Editorial

Im Preisrausch

Im Dezember blickt die Welt zurück und wir mit ihr. Doch purzeln keine Zahlen durch unsere Jahresbilanz, sondern es hoppeln die Hasen: Goldene, silberne und bronzene, die wir mit der Sendung «Kulturplatz» des Schweizer Fernsehens und mit dem Museum für Gestaltung Zürich verleihen. Mut zum Unfertigen bewies die Jury der Landschaftsarchitektur: Gold erhält der Liebefeld-Park in Bern von Rita Mettler. Beleuchtungen und Chaussierung folgen später, doch liess die Landschaftsarchitektin bereits alle Bäume setzen. Damit leistet sie einen raffinierten Beitrag zur Frage, wie man Parks Zeit zum Wachsen gewährt. Mut zum Unerwarteten in der Designjury: Sie setzte das über zwanzigjährige Tourenvelo Papalagi 953 auf Platz Eins — weil sein Erfinder Butch Gaudy es immer wieder überarbeitet und zeigt, dass auch Gutes verbesserungswürdig ist. Keine Überraschung dagegen in der Architektur: Gold für den meistdiskutierten Bau des Jahres, das Zürcher Schulhaus Leutschenbach von Christian Kerez. Warum, lesen Sie im Jurykommentar.

Den Besten in Architektur, Design und Landschaftsarchitektur widmet dieses Heft Reportagen, den Anerkennungen eine kleine Kritik. «Kulturplatz» auf SF1 zeigt einen Film zu jedem Preisträger am Mittwoch, 9. Dezember um 22.55 Uhr. Am Dienstag, 8. Dezember, steigt um 18.30 Uhr im Museum für Gestaltung Zürich das Hasenfest, zu dem wir Sie herzlich einladen.

Feiern kann Hochparterre aber nicht nur, weil wir Preise vergeben — wir erhalten auch selbst einen. Der «Verein Qualität im Journalismus» zeichnet uns aus mit dem «Medien Award 2009». Hochparterre habe über zwanzig Jahre, also über zwei Hochkonjunkturen und drei Rezessionen hinweg, nie seine Seele verkauft und nie seine Grundsätze verraten, die lauteten: «Bauen und Gestalten sind öffentliche Angelegenheiten», würdigte uns Journalist Karl Lüönd. «Daraus ist ein Verlag geworden, der kulturpolitisch eine Rolle spielt und ein Unternehmen, dessen Mitarbeitende ein hohes Mass an Autonomie und Mitbestimmung haben.» Dieser Preis macht uns stolz und wir leiten unsere Freude an Sie weiter, liebe Leserin, lieber Leser — denn Sie sind unser Daseinsgrund.
Rahel Marti

Inhalt

06 Meinungen
07 Lautsprecher
08 Funde
11 Sitten und Bräuche
17 Massarbeit

20 Architektur-Hase in Gold: Schulhaus Leutschenbach. Alltag im Betonbau.
26 Architektur-Hase in Silber: Siedlung Stadtrain Winterthur. Klug sanierte Genossenschaft.
30 Architektur-Hase in Bronze: Einfamilienhaus in Chardonne. Frech und verträumt.
36 Design-Hase in Gold: Fahrrad Papalagi 953. Butch Gaudys fortfahrende Verbesserung.
42 Design-Hase in Silber: Uhr «r5.5» von Rado. Der Designer Jasper Morrison im Gespräch.
46 Design-Hase in Bronze: Innenraumgestaltung Wasserkirche Zürich. Wenig ist mehr..
52 Landschaft-Hase in Gold: Liebefeld-Park in Köniz. Abwarten und Bäume wachsen lassen.
58 Landschaft-Hase in Silber: Sidi-Areal in Winterthur. Liebliches Grün zwischen den Häusern.
62 Landschaft-Hase in Bronze: Sanierung alte Averserstrasse. Ein Verein liegt in die Kurven..

68 Jury
72 Anmerkungen
78 Nominierte
82 Bücher
84 Raumtraum

Hase in Silber

(SUBTITLE) In der Reihe tanzen

Die Lösung heisst nicht immer Abbruch. In Winterthur zeigt eine Genossenschaft, wie eine alte Siedlung zeitgemäss saniert werden kann.

