Editorial

Als Einstein gefragt wurde, ob sich alles auf naturwissenschaftliche Weise abbilden lasse, meinte dieser, die Darstellung einer Symphonie Beethovens als Luftdruckkurve sei zwar denkbar, aber «[...] es wäre eine Abbildung mit inadäquaten Mitteln [...]».[1]

Dennoch hat es die Moderne – mit der Wissenschaft als Impulsgeberin – unternommen, die geistige Seite der Existenz und immaterielle Phänomene künstlerisch darzustellen. Morphische Resonanzen, serielle Strukturen und Schallwellen faszinierten sie. Richard Paul Lohse etwa stellte sein Werk «Zehn gleiche Themen in fünf Farben», 1946–47, in direkte Beziehung zu einer Abbildung der «Banden im Absorptionsspektrum des Stickstoffoxid-Moleküls bei 1680 Å».[2] Die Kunstschaffenden verliehen aber auch der Analyse der Entstehung – ob der Malerei, des Films, der Architektur, der Musik oder der Literatur – Werkcharakter, erhoben die Entwurfsprozesse selbst zu autonomen Kunstwerken, indem sie das künstlerische Potenzial der Notation ausloteten. In der Architektur tat dies wohl am radikalsten Peter Eisenman in seinen frühen Hausserien. Analog zu den «Notes on Conceptual Architecture»[3] von 1970 – fünfzehn auf vier Blätter verteilte Zahlen, die auf Fussnoten verwiesen mit Literaturangaben zu den Themen Minimalismus, Konzeptkunst, Linguistik oder Ikonologie – war das HouseVI von 1975 gleichsam das Manifest der Konzeptualisierung der Architektur. Die pragmatischen und funktionalen Aspekte waren in eine konzeptuelle Matrix eingespannt. Wand und Stütze, Bad und Toilette sollten weder nach ihrer Funktion noch nach ihrer Form interpretiert, sondern als Notation im konzeptuellen Kontext gelesen werden.[4]

Notationen bewegen sich zwischen Raum und Zeit. So finden sich in diesem Heft ein Artikel, der sich mit der Notation des Räumlichen («Raum, filmisch notiert»), und einer, der sich mit der Darstellung des Zeitlichen («Zeit, technisch gezeichnet»), befasst.
«Die Notation [...] ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell», schrieb Ferruccio Busoni 1916 in seinem «Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst».[5] Notgedrungen ist dieses Heft nur ein «Behelf»...
Rahel Hartmann Schweizer


Anmerkungen:
[01] Aus dem Briefwechsel Einsteins mit Max und Hedwig Born. In: Max Born, Physik im Wandel meiner Zeit. 4. erweiterte Auflage, Braunschweig, 1966, S. 292; zit. nach: Lothar Kreimendahl, Humes verborgener Rationalismus. De Gruyter, Berlin, New York, 1982, S. 30, Anm. 47
[02] Georg Schmidt, Robert Schenk (Hg.): Kunst und Naturform. Basilius Presse, Basel 1960,
S. 76/77, in: Johanna Lohse, Felix Wiedler (Hg.): Richard Paul Lohse, Drucke Prints – Dokumentation und Werkverzeichnis. Hatje Cantz, 2009, S. 113
[03] Peter Eisenman: Notes on Conceptual Architecture. Towards a Definition. Institute of Architecture and Urban Studies, NY 1970
[04] Suzanne Frank (Hg.): Peter Eisenman’s House VI. The Client’s Response. NY 1994, S. 31
[05] Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Insel, Leipzig 1916, S. 20

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Wohnüberbauung Kriens Zentrum

12 MAGAZIN
Vom 2 CV zur DS | Langer Nachhall

16 RAUM, FILMISCH NOTIERT
Doris Agotai
Zur Darstellung von Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme: Zeichnungen, Fotografien oder Modelle. Wie das Medium des Films in den Raum eingreift, wird anhand dreier Beispiele gezeigt. Sie illustrieren die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation.

21 ZEIT, TECHNISCH GEZEICHNET
Thomas Herrmann
Um zeitliche Abläufe übersichtlich darzustellen, bedient man sich Diagrammen, Tabellen oder Listen. Während Bahnreisenden tabellarische Anzeigen ausreichen, bedürfen die betrieblichen Abläufe des Systems Eisenbahn ausgeklügelterer Darstellungsformen. Sie bestimmen sowohl Abfahrts- und Ankunftszeiten von Zügen als auch Spezifikationen der Gleisbelegung.

