impuls des Entwurfsprozesses ortet der Architekturhistoriker Jeffrey Kipnis, der die Bauten formal in Blasen, Flügel, Wracks und Nebelbänke klassifiziert, in der Musik.[2] Wolf D. Prix selber bezeichnet Musik als Teil seines Denkens: «Wenn ich mir von Cage die Notationen anschaue, lese ich da Grundrisse.»

Dennoch ist der «Pavillon 21 MINI Opera Space» das erste im engeren Sinn «musikalische» Projekt, das die Wiener Architekten je realisiert haben – wenn man von der Inszenierung des «Weltbaumeisters» 1993 zum Festival Steirischer Herbst in Graz absieht. Eine Verbindung zwischen beiden Projekten gibt es: «Damals waren auch Notenbilder in verschiedenen Sequenzen der Ausgangspunkt des Entwurfs». Beim Pavillon sind es je eine Sequenz aus Jimi Hendrix’ «Purple Haze» und Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Don Giovanni».

„Fliegender“ Leichtbau kontra gravitätische Akustik

Doch vor der Kür war die Pflicht zu bewältigen, die darin bestand, den inneren Widerspruch der Bauaufgabe aufzulösen. Gefordert war nämlich ein temporärer, zerlegbarer und transportabler Pavillon für Musikdarbietungen, denen rund 300 Personen beiwohnen können – ein «fliegender» Leichtbaukörper also, was «in absolutem Kontrast zu den Anforderungen an die Akustik steht» (Prix): Dem über einer Unterkonstruktion aus Stahlprofilen mit Aluminiumpaneelen verkleideten Bau fehlt die für eine gute Akustik unabdingbare Masse (vgl. Kasten «Spikes» S. 20). Wolf D. Prix wandte sich daher zunächst dem Aussenraum zu bzw. entschloss sich, die akustische Qualität im Innern zu optimieren, indem er Einfluss auf diejenige des Aussenraums nahm. «Wir mussten ein Volumen schaffen, das die akustischen Eigenschaften im Innenraum erhöht, indem wir das Gebäude vom Aussenraum abschirmen. Wir haben also eine Form generiert, die gleichzeitig zerlegbar und relativ schnell auf- und abbaubar ist und deren Oberfläche den Schall entweder reflektiert oder schluckt.» Als Ideal schwebte Prix ein akustisches schwarzes Loch vor, von dem der Lärm des Motorengeräuschs eines Autos geschluckt würde: «Die Vorstellung war, dass das Geräusch, sobald der Wagen den Pavillon passiert, gleichsam verstummt.»

Die Akustiker von Arup ersannen zusammen mit COOP HIMMELB(L)AU gewissermassen ein negatives Soundscape, eine «Klanglandschaft der Dämpfung» (Prix), und fokussierten auf drei Angriffsflächen: Abschirmung des Platzes von der Strasse, Ausformulierung der Geometrie des Pavillons dergestalt, dass es zwischen seinen Fassaden und denjenigen der umgebenden Bauten nicht zu Widerhall kommt, und Vergrösserung der Oberfläche des Pavillons durch ihre Auflösung in keilförmige Elemente, die Schall absorbieren und reflektieren bzw. ablenken (vgl. Kasten «Spikes» S. 20).

Visualisierter Klang als akustische Gegenkoppling

Neben den Parametern der Lärmabschirmung, der Konstruktion als Leichtbau, den Kosten und der flexiblen Bespielung mit klassischer Bestuhlung, als Arenatheater und mit Bankettelayout war den Architekten auch an einer Form gelegen, die den Platz nicht nur akustisch beeinflussen, sondern auch optisch in einem andern Licht erscheinen lassen würde. Der Pavillon ist daher nicht nur akustisch eine Gegenkopplung, weil die Hülle den Lärm der Strasse «neutralisiert», sondern auch optisch, weil er gewissermassen einen visualisierten Klang zurückwirft.

Diesen haben COOP HIMMELB(L)AU in einem klassischen und einem modernen Musikstück gefunden – Lieblingsstücke von Wolf D. Prix: Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Don Giovanni» und Jimi Hendrix‘ «Purple Haze». Je eine Sequenz haben sie aus den beiden Werken extrahiert: Im Falle «Don Giovannis» ist es dessen Begegnung mit dem steinernen Gast, der Statue des Komtur, dessen Einladung zum Essen er quittiert mit «Non ho timor: Verrò!». Aus «Purple Haze» ist es die Liedzeile «Scuse me while I kiss the sky», die einst auch die Inspirationsquelle für die Namensgebung des Büros COOP HIMMELB(L)AU war.