Man kann es schade nennen, Vorgärten zu kappen, um Anbauten hineinzustellen. Oder man kann es klug nennen: Dann, wenn diese Form der Erweiterung den Charakter einer Siedlung wahrt — und wenn der Garten seinen Namen weiterhin verdient. Beides erfüllt das Erweiterungskonzept von Knapkiewicz & Fickert Architekten für die Reihenhäuser der Heimstätten-Genossenschaft Winterthur HGW im Quartier Stadtrain. Das Zürcher Büro hatte 2005 den Studienauftrag der HGW unter sechs Architekturbüros gewonnen. Die Mehrheit der Entwürfe wollte die Häuser mit einer Aufstockung vergrössern — das hätte die Siedlung aber stark verändert.

Der Anbau bringt aber auch innen Vorteile: Er erhöht den Wohnwert der Häuser und schafft zugleich einen privaten Aussenbereich. Eine neue Aussentreppe entschärft den Kellerhals im Innern und schafft endlich den gedeckten Platz für das Velo. Neu befindet sich die Küche im Verbindungsgang zum angebauten Wohnteil — umgeben von Licht und Leben. Indem sie das Oblicht weiteten, holten die Architekten mehr Tageslicht bis in die rückwärtigen Räume im Erdgeschoss und schufen zugleich den Raumbezug über zwei Geschosse. Im Obergeschoss trifft man auf zwei Zimmer und ein zeitgemässes Bad. Kein «Schischi», sondern beständige Materialien.

Weniger Energieverbrauch trotz Schutz

Wie passt man in die Jahre gekommene Siedlungen heutigen Bedürfnissen an? Eine Frage, die deren Besitzer landauf, landab beschäftigt. Oft heisst die Lösung: Abriss, Neubau. Die HGW suchte nach anderen Wegen. Ihre Siedlung Stadtrain ist ein bedeutender Zeuge des Siedlungsbaus der Zwischenkriegszeit. In dieser Urzelle der HGW spürt man den Geist der Genossenschaftsgründer, auch wenn in den Vorgärten kaum mehr Gemüse zur Selbstversorgung angepflanzt wird: zweckmässiger, günstiger Wohnraum für die Arbeiterklasse. Die Häuser sind nicht nur seitlich, sondern auch mit dem Rücken aneinandergebaut. Entworfen hatte sie Adolf Kellermüller, der mit Hans Hoffmann ein Architekturbüro in Winterthur unterhielt und dort in denselben Jahren auch das Volkshaus baute. Von den sieben Zeilen mit Reiheneinfamilienhäusern gehören nur zwei der HGW, die übrigen wurden kurz nach dem Bau an Private verkauft.

Heute geniesst die Siedlung Volumenschutz, Ersatzbauten müssten also das bestehende Volumen einhalten. Auch individuell zu erweitern, ist nicht erlaubt, sondern nur gestützt auf ein Konzept für eine Häuserzeile. Beides schränkt das nachträgliche Verdichten ein. Dafür hat die Rücken-an-Rücken-Anordnung einen Vorteil für die energetische Sanierung: Der Anteil Aussenfläche pro Wohneinheit ist verhältnismässig gering. Die Reihenhäuser am Stadtrain verbrauchen nach der Sanierung markant weniger Energie dank eines neuen Dachs und der Dämmung der Stirnseiten. Auf nächstes Jahr plant die HGW die Umstellung auf erneuerbare Energieträger.
Die HGW ist ein alter Hase im gemeinnützigen Wohnungsbau. Sie besitzt 1550 Wohnungen und 250 Reihen- und frei stehende Einfamilienhäuser, erbaut zwischen 1928 und heute. Mit Vorstand, Kommissionen, Mitbestimmungsrechten und Kostenmieten funktioniert die HGW in Genossenschaftsmanier. Jahrelang erfolgte der Erneuerungsprozess intuitiv: Da und dort wurden Küchen und Bäder ersetzt, eine Fassade gestrichen. Seit der Effekt energetischer Sanierungen steigt, wird das Thema Ersatzneubauten aber auch bei der HGW bedeutender.