27 SIA
2. Präsidentenkonferenz 2009 | Resolution zum Sparprogramm | Qualifikation für Stahlbaubetriebe | Vernehmlassung Normenfamilie SIA 269 | Neues Berufsbild ZeichnerIn

32 PRODUKTE

37 IMPRESSUM

38 VERANSTALTUNGEN

Raum, filmisch notiert

Zur Darstellung von Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme: Zeichnungen, Fotografien oder Modelle. Wie das Medium des Films in den Raum eingreift, wird im Folgenden anhand dreier Beispiele gezeigt. Sie illustrieren die Unterschiedlichkeit in der Notation von Raum sowie die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation.

Etienne-Jules Marey erstellte um 1900 mit seinen berühmten und wegweisenden Chronofotografien Bewegungsstudien von Pferden. Diese Chronofotografien gelten zugleich als Wegbereiter des bewegten Bildes, des frühen Films. Auch in der Diskussion über Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme – heute neben Zeichnungen, Fotografien oder Modellen vermehrt auch zeitbasierte Medien, also Ausdrucksformen, die neben dem Raum auch die Bewegung und die Dimension der Zeit erfassen. Der folgende Beitrag zeigt, ausgehend von einer Architekturikone der letzten Jahre, welche unterschiedlichen Formen räumlicher Notation das Medium Film hervorbringt und welche Bedeutungsebenen sich daraus erschliessen.

Schon zu Beginn der 1930er-Jahre nutzte Le Corbusier den Film als propagandistisches Medium, um seinen Ideen Ausdruck zu verleihen und um seine Visionen einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Gemeinsam mit Pierre Chenal verfilmte er in der soeben fertiggestellten Villa Savoye sein Manifest zu den fünf Punkten einer Neuen Architektur. Der Film vermittelt neben Le Corbusiers Faszination für neue Mobilitätsformen und die daraus resultierenden Seherfahrungen eine Bewegungschoreografie entlang der «promenade architecturale», die über Rampen und Treppen von der Zufahrt über das ausladende und lichtdurchflutete Hauptgeschoss bis hin zum «Solarium» auf der Dachterrasse führt. Das Medium Film ermöglichte es so, die Bewegungserfahrungen und damit einen zentralen Bestandteil des architektonischen Konzepts mit einzubinden.

Im Vordergrund standen also nicht nur Fragen der Darstellung, sondern auch neue ästhetische Positionen des architektonischen Entwurfs, die aus dem Austausch dieser beiden Medien hervorgingen – Entwurfsansätze, die sich mit Fragen der bewegten Wahrnehmung, der Konstruktion innerer Raumvorstellungen und den daraus resultierenden choreografischen Elementen wie beispielsweise der Montage befassten.

So umfasst der Film als Medium immer auch eine Notation von Raum: Er übersetzt architektonische Gestaltungsmomente in neue Ausdrucksformen, die er rhythmisch ordnet und zeitlich festigt. Ob Ruttmann in «Berlin, Sinfonie einer Grossstadt» (1972) der Stadt den Puls fühlt, ob wir in Hitchcocks Treppenfluchten vor Schreck erstarren, ob Musikclips uns in experimentellem Duktus durch düstere Hinterhöfe führen oder ob eine Computeranimation ein neues Bauprojekt im Flug erschliesst – das Medium Film leitet an, wie der Raum geordnet wird, wie Farb-, Bewegungs- und Tiefenwirkungen interpretiert und einer neuen Form zugeführt werden. Die raumzeitliche Partitur bringt eine neue Wirklichkeit hervor, die zwischen Konzept und Werkinhalt vermittelt und sich auf unterschiedliche Bedeutungsebenen bezieht.