Die ausgewählten Sequenzen wurden zunächst mittels digitaler Signalverarbeitung in einem Oszillogramm visualisiert. Daraus wurde ein kurzer Ausschnitt von drei Sekunden gewählt und mittels Diskreter Fourier-Transformation (DFT) analysiert. Die resultierende Spektrogramm- Darstellung wurde nun auf die Geometrie des computergenerierten 3D-Modells einer quaderförmigen Box kartografiert. Im nächsten Schritt wurde die spektrogrammatische Darstellung mit der Wellenform des Oszillogramms überlagert, um eine dreidimensionale Oberflächenstruktur aus pyramidenförmigen Spikes zu generieren. Die Höhen und Grundflächen dieser Keile leiten sich aus Lautstärke, Frequenz und Zeit ab.

Glätten, verzerren - tunen

Die von Spikes übersäte Oberfläche des Modells war nun gewissermassen in einen andern Aggregatszustand überführte Musik. Um dieses verkörperlichte Klangspektrum, die «Spikes», so zu manipulieren, dass sie den Soundscape modulieren, wurden sie «wie in einem Feedback zwischen Form, Inhalt, Kosten, Wünschen des Klienten und stadträumlichen Überlegungen» verzerrt, geglättet – getunt. So resultiert etwa die markanteste Verformung auf der Nordseite aus der akustischen Forderung, den Eingangsbereich dahinter überproportional stark abzuschirmen, und aus der funktionalen Bedingung, eine Lounge-Bar zu integrieren. «Das ist es, was ich so liebe; es schaut zufällig aus – aber es ist nicht chaotisch: Der Ansatz ist ein wilder, aber die Durcharbeitung ganz und gar nicht.» «Überformt» wird die akustische Dimension schliesslich noch mit einer elektromagnetischen.

Das Medientechnologie-Unternehmen CAT-X bespielt den Bau mit einer interaktiv konzipierten Lichtinstallation. Die Idee war, dass die Beleuchtung mit den Klängen im Innern «harmoniert», die Musik nach aussen diffundiert. Analog zur formalen Strategie des architektonischen Konzepts, die Oberfläche über die Transformation der Spektralinformation einer Klangsequenz zu generieren, werden die Lichtprojektionen über die Umwandlung der Audiosignale erzeugt – allerdings in Echtzeit. Die als verräumlichter Klang gebildete Form wird dynamisiert. Sie wird flüchtig – wie die Musik, die im Innern gespielt wird.

Akustik als Dimension der Kontextualisierung

Für die Konzeption eines Baus, der als eine Art negatives Feedback funktioniert, als Gegenkopplung, sieht Prix ein bislang unausgeschöpftes Potenzial: «Es würde möglich, Material zu sparen, wenn es gelänge, die Akustik bzw. den Lärmpegel durch die Form so zu beeinflussen, dass nicht mehr tonnenschweres Material verwendet werden müsste.»

Für die Beruhigung des öffentlichen Raums, dessen akustische Verschmutzung Raymond Murray Schafer zwar schon 1977 beklagte,[3] der aber kaum je kreativer als mit Lärmschutzwänden zu Leibe gerückt wird, könnte der Pavillon ein Impuls sein. Und ein Anstoss auch für zwei Dauerbrenner in der Architekturkritik: Die Verschmelzung von Innen- und Aussenraum wäre nicht mehr nur auf die visuelle Ebene beschränkt, sondern könnte auch akustisch ausgelotet werden. Denn die Neutralisierung des Lärms verleiht dem Platz Innenraumqualitäten.

Damit gekoppelt ist Prix’ Wink an die «Kontextfanatiker», deren allfälliger Kritik an dem zerzausten Pavillon er vorgreift: «Wenn man sich nicht auf die visuellen Qualitäten der Proportionen kapriziert, sondern die akustische Dimension – das Geräusch oder den Ton – ebenso in die Beurteilung der Kontextualisierung einbezieht, wie die Bewegung und das Licht, dann schaut die Architektur ganz anders aus.»

A propos «zerzaust»: Als Wolf D. Prix vor gut einem Jahr das Projekt für den temporären Pavillon mit den Worten aus Herman Melvilles «Moby Dick» präsentierte – «Ich wollte, der Wind hätte einen Körper»[4] –, liess dies an einen Cluster von windzerfetzten Segeln denken. Nun, da er gebaut ist, erweckt der «Pavillon 21 MINI Opera Space» optisch eher den Eindruck eines zersplitterten (Schall-)Wellenbrechers. Akustisch erregt er eine andere Assoziation: Vom Jazz-Saxophonisten Sonny Rollins geht die Legende, er habe seinen grossen Sound unter anderem dadurch entwickelt, dass er in den späten 1960er-Jahren auf der Williamsburg Bridge gegen den Verkehrslärm anblies.[5] COOP HIMMELB(L)AUS Pavillon ist (auch) ein Resonanzkörper, der gegen den Lärmpegel «anspielt».