Leitbild für Erneuerungen

Die Genossenschaft beschloss, die Grundlagen für solche Entscheide aufzuarbeiten. Für jedes einzelne Gebäude erhob sie den allgemeinen Zustand und den kurz-, mittel- und langfristigen Investitionsbedarf. Die Analyse umfasste ebenso demografische Veränderungen, zukünftige Wohnbedürfnisse, Nachhaltigkeit und genossenschaftliche Ziele. Aus den Daten leitete die HGW ihre Erneuerungsstrategie ab. Die Genossenschaft hat damit nicht nur Kriterien für die Finanzplanung in der Hand, sondern kann den Erneuerungsprozess vorantreiben.

Ein Leitbild schreibt die Grundhaltung fest: «Die HGW erhält und schafft preiswerten, umweltgerechten und ressourcensparenden Wohnraum von guter Qualität für alle Generationen. Wir wahren die langfristigen Interessen der Genossenschaft als Ganzes, bauen für die Zukunft und sind auch offen für städtebauliche Verbesserungen. Wir bauen und renovieren nachhaltig und setzen möglichst erneuerbare Energien ein.» Ergänzend sind Eingriffe und Prioritäten geregelt: Erste Priorität geniessen der sorgfältige, laufende Unterhalt und die rechtzeitige Erneuerung der bestehenden Liegenschaften. Ersatzbauten kommen erst in zweiter Linie in Frage — dann, wenn der Bestand nicht mehr auf wirtschaftlich vertretbare Weise erneuert oder der Zeit angepasst werden kann. Auf ihre Leistungen in der Siedlungserneuerung kann die HGW stolz sein: Die Hälfte der Wohneinheiten genügt einem hohen energetischen Standard, der Anteil erneuerbarer Energien steigt.

Die Mieter kehren zurück

Zurück in den Stadtrain. Vor der Sanierung der Reihenhäuser hatte die HGW mit Knapkiewicz & Fickert Architekten bereits angrenzend ein Mehrfamilienhaus mit altersgerechten Wohnungen erbaut; der Auftrag war aus demselben Wettbewerb hervorgegangen. Für beide Bauetappen verwendeten die Architekten ähnliche oder gleiche Materialien, innen und aussen. Das unterstreicht die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Bauten zu einem Ensemble — auch wenn bei der zweiten Etappe, der Sanierung, aus der Sicht der Architekten da und dort schmerzhafte Abstriche vorgenommen werden mussten.

Und dennoch wird die HGW nächstes Jahr die zweite Häuserzeile im Stadtrain nicht sanieren, sondern auf den bestehenden Fundamenten neu bauen. Die Bausubstanz aus der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs sei zu schlecht, sie lasse sich nur mit viel Aufwand nachrüsten, schätzt die HGW. Von den Architekten hat sie sich getrennt, zu unterschiedlich waren die Standpunkte, was wichtig und weniger wichtig sei. Trotzdem, die Erneuerung der 18 Reihenhäuser ist architektonisch gelungen und entspricht der Sanierungsstrategie. Den Erfolg bestätigen die Bewohner, wie Präsident Oskar Meili weiss: Von den 18 Mietern sind 14 zurückgekehrt, sieben wieder in ein Reihenhaus und sieben in das Mehrfamilienhaus nebenan.

hochparterre, Di., 2009.12.08

08. Dezember 2009 Philipp Maurer

Hase in Bronze

(SUBTITLE) Die gebaute Aussicht

Mit einem luftigen Einfamilienhaus über Vevey hebt das junge Büro Made in aus Genf ab und setzt zum Karrieresprung an.

Wie ein Brückenträger schiesst der Fachwerkbalken ins Land hinaus — gerade so, als wolle er kein Quäntchen der prächtigen Aussicht über das Lavaux und den Genfersee verpassen und jeden Sonnenstrahl bis aufs Letzte auskosten. Wir stehen in Chardonne, einem Winzerdorf auf halber Höhe zwischen Vevey und dem Mont Pèlerin. Die Aussicht stand zuoberst auf der Prioritätenliste der Bauherrschaft. Zudem wünschte sie sich viel Garten auf dem schmalen Hanggrundstück.