Villa in Floriac bei Bordeaux von Rem Koolhaas

Die drei folgenden filmischen Arbeiten machen deutlich, wie sich je nach Form der verwendeten Notation ein weites Spektrum von Bedeutungs- und Ausdrucksebenen eröffnet. Die Beispiele könnten dabei unterschiedlicher nicht sein – allein schon die Tatsache, dass sie alle in den letzten Jahren entstanden sind und sich auf denselben Bau beziehen, verbindet sie und macht sie für diesen Vergleich interessant: Es sind filmische Interpretationen der Villa in Floriac bei Bordeaux von Rem Koolhaas. Bemerkenswert ist, dass der Architekt dieses Gebäudes über Erfahrungen als Drehbuchautor und Regisseur verfügte, bevor er sich der Architektur zuwandte – ist es also ein Zufall, dass genau dieser Bau Ausgangspunkt filmischer Interpretationen wurde, oder spiegelt sich bereits in der Anlage des architektonischen Konzepts die Faszination für szenische Sequenzen, Raumverkettungen und Montageformen?

Zunächst zur Vorgeschichte des Baus: Die Villa in Floriac von Rem Koolhaas wurde 1998 erbaut. Bauherr war ein Verleger aus Bordeaux, der einen schweren Autounfall erlitten hatte. Er konnte sich nach diesem Unfall nur noch im Rollstuhl fortbewegen und war gezwungen, seine Wohnsituation verändern. Er gab Koolhaas ein Haus in Auftrag mit dem Wunsch nach einem vielfältigen, abwechslungsreichen Raumangebot. So entstand ein Gebäude, das die Anlage zu unterschiedlichsten Weg- und Erschliessungssystemen enthielt, die zu immer neuen Raumerfahrungen führen sollten. Allein drei Treppensysteme durchstossen das Haus: eine lineare, pragmatische Servicetreppe, eine geheime, eng gewundene Wendeltreppe zu den Zimmern der Kinder und eine plastisch modellierte Haupttreppe, die im Erdgeschoss absetzt und etwas versetzt weitergeführt wird und damit den Weg als Montage inszeniert.

Dazu kommt die ausladende Hebebühne, die je nach Position als Arbeitsraum dient, Galerieräume im Haus öffnet und die horizontale Schichtung aus dem Gefüge hebt. Allein die Treppen zeichnen ein Psychogramm des Hauses, indem sie zwischen äusserer Funktion und inneren Ideenwelten vermitteln.

Echtzeiterlebnis: Wahrnehmung der Dimension der Zeit

Der belgische Künstler David Claerbout wählte diese Architekturikone als Schauplatz seiner kinematografischen Installation «Bordeaux Piece», die er 2004 für eine Dauer von 13 Stunden entwarf. Architekturikone deshalb, weil Claerbout für die Handlung eine Geschichte aufnahm, die ihrerseits in einem Bau spielte, die zur Ikone geworden war: Claerbout übernimmt in diesem Werk den Plot aus Jean-Luc Godards «Le mépris» (1963), der in der Villa Malaparte auf Capri aufgenommen wurde, einer Villa des Architekten Adalberto Libera aus den 1930er-Jahren, die bizarr aus den Klippen auf der Insel Capri ragt (Abb. 5 und 6).

Claerbout inszeniert dieselbe Geschichte, stark verkürzt, und wiederholt sie im Rhythmus von 10 Minuten über 70 Mal. Die einzelnen Sequenzen werden zur selben Tageszeit aufgenommen, zu der sie im Museum projiziert werden. Die Geschichte verliert mit der Wiederholung an Gehalt, wodurch die Lichtstimmungen und der Raum in den Vordergrund treten. Der Besucher taucht in ein atmosphärisches Echtzeiterlebnis der Villa ein und erfährt über das Licht die Dimension der Zeit (Abb. 4).

Im zweiten Beispiel ist die Koolhaas-Villa Protagonistin eines Architekturdokumentarfilms, der 2008 an der Architekturbiennale in Venedig uraufgeführt wurde und in Architekturkreisen grosse Beachtung fand. Der Film heisst «Koolhaas Houselife» von Ila Bêka und Louise Lemoine. Die verschiebbaren Wände, die höhenverstellbare Decke oder die automatisierten Fenster unterliegen hier dem Regime der Reinigung und werden von einer Haushälterin bisweilen lautstark kommentiert, vorab aber mit Gleichgültigkeit quittiert. Immer wieder treten Kuriositäten zutage, die Jacques Tati in «Mon Oncle» (1958) vorweggenommen hatte. Während Tati in seiner Satire über die Moderne den hochtechnisierten Haushalt der vorherrschenden Technikeuphorie karikiert und eine haustechnische Panne der nächsten folgen lässt, wird bei Bêka / Lemoine das Haus von der Wohnmaschine zum lebenden Organismus, der pointiert anthropomorphe Züge annimmt (Abb. 1 und 2).