Anmerkungen:
[01] Eröffnet wurde der «Pavillon 21 MINI Opera Space» am 24. Juni mit dem Afrika-Projekt «Remdoogo – Via Intoleranza II» von Regisseur Christoph Schlingensief, das er mit Künstlern aus dem Operndorf in Burkina Faso entwickelte. Die weiteren Veranstaltungen finden sich unter www.bayerische.staatsoper.de. Geplant ist, den Pavillon während vier Spielsaisons zu nutzen. Durch die modulare Bauweise kann er in Container verpackt und andernorts wieder aufgestellt werden. Eine konkrete Anfrage liegt von der Stadt Augsburg vor. Interesse signalisiert haben London und Paris. (www.bayerische.staatsoper.de)
[02] Jeffrey Kipnis, «II. Aufruhr auf der Ringstrasse»; in: Peter Noever (Hrsg.): COOP HIMMELB(L)AU: Beyond the Blue. Prestel, München, 2007, S. 42–50
[03] Raymond Murray Schafer: The Tuning of the World. Knopf, New York, 1977
[04] Wolf D. Prix Prix, Vortrag vom 29. Juni 2009 anlässlich der Eröffnung der Münchner Opernfestspiele: «Would now the wind but had a body [...]» in: Herman Melville: Moby Dick or The Whale, Kap. 135, 1851
[05] Dass die Hängebrücke über den East River einst sein «Probelokal» war, ist nicht nur eine Saga, wie Sonny Rollins in einem Interview mit Beat Blaser bestätigte, welches das Schweizer Radio DRS 2 am 17. April dieses Jahres ausstrahlte

TEC21, Fr., 2010.07.02

02. Juli 2010 Rahel Hartmann Schweizer

Lautsprecher

Mit freiem Blick auf die imposante Baustelle der Elbphilharmonie steht auf der obersten Ebene der Hamburger Magellanterrassen ein Kubus. Ein abstrakt gehaltener Körper, im unteren Bereich schwarz und geschlossen, im oberen Teil verglast und durchlässig. Aus der Orthogonalität und dem Massstab seiner Umgebung ausbrechend, nachts mittels Beleuchtung sogar vom Boden abgehoben, behauptet sich der kleine Bau auf diesem zentralen Platz der Hafencity: der Infopavillon Elbphilharmonie, errichtet vom Hamburger Studio Andreas Heller.

Der Pavillon steht sowohl geometrisch als auch inhaltlich in Beziehung zur Elbphilharmonie: Er ist auf die rechte Kante des Kaispeichers A und damit auf den Sockel der Elbphilharmonie ausgerichtet und beherbergt eine Ausstellung, die über die Architektur und den musikalischen Betrieb der von Herzog & de Meuron entworfenen Elbphilharmonie informiert. Zudem kann im Obergeschoss das 1:10-Modell des grossen Konzertsaals besichtigt werden. Der dreigeschossige Pavillon ist als «fliegender Bau» konzipiert und kann nach Erfüllung seiner Aufgabe leicht entfernt werden. Das Ephemere des Baus sowie die Lage am Wasser legte die Ausführung in Stahl nahe. Die Abmessungen des Kubus spielen mit ihren 10 × 10 × 10 m auf ein normiertes Mass an, sollen mit den Worten von Architekt Andreas Heller «keine Bedeutung » haben. Der unter anderem dadurch erreichte Abstraktionsgrad hebt sich bewusst vom expressiven Gestus der Elbphilharmonie ab und lässt das Bild einer Vitrine entstehen, in der das Akustikmodell der Elbphilharmonie wie ein Schmuckstück präsentiert wird.

Spiegelungen

«Der Pavillon zitiert in seinem Baukörper die Elbphilharmonie», sagt Architekt Heller, und wahrlich offenbaren sich trotz der eigenständigen Kubatur auf den zweiten Blick einige formale Bezüge: Wie die Elbphilharmonie ist der Pavillon in einen unteren, geschlossenen sowie einen oberen, gläsernen und nachts leuchtenden Teil gegliedert. Bei beiden Bauten ist der Konzertsaal – auch wenn im Pavillon lediglich in Form des Modells – von aussen sichtbar und die mittlere Ebene, die Plaza bzw. das erste Obergeschoss, als Aussichtsplattform gedacht. Sogar in Details wie der Punktrasterung und den Farbverläufen an den Fassaden ist die Referenz auf das Konzerthaus spürbar.