Die Konstruktion

Der Skelettkasten des Hauses besteht aus zwei 21 Meter langen Vierendeelträgern, die zusammen mit den Querprofilen einen Fachwerkkasten bilden. Die Bodenplatte ist eine Verbundkonstruktion aus Stahlblech und Beton, Trapezblech spannt die Dachfläche auf. Mit Ausnahme der geschlossenen Rückwand sind alle vertikalen Öffnungen grossflächig verglast. Die horizontalen Flächen hingegen sind aussen reflektierend ausgebildet: Eine dünne Wasserschicht macht das Dach zur Spiegelfläche, eine aluminiumbedampfte Kunststofffolie haftet an der Untersicht. Die Stahlkonstruktion liegt auf der rückseitigen Betonmauer auf und führt die Querkräfte in den Boden ab. Vorne stützt sich das Haus mit zwei dünnen Ärmchen zaghaft auf dem Terrain ab — scheinbar jederzeit bereit wegzuspringen, um sich ein anderes Plätzchen am sonnigen Rebhang zu suchen.

Ein betoniertes Kellergeschoss unter dem vorderen Teil des Hauses verbindet die gespreizten Arme miteinander. Die vier Felder der in den Ecken biegesteif verbundenen Fachwerkträger definieren vier Kammern im Stahlskelett und damit die vier Haupträume des Hauses.

Am Gebäudekopf liegt das dreiseitig verglaste Wohnzimmer. Daran schliessen Küche und Esszimmer an, gefolgt vom Eingangsbereich und einem Schlafzimmer mit Bad. Im letzten Viertel gibt es ein weiteres Schlafzimmer, ein Bad und ein Arbeitszimmer. Ein Streifen mit einem Sanitär- und Technikraum bildet den Rücken.
In Natura ist das Haus kleiner, als die Fotos erwarten lassen, doch der Platz im Innern ist intelligent ausgenützt. Raumhaltige Trennwände nehmen Regale, Schränke oder ein Cheminée auf. Alles erinnert ein wenig an ein Flugzeug oder an ein Luftschiff — ein Eindruck, den die Zugangstreppe verstärkt: Wenn niemand zu Hause ist, lässt sie sich wie eine Gangway hochklappen; das Haus bleibt dann unerreichbar.

Es waren jedoch nicht Science-Fiction-Träume oder das Berufsleben des Bauherrn als Swissair-Pilot, die den Architekten beim Entwurf Pate standen. Die Architekten François Charbonnet und Patrick Heiz spitzten einfach die Wünsche der Bauherrschaft zu und setzten sie in ein radikales Projekt um. Die Funktionen, die Form und die Konstruktion des Hauses wurden eins und so stark «eingekocht» wie möglich. Dann fügten die Architekten pragmatisch die Elemente an, die es noch brauchte, etwa die Heizung: Weil sich eine dickere Bodenplatte zu stark abgezeichnet hätte, verzichteten sie auf eine unsichtbare Bodenheizung. Stattdessen setzten sie runde, lamellenförmige Heizkörper, wie wir sie aus älteren Industriegebäuden kennen, vor die Glasfronten. Bei den Lavabos und Duschen griffen die Architekten auf Modelle der Zwanzigerjahre zurück und setzen damit einen Kontrapunkt zum kantigen Haus.

Das Büro

François Charbonnet und Patrick Heiz diplomierten beide 1999 bei Hans Kollhoff an der ETH Zürich. Sind die altertümlichen Lavabos auf den Stahlgestellen kollhoffsche Reminiszenzen? Die Architekten verneinen. Nach dem Diplom schlugen sie ohnehin nicht den Weg des Historismus ein, sondern verdienten ihre Sporen bei Herzog & de Meuron ab. Charbonnet arbeitete dort als Entwerfer, unter anderem am gemeinsamen Projekt mit Rem Koolhaas für den Astor Place in New York. Heiz widmete sich hauptsächlich der Konstruktion, so als Projektleiter bei der Erweiterung des Château Petrus in Bordeaux. Vor sechs Jahren gründeten sie das Büro «Made in» — und zwar in Genf, obwohl die beiden Romands nach dem Studium in Zürich und der Praxis in Basel in der Deutschschweiz besser vernetzt sind. «Unser Deutschschweizer Hintergrund schafft eine gesunde Distanz zur Westschweizer Szene», meint François Charbonnet, schiebt aber nach, dass es eine starke Westschweizer Szene eigentlich gar nicht gebe: «In der Deutschschweiz passiert einfach mehr. Das gibt uns die Gelegenheit, hier etwas zu sagen.»