Walk-Through wird zum Fly-Through

Das dritte und letzte Beispiel stammt aus der Küche der Architektur selbst: Eine zugegebenermassen rudimentäre Animation auf Youtube erfasst den Bau mit den computertechnologischen Mitteln der Architekturdarstellung und errechnet daraus ein Walk-Through, das sich vielmehr als Fly-Through präsentiert. Entlang eines vordefinierten Pfades durchfliegt die Kamera den Bau und simuliert eine Raumerfahrung, die weder der Logik unserer Wahrnehmung noch der Gleichzeitigkeit der von Koolhaas angelegten Bezugspunkte entspricht. Hier zeigt sich das Dilemma zwischen Technologie und Wahrnehmungsdispositionen, die auf bestehenden Konditionierungen und Immersionsstrategien einer Kulturgeschichte der Bildmedien beruht (Abb. 7).

Notationsform als Erkenntnisinstrument

Der Vergleich dieser drei Beispiele zeigt nicht nur die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation, er zeigt auch die Unterschiedlichkeit in der Notation von Raum. Die Notationsform wird zum jeweiligen Erkenntnisinstrument von Raumvorstellungen und Deutungsansätzen: Wer ist der Protagonist dieser Filme – ist es das Haus selbst, das zum Erzähler wird? Ist es der Architekt, der strukturell auf ein Erlebnis hinwirkt? Ist es der Filmer, der aus auktorialer Perspektive berichtet und seine Ideenwelt auf die Haushälterin und damit indirekt auf den Zuschauer überträgt?

Bewegliche Kulissenbauten

Stellt im fiktionalen Film der Raum einen Handlungsrahmen her, der durch die filmische Syntax Befindlichkeiten und Stimmungen der Charaktere spiegelt und damit zur Projektionsfläche emotional gesteuerter Setups wird, stehen wir beim Dokumentarfilm vor dem Dilemma, dass der Protagonist, also das Bauwerk, sich schlecht zum Akteur eignet. Ein Blick auf Beispiele dieses Genres zeigt, dass unterschiedliche Strategien gewählt werden, um dieses Problem anzugehen. Sowohl bei Bêka / Lemoine als auch in «Paris poussière» von Silke Fischer (1998) übernimmt das Reinigungspersonal den Part der Darsteller, führt durch das Gebäude und baut den Identifikationstransfer zum Zuschauer auf. Auch in «Il girasole. Una casa vicino a Verona» des Architekten Marcel Meili und des Regisseurs Christoph Schaub (1995) spricht die Erinnerung aus dem Off und führt in ruhig gleitender Betrachtung durch vergangene Zeiten. Augenfällig ist, dass in allen drei Beispielen die Bauten raumchoreografische Anlagen aufweisen, die wie ein beweglicher Kulissenbau anmuten. Versetzt Koolhaas mit der Hebebühne das Haus in Bewegung, kommen in «Paris poussière» Jean Nouvels Fassadenspiele zum Einsatz (Abb. 3). Meili und Schaub stellen ein Haus aus den 1930er- Jahren vor, das ein ingenieurtechnisches Kuriosum darstellt, als Wohnturm auf einem drehbaren Sockel erbaut wurde und sich wie eine Sonnenblume nach dem Licht ausrichtet.

Dankbar werden diese mobilen Elemente aufgenommen und in bewegte Raumbilder übersetzt. Genau dieses Genre gibt aber auch Auskunft darüber, ob in einem Gebäude Strukturen angelegt sind, die ihre Wirkung erst in der Bewegung entfalten, die zeitgleich unterschiedliche Eindrücke entfalten. Wie John Cage seine Klanglandschaften «als offenes, ungerichtetes, vielfach geschichtetes, aber nicht geordnetes Feld von Wahrnehmungen» propagiert, verweisen experimentelle Ansätze der filmischen Architekturgeschichtsschreibung auf eine Mulitperspektivität, die die Möglichkeiten der Strukturen von Raum und Bewegung andeuten und zum Behälter unserer Erinnerungen, Emotionen und Geschichten werden.