Bei näherem Herantreten offenbart der Pavillon jedoch eine ihm ganz eigene Facette. Er macht sich akustisch bemerkbar, sendet in den dichten, lauten Klangteppich der Umgebung eigene akustische Signale aus und lockt die Passanten den griechischen Sirenen gleich mit Ausschnitten konzertanter Musik zu sich heran. Diese ertönen aus an der Fassade angebrachten «Klanghörnern», in ihrer Form frei entworfenen Schalltrichtern, die aus Aluminium- Druckguss gefertigt sind. Farblich in die Fassade integriert, öffnen sie das Gebäude nach aussen hin. So wird das Gebäude selbst zum Instrument, das durch die Trichter mit den Besucherinnen und Besucher zu kommunizieren beginnt.

Der Pavillon tritt aber nicht nur auf einer akustischen, sondern auch auf einer taktilen Ebene mit den Besuchern in Kontakt. Diese müssen nämlich ihre Köpfe dicht an die Hörtrichter heranhalten, um die Musik deutlich zu hören bzw. die in einigen wenigen Trichtern gezeigten Filmeinspielungen des NDR-Symphonieorchesters zu sehen. Entsprechend deuten die Schalltrichter mit der unterschiedlichen Abschrägung ihres äusseren Abschlusses verschiedene Körperhaltungen an und gehen mit ihrer in der Höhe springenden Setzung an der Fassade auf die diversen Körpergrössen der Besucher ein. Das abstrakte, strenge Fassadenbild der Aluminium- und Glasplatten wird somit von einer verspielten Ebene überlagert und erhält eine musikalische Konnotation, wie sie André Baltensperger anhand von Le Corbusiers – bzw. Iannis Xenakis’ – «pans de verres ondulatoires» für das Kloster La Tourette beschreibt: «Die ‹Musik› entsteht somit durch die Bewegung des Auges, welches über die architektonischen Elemente hinweggleitet und deren rhythmische Gliederung wahrnimmt.» Die eigentliche Ausstellung im Inneren des Gebäudes ist den Themen Architektur und Musik entsprechend zweigeteilt. Dazu wurde das Erdgeschoss durch einen offenen Durchgang mittig geteilt, der seinerseits auf die Baustelle der Elbphilharmonie ausgerichtet ist und diese damit in den Blickpunkt rückt. Beidseits des Durchgangs werden zum einen die Geschichte des Ortes, die Architektur der neuen Elbphilharmonie und deren Nutzung, zum anderen die musikalische Tradition, das Musikerlebnis sowie das künftige Programm des Konzerthauses erläutert.

In der Akustik berühren sich Musik und Architektur

Im ersten Obergeschoss des Pavillons dominiert das räumlich-visuelle Erlebnis. Ab Brüstungshöhe ist der Raum vollständig verglast und bietet ein Panorama mit Blick auf die Elbphilharmonie, den Schiffhafen und den entstehenden Sandtorpark. Aufgrund der von unten ausgefachten Einhängevorrichtung für das Akustikmodell scheint der Raum eher niedrig, einzig direkt an den Fenstern zeigt sich seine volle Höhe. Im Zentrum dieses Geschosses, das auch für kleinere Veranstaltungen genutzt wird, steht einer Gangway gleich der mobile Aufgang zum Modell.

Das Modell im Massstab 1:10 war für die Akustikplanung von grosser Bedeutung. Unter der Vorgabe eines hervorragenden Klanges im grossen Saal arbeiteten die Architekten Herzog & de Meuron schon seit Beginn des Projektes mit Yasuhisa Toyota (Nagata Acoustics Inc.), einem der weltweit renommiertesten Akustikdesigner, zusammen. Der Grosse Konzertsaal ist eine radikale architektonische Weiterentwicklung der philharmonischen Bautypologien. Zwar ist die Grundidee eines Raums, in dem sich Orchester und Dirigent inmitten des Publikums befinden, eine bekannte Typologie. Auch die Tatsache, dass die Architektur und die Anordnung der Ränge sich aus der Logik von akustischer und visueller Wahrnehmung ableiten, gehört zum Stand der Technik. Hier führt diese Logik jedoch zu einem anderen Schluss: Die Ränge reichen hoch in den Gesamtraum hinein und bilden mit Wand und Decke eine räumliche Einheit. Dieser neue Raum, vertikal aufragend, beinahe wie ein Zelt, wird nicht primär von der Architektur bestimmt, sondern von den 2150 Zuschauenden und Musikern, die sich gemeinsam versammeln, um Musik zu machen und Musik zu hören. Die aufragende Geste des grossen Saals ist die formgebende statische Struktur für den gesamten Baukörper und zeichnet sich dementsprechend in der Silhouette des Gebäudes ab.