Von sich reden machten die beiden bislang vor allem mit ihren Wettbewerbsprojekten, die das Spektrum ihres Schaffens zeigen. 2005 machte das junge Büro erstmals ein breites Publikum auf sich aufmerksam, als es in dem vom BSA organisierten Wettbewerb «Genève 2020» den zweiten Preis errang siehe hpw 5 / 05. Der Entwurf für das Château Cheval Blanc im französischen Saint-Émilion von 2006 wirkt wie ein Prototyp des Hauses in Chardonne im grösseren Massstab: Mit Vierendeelträgern entwerfen sie dort einen schwebenden eingeschossigen Stahl-Glas-Bau, der auch Erinnerungen an das Werk Ludwig Mies van der Rohes weckt. Ganz anders der Beitrag im Wettbewerb für eine Wohnüberbauung in Lausanne siehe hpw 4 / 09, wo sie die Zimmer aller Wohnungen kurzerhand entlang der maximal möglichen Mantellinie des Hauses aufreihten. Damit erzeugten sie einen Baublock mit einem Innenhof, dessen Form sich aus der Abwicklung der unterschiedlichen Zimmergrössen ergibt.

Die Bauherrschaft

Das in die Landschaft ragende Haus in den Rebbergen von Chardonne ist nicht das erste Objekt, das Made in realisieren konnte. Es ist aber das erste Gebäude, das die Überlegungen der beiden Architekten im Massstab eins zu eins zeigt. Gute Architektur braucht gute Bauherren — an solch einzigartigen Lagen erst recht. Dass sie bei diesem Entwurf weitgehend freie Hand hatten, ist einem einfachen Umstand zu verdanken: Patrick Heiz ist der Sohn der Bauherren. Sie wollten den beiden jungen Architekten die Möglichkeit bieten, ihre Ideen und ihr Können, das sie in Projekten und Wettbewerben schon zeigen konnten, auch an einem gebauten Objekt zu demonstrieren.

Zuvor wohnten Heidi und Samuel Heiz 35 Jahre lang in einem Bauernhaus. «Wenn schon ein Wechsel, dann richtig», fanden sie. Radikaler könnte der Wechsel kaum sein. Doch die Möbel aus dem alten Haus fanden auch im neuen Platz. Das mag das Puristenauge schmerzen, die Architektur hat keine Berührungsängste. Die Anforderungen, die die Bauherrschaft am Anfang zu Papier brachte, sind erfüllt: Der Garten ist gross, die Aussicht grandios inszeniert. Doch das Haus ist nicht nur ein Schönwetterhaus, wie die Bauherrin versichert: Ebenso faszinierend wie der sonnige Blick sei das Spiel von Wind, Wetter und Nebel.
Die einzigartige Mischung aus Lage und Architektur hat dem Gebäude und dem Schaffen von Made in Auftritte in zahlreichen Publikationen beschert. Der Paukenschlag wurde gehört — auch von der Jury des Wettbewerbs für die Erweiterung des Kunsthauses Basel: Made in ist eines von 24 Teams, die Ende September ihren Entwurf einreichten. Der Juryentscheid lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor, aber allein die Tatsache, dass es sich mit Koryphäen wie Peter Zumthor, Tadao Ando, Zaha Hadid und etlichen anderen messen darf, dürfte die Karriere von François Charbonnet und Patrick Heiz beflügeln.

hochparterre, Di., 2009.12.08

08. Dezember 2009 Werner Huber

Hase in Bronze

(SUBTITLE) Den Himmel am Boden

Eine Kirche will Begegnungsort für Städter werden. Mit einem leisen Eingriff erzielt Frédéric Dedelley eine grosse Wirkung.