Anmerkung:
[01] Vgl. Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin 2008 (siehe S. 13)

TEC21, Fr., 2009.11.27

27. November 2009 Doris Agotai

Zeit, technisch gezeichnet

Um komplexe zeitliche Abläufe übersichtlich darzustellen, bedient man sich Diagrammen, Tabellen oder Listen. Während Bahnreisenden tabellarische Anzeigen ausreichen, bedürfen die betrieblichen Abläufe des Systems Eisenbahn ausgeklügelterer Darstellungsformen. Sie bestimmen nicht nur Abfahrts- und Ankunftszeiten von Zügen in den Bahnhöfen, sondern enthalten auch nähere Spezifikationen der Gleisbelegung auf offener Strecke.

Grundsätzlich werden die betrieblichen Abläufe in Fahrplänen abgebildet, jedoch muss sich deren Darstellung an den unterschiedlichen Bedürfnissen und Anforderungen der Beteiligten orientieren. Je nachdem, ob man ein Hilfsmittel benötigt, um Gleisbelegungen in einem Bahnhof oder Anschlüsse zwischen verschiedenen Zügen zu optimieren, oder ob ein Kommunikationsmittel erforderlich ist, das dem Fahrgast in einer übersichtlichen Form die nächsten Abfahrten an einer Station aufzeigt, ergeben sich unterschiedliche, auf den jeweiligen Zweck spezialisierte Darstellungsformen desselben Fahrplans.

Fahrpläne als Kundeninformation

Alle Bahnkunden kennen die weissen und gelben Ankunfts- und Abfahrtstafeln, die Monitore oder grossen Anzeigetafeln in den Bahnhöfen. Mithilfe dieser tabellarischen Übersicht lassen sich ankommende und abfahrende Züge schnell zusammentragen. Für Ziele, die nur durch Umsteigen zu erreichen sind, sind zusätzliche Informationen und Kenntnisse notwendig, ohne die sich eine Reise mit mehreren Umsteigevorgängen nicht planen lässt. Kursbücher bedienen sich ebenfalls der tabellarischen Darstellung der Fahrpläne, wobei die Zugläufe bzgl. eines Streckenabschnitts detaillierter aufgelistet werden (Abb. 1) und neben den Ankunfts- und Abfahrtszeiten noch weitere Informationen enthalten können.

Der elektronische Fahrplan hat das klassische Kursbuch zur Kundeninformation weitgehend abgelöst und erleichtert den Kunden die Zusammenstellung komplizierter Reiserouten. Der Computer übernimmt für die Planung einer Reise mit mehreren Umsteigevorgängen die Kenntnisse bzgl. der Linienführung, der Zugsverbindungen, der geografischen Lage und der potenziellen Umsteigeorte und sucht nach geeigneten Verbindungen. Nicht selten werden Verbindungen angegeben, die zwar schneller als andere sind, aber mehr Umsteigevorgänge enthalten. Jeder dieser Umsteigevorgänge birgt aber das Risiko, den Anschlusszug zu verpassen und irgendwo ungeplant warten zu müssen. Besonders hoch ist dieses Risiko, wenn die Umsteigezeit knapp bemessen oder der ankommende Zug häufig verspätet ist. Deshalb wählen Reisende oft Routen, die geringfügig länger dauern, dafür mit hoher Wahrscheinlichkeit zur geplanten Zeit am Zielort eintreffen.

Bildfahrpläne und Fahrplanbetrieb

Der Fahrplan ist nicht nur ein Instrument der Kundeninformation, sondern auch Teil der Kommunikation und Betriebsführung. Unter Fahrplankonstruktion wird die Festlegung von Zugfahrten verstanden, d. h. die Entwicklung eines Soll-Betriebsablaufs unter Berücksichtigung der Infrastrukturgegebenheiten. Dazu gehören Ankunfts- und Abfahrtszeiten an Bahnhöfen genauso wie die Durchfahrzeiten an Betriebspunkten, an denen kein Halt stattfindet. Auch Güterzüge müssen frühzeitig in die Planung einbezogen werden. Das Weg-Zeit-Diagramm ist eine traditionelle Art, um den zeitlichen Verlauf mehrerer Zugsfahrten entlang einer Strecke darzustellen. Diese sogenannten Bildfahrpläne zeigen das Betriebsgeschehen auf einer Strecke und bilden für den Fahrplankonstrukteur und den Betriebsführenden zentrale Arbeitsinstrumente.[1] Sie erlauben eine erste Prüfung der betrieblichen Machbarkeit eines Fahrplans in Bezug auf Konflikte (z.B. ungenügende Abstände zwischen zwei Zügen); hinreichende Rückschlüsse auf die tatsächlichen betrieblichen Belegungszeiten der Infrastruktur lassen sich jedoch nicht ziehen.