Klang materialisiert als Abdruck des Schals

Nachdem die akustischen Effekte des entsprechend konzipierten grossen Saales erst in digitalen 3D-Modellen simuliert worden waren, konnte insbesondere das Entstehen ungewollter Echos im 1:10-Modell überprüft werden. Dazu wurde das mit entsprechender Bestuhlung und Oberflächenstrukturen versehene Modell mit 2150 in Filz gewandeten Püppchen besetzt, mit diversen Mikrofonen ausgestattet, gegen aussen luftdicht abgeschlossen und mit Stickstoff gefüllt, um das Modell gasdicht abzuschliessen, was verfälschende Einflüsse der Atmosphäre auf die Messungen verhindert. Die ausgesendeten Tonsignale wurden massstabsgetreu umgerechnet. Die aus den Messungen resultierende Optimierung der Raumakustik schlug sich in Anpassungen der strukturierten Verkleidung sowie Modifizierungen einiger Brüstungswinkel nieder.

Heute ist das Modell Herzstück des Pavillons und ermöglicht schon vor der Eröffnung der Elbphilharmonie einen Blick in den grossen Konzertsaal. Den meist einzeln ihre Köpfe von unten in das Modell steckenden Besuchern bietet sich denn auch ein Eindruck, der durch den Moment des Alleinseins und den Standpunkt «mitten im Saal» intensiviert wird: Ineinander verschränkte Ränge schieben sich – den engen Platzverhältnissen auf dem Kaispeicher geschuldet – zu einem steilen Zuschauerkessel zusammen. Dem Inneren einer Schnecke oder einer von Wasser geformten Höhle gleich ordnen sie sich unregelmässig um die zentrale Bühne herum an. Es scheint, als ob der Klang die feste Materie geformt hätte und sich die Architektur weniger als Friedrich von Schellings «erstarrte Musik», sondern vielmehr als Abdruck des sich ausbreitenden Schalls präsentiert. Die Musik wird quasi in der Architektur sichtbar, der optische Eindruck und das mit dem Saal verknüpfte akustische Erlebnis decken sich.

Dieses Phänomen gewinnt vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass sich die Architektur und die darin gespielte Musik in jüngerer Vergangenheit auseinander entwickelt hatten. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts stimmten Architektur und Musik stilistisch nämlich überein, die Musik wurde in der Regel für einen bestimmten Anlass und den entsprechenden Raum komponiert. Mit dem Übergang zu einem «musealen» Konzertbetrieb, in dem vor allem Musik aus vergangener Zeit gespielt wird, und den erweiterten Möglichkeiten in der Architektur ging die Einheit des visuellen und des akustischen Erlebnisses verloren. Der grosse Konzertsaal der Elbphilharmonie knüpft auf seine Art direkt an das Hörerlebnis an und stellt so wieder einen mitnichten formalen, dafür aber sinnlichen Bezug zwischen Musik und Architektur her.

Klingende Architektur

Dies zeigt sich auch in einem Detail des Saals, das seiner akustischen Feineinstellung dient. Mit der sogenannten Weissen Haut, einer neuartigen Wandverkleidung, soll der Klang optimal reflektiert und jeder Platz des Saals mit perfektem Klang versorgt werden. Sie besteht aus etwa zwölftausend Gipsplatten von hoher Dichte, deren individuelle Fräsung auf 3DBerechnungen und der Überprüfung im Modell basiert. Als akustisch wirksames Element wird die Weisse Haut nicht versteckt, sondern zum prägenden Ausdrucksmittel stilisiert und damit die Ausbreitung bzw. Reflexion des Schalls architektonisch thematisiert. Zusammen mit einem riesigen, trichterförmigen Schallreflektor über der Bühne ermöglicht sie die Optimierung von Form und Oberfläche des Saales, der einem gestimmten Instrument gleich der Musik als Resonanzkörper dient.

In diesem Sinne kann Andreas Hellers Aussage, dass «die Idee der Architektur ist, der Musik einen Raum zu geben», sowohl auf den Pavillon als auf den grossen Konzertsaal der Elbphilharmonie bezogen werden – und um den Nachsatz ergänzt werden, dass bei beiden über die Visualisierung der Akustik die Architektur auf ihre Art zu klingen beginnt.

TEC21, Fr., 2010.07.02

02. Juli 2010 Monika Isler Binz

4 | 3 | 2 | 1