Rote, grüne und gelbe Lichter tanzen über den grauen Teppich. Sonnenstrahlen fallen durch die Chorfenster in die Wasserkirche am Zürcher Limmatquai. Die irrlichternden Flecken und das bunte Glas sind die einzigen Farbtupfer in diesem Raum. Seine Leere wirkt beruhigend. «Die Wasserkirche soll ein Ort der Stille und der spirituellen Begegnungen für Städter werden», erklärt Frédéric Dedelley. Der Designer entwickelte im Auftrag der Immobilienbewirtschaftung der Stadt Zürich und des Verbandes der stadtzürcherischen evangelisch-reformierten Kirchgemeinden das neue Einrichtungskonzept für die Kirche.

Vom Götzentempel zur Bibliothek

Kirche? Die Wasserkirche blickt auf eine wechselvolle Geschichte: Auf dem Boden, auf dem der Bau steht, sollen der Legende nach die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula hingerichtet worden sein. Um 1000 nach Christus wird auf der früheren Flussinsel die erste Kirche im romanischen Stil gebaut, es folgt 1288 ein erster gotischer Bau, der bereits 1477 durch ein neues spätgotisches Gotteshaus ersetzt wird. In der Reformationszeit gilt die Kirche als «Götzentempel», entsprechend radikal wird mit ihr umgegangen. Um jeden Rest an Heiligenverehrung zu verhindern, dient die Kirche nach dem Bildersturm als Warenlager, Vorratskammer und noch bis 1917 als Stadtbibliothek. Erst 1942 wird sie renoviert und wieder als evangelisch-reformierte Kirche genutzt. Die spätgotische Bemalung war nicht vollständig zu rekonstruieren, und so wählte man einen grauen Anstrich; der Chor erhielt drei farbige Fenster von Augusto Giacometti. 1988 erfolgte die letzte sanfte Renovation.

Wie geht man heute mit diesem Raum um, in dem nicht nur Gottesdienste stattfinden? Ein Nutzungskonzept legte fest: Die Wasserkirche solle zu einer Begegnungsstätte für die Menschen der Stadt werden. Ziel war es, einen Raum zu schaffen, der Menschen aller Konfessionen und Religionen zum Gebet einlädt, aber auch einen Ort der Kontemplation bietet, einen Raum, in dem gelesen und diskutiert wird. «Die Kirche sollte künftig ruhig, grosszügig und leer wirken», erklärt der Designer die Vorgaben. Frédéric Dedelley hat Erfahrung, wie man Kirchen zeitgemäss ausstattet, eine Gestaltungsaufgabe, die Designer eher selten übernehmen. 2002 hatte er mit der Ausstattung der Kirche St. Theresia am Friesenberg auf sich aufmerksam gemacht, vier Jahre später folgte die Neugestaltung des Chorbereichs in der Kirche Neumünster in Zürich, 2009 die Neugestaltung der Kirche Dreikönige in der Enge. In allen drei Kirchen reagierte er wie in der Wasserkirche subtil auf den bestehenden Raum. Doch während die bisherigen Umgestaltungen auch von der Liturgie bestimmt wurden, gelten hier andere Regeln: «Statt der liturgischen Feier steht in der Wasserkirche eine vielseitige Nutzung im Vordergrund.»

Lieber Raum statt Möbel

Während bislang die Bestuhlung den Raum bestimmte, setzte der Designer auf Zurückhaltung. Herzstück ist ein riesiger grünlich-grauer Teppich aus reiner Schurwolle. Er nimmt die Farben des Sandsteinbodens auf. Das hellgraue Ornament aus Feldern und Linien, das mit Boucle-Wolle auch für haptischen Kontrast sorgt, greift die markante Struktur des Kreuzgewölbes auf. Ein leiser Eingriff mit grosser Wirkung: Decke und Boden scheinen sich optisch zusammenzuschliessen. «Der Teppich betont die Eigenschaften der spätgotischen Architektur, er dehnt den vertikalen Raum zusätzlich optisch in die Höhe.» Aber das textile Prunkstück lasse sich, so der Designer, durchaus auch metaphorisch deuten, bringe er doch den Himmel auf den Boden oder befördere einen vom Boden in den Himmel.

Doch der Teppich bringt vor aller Symbolik Wohnlichkeit in den nüchternen Raum. «Man schreitet anders als auf dem kühlen Steinboden, der Gang verlangsamt sich, da man in den weichen Teppich einsinkt», beobachtet Dedelley. Auch die Akustik des Raums beeinflusst der schallschluckende Teppich günstig — so konnte auf weitere Massnahmen verzichtet werden. Ein weiterer Pluspunkt: Sein grünliches Grau bringt die Farben der Chorfenster intensiver zur Geltung, als der Steinboden das tun konnte.