Fahrplankonstruktion: Abwägung von Kapazität und Stabilität

Im Bildfahrplan werden die Streckeninformationen (Folge von Betriebspunkten) meist auf der horizontalen und die Zeit auf der vertikalen Achse dargestellt. Zugfahrten werden als Kurven (Bewegungslinie) im Diagramm mit Zugnummer eingezeichnet (Abb. 1). Die Geschwindigkeit eines Zuges ist umso höher, je steiler die entsprechende Linie verläuft. Je dichter das Angebot ist, d. h. je dichter die Züge auf dem Netz verkehren, desto komplexer und anspruchsvoller ist die Erstellung von Fahrplänen, da nicht nur Abfahrtsund Ankunftszeiten von Zügen in den Bahnhöfen bestimmt werden müssen, sondern auch nähere Spezifikationen der Gleisbelegung ausserhalb – besonders an stark belasteten Stellen im Netz. Für jede Zugfahrt werden bestimmte Infrastrukturteile (Ressourcen) für eine gewisse Zeit reserviert. Mithilfe der Sperrzeitentreppen (Abb. 2 und 3) lässt sich überprüfen, ob die Inanspruchnahme der Infrastruktur durch die einzelnen Zugfahrten zulässig ist oder nicht. Je mehr Züge auf dem Netz verkehren sollen, desto schwieriger wird es, die zeitliche Ressourcenzuteilung zu planen und daraus gültige Fahrpläne zu erstellen, bei denen kein Gleis gleichzeitig von zwei Zügen beansprucht wird (Überlappung der jeweiligen Sperrzeiten), welche die Umsteigebeziehungen gewährleisten und Reisezeiten einhalten etc.Bildfahrpläne helfen auch, elementare Kapazitäts- und Stabilitätsfragen zu beantworten.

Zeichnet man die jeweiligen Sperrzeitentreppen zu den Bewegungslinien der Züge ein, zeigen sich «Löcher», in die weitere Zugfahrten eingeschoben werden könnten. Es scheint, dass die Schweiz heute einen Fahrplan betreibt, der sehr nahe an der Auslastungsgrenze liegt. In den letzten Jahren wurde das Angebot im Personenverkehr stets ausgebaut, ohne dass die Pünktlichkeit gesunken ist. Allerdings ist der Fahrplan straffer, sodass die Auswirkungen bei einem grösseren Ereignis schwerer wiegen. Ob weitere substanzielle Ausbauten des Angebots ohne zusätzliche Infrastruktur überhaupt machbar sind und wenn ja, mit welchen Konsequenzen für die Zuverlässigkeit des Fahrplans, ist besonders für die Infrastrukturbetreiber von Interesse.

Balance zwischen Anforderung und Ressourcen

Ein System kann nur als effizient bezeichnet werden, wenn die gewünschte Leistung und die Leistungsfähigkeit des Systems möglichst übereinstimmen. Ist die Leistungsfähigkeit viel höher, so werden Ressourcen zur Verfügung gestellt, die nicht oder nur teilweise gebraucht werden. Die Folgen sind hohe Kosten für geringe Leistung oder sogar Schäden wegen Nichtgebrauchs. Falls auf der anderen Seite die Leistungsfähigkeit des Systems überstrapaziert wird, entstehen hohe Betriebskosten auf Grund der hohen Beanspruchung (z. B. hohe Abnutzung, Performance- und / oder Verfügbarkeitseinbussen etc.).

Bahninfrastrukturbetreiber sind hier besonders gefordert: Das gewünschte Fahrplanangebot und die zur Verfügung stehende Infrastruktur müssen bestens aufeinander abgestimmt sein. Eine Überbeanspruchung der Infrastruktur wird neben höherem Verschleiss zu häufigen Verspätungen, zu sinkender Kundenzufriedenheit und schliesslich zu Einnahmeeinbussen führen. Erschwerend kommt hinzu, dass Erweiterungen der Leistungsfähigkeit (Ausbau der Infrastruktur) einerseits sehr teuer sind und andererseits die Zeit bis zur Inbetriebnahme unter Umständen sehr lang ist.