Handarbeit

Zunächst war eine günstigere Ausführung des nun 80000 Franken teuren Stücks angedacht. Es hätte einzelne Teile mit einem Klettverschluss verbunden. Nun ist der 600 Kilogramm schwere, von Hand getuftete Teppich aus einem Stück gefertigt. So wurde das Muster und die Struktur präzis und regelmässig. Beim Handtuften — das Schiessen von Wollfäden in ein Flies — sind Abweichungen je nach Arbeitsweise möglich. Mit seinen 17,5 x 8,7 Meter ist der strapazierfähige Teppich eine der grössten Arbeiten, die das Langenthaler Textilunternehmen Lantal bisher fabrizierte. In 820 Arbeitsstunden verarbeiteten die Leute rund 400 Kilogramm Wolle. Eine Herausforderung war auch die Montage: Da die Türöffnung für dieses Format zu klein ist, wurde der Teppich für die Lieferung und Montage längs halbiert. Erst in der Kirche schweisste man ihn auf der Rückseite wieder zusammen. So konnte auf eine sichtbare Naht verzichtet werden.

Lockere Möblierung

Farblich mit Architektur und Teppich verschmilzt die Bestuhlung, die der Designer vorgeschlagen hat. Vierzig hellgraue Exemplare des Modells «Stuhl.03» von Maarten Van Severen passen sich perfekt ein. Die Projektgruppe prüfte mehrere andere Stühle, entschied sich dann aber für diesen archetypischen und zeitgemässen Stuhl, der von Vitra produziert wird. In klassischer Bestuhlung stehen die Stühle in Fünferreihen mit Mittelgang im vorderen Teil des Kirchenraums.

Doch der stapelbare Stuhl bedient auch andere Bedürfnisse — von Empfängen über Lesungen und Hochzeiten bis hin zu Konzerten. Und er eignet sich zum Meditieren, einem der neuen Angebote, die der Kirchenverband zusammen mit dem Präsidialamt festlegt: «Man kann in typischer Meditationshaltung vorn auf der Kante sitzen und sich dabei entspannen», meint Dedelley. Neben dem Teppich, den Stühlen und den zurückhaltenden Wandleuchten von Felix Kessler fallen die eigens für die Wasserkirche entworfenen schlichten Holzelemente auf. Dedelley wählte für die geradlinigen Möbel Eichenholz, deren Oberflächen mit einer edlen Schellackhandpolitur behandelt wurden. «Eichenholz bietet einen Kontrast zum Grau des Sandsteins. Das Material verleiht dem Raum eine gewisse Wärme, ohne aufdringlich zu wirken.» Formal griff er damit bestehende Elemente auf wie die Abdeckung des Taufsteins und die Einfassung der Treppe, die hinab in die Krypta führt. Vier hohe, schmale Tische, die unter den Seitenfenstern platziert sind, dienen als Kerzenständer oder tragen Blumenschmuck.

Ein Pult mit Schubladen steht der Aufsichtsperson zur Verfügung. Es steht vor dem kubischen Stuhllager am Eingang, das mehreren Zwecken dient: Es beherbergt zum einen unauffällig die hundert weiteren Van Severen-Stühle, die als Reserve für Konzerte zur Verfügung stehen und für die es keine andere Lagermöglichkeit gibt. Zum anderen dient es als kleine Handbibliothek für die Kirchenbesucher — das dafür nötige Regal ist in den Korpus des Stuhllagers integriert. Noch ist die Literatursammlung im Aufbau, geplant ist es, Bücher zur Spiritualität zu versammeln.
Mit dem neuen Raumkonzept hat die Wasserkirche in ihrer langen Geschichte der Umnutzungen eine neue Aufgabe erhalten. Sie ist jetzt bereit, als eine kleine spirituelle Oase mitten im Zürcher Stadtzentrum zu dienen.

hochparterre, Di., 2009.12.08

08. Dezember 2009 Andrea Eschbach

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