Berücksichtigung des Risikos von Verspätungen

Momentan gehen internationale Richtlinien davon aus, dass nur ungefähr 70 % der theoretisch verfügbaren Leistungsfähigkeit ausgeschöpft werden sollten, damit ein Fahrplan stabil durchführbar ist.[2] Die übrigen 30 % werden für die Zeitreserven gebraucht, die bei Verspätungen zur Verfügung stehen, damit die Züge dennoch möglichst pünktlich am Zielort eintreffen. Pünktlichkeit bzw. Verspätungsminuten sind das Mass, mit dem die Qualität des Bahnangebots und somit des Fahrplans gemessen wird.

Fahrzeitpufer, Haltezeitpufer und Abstandpufer

Verspätungen treten während der täglichen Durchführung immer wieder auf. Ursachen dieser Verspätungen sind mannigfaltig: zu langsamer Fahrgastwechsel, Stellwerkstörungen, technische Defekte am Rollmaterial, umgestürzte Bäume, Weichen- und Fahrleitungsstörungen, Personen im Gleis, heruntergerissene Fahrleitungen usw. All diese Ereignisse führen zu Änderungen im geplanten Ablauf und müssen bei der Erstellung eines Fahrplans einkalkuliert werden. Zeitliche Schwankungen in den Abläufen bzw. in der Durchführung eines Fahrplans – zumindest die geringen zeitlichen Abweichungen – müssen aufgefangen werden können, sonst kann ein Fahrplan nicht als stabil betrachtet werden. Damit die Auswirkungen von Verspätungen auf die Kunden (Personen und Güter) so gering als möglich ausfallen, wird ein Teil der zur Verfügung stehenden Kapazität geopfert, und es werden während der Erstellung des Fahrplans Zeitreserven im Fahrplan eingebaut. Mit anderen Worten: Man verlängert die zeitliche Belegung der Gleise künstlich während der Planung, um Verspätungen während des Betriebs auffangen zu können.

Deshalb werden heute verschiedene Arten von Reservezeiten in Fahrplänen eingefügt, alle mit dem Ziel, die gegenseitigen Beeinträchtigungen der Züge im System zu verringern, Verspätungsübertragungen zu verhindern und somit den Fahrplanbetrieb aufrechtzuerhalten. Dabei werden drei Arten von Reservezeiten unterschieden (Abb. 4):Fahrzeitpuffer, Haltezeitpuffer und Abstandpuffer. Mit Hilfe dieser Pufferzeiten ist es im Betrieb möglich, allfällige Verspätungen durch schnellere Abläufe aufzuholen. Der Fahrzeitpuffer ist ein meist prozentual zur technisch möglichen Fahrzeit addiertes Intervall. Die Zugfahrten werden so künstlich geringfügig verlängert, jedoch kann im Verspätungsfall durch schnelleres Fahren bereits vor der Ankunft im nächsten Bahnhof eine Verspätung abgebaut werden.

Haltezeitpuffer in Bahnhöfen werden benutzt, um Verspätungen von ankommenden Zügen aufzufangen. Allfällige Verspätungen können dadurch eliminiert (oder zumindest reduziert) und Abgangsverspätungen der Züge ebenfalls reduziert werden. Zudem können Anschlüsse länger gewährleistet werden, sodass im Verspätungsfall die Umsteigemöglichkeiten möglichst lange erhalten bleiben.

Abstandpuffer verhindern, dass sich eine Verspätung des ersten Zuges unmittelbar auf den folgenden Zug überträgt. Die Analyse der Abstandspuffer liefert wichtige Hinweise zur Stabilität eines Fahrplans, da zu geringe Abstände zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zügen einen Dominoeffekt auslösen können, falls der erste Zug verspätet ist. Wie gross die Abstände zwischen zwei Zügen sein müssen, hängt von der Wahrscheinlichkeit von Verspätungen ab. Ist ein vorausfahrender Zug fast immer pünktlich, können nachfolgende Züge mit geringerem Abstand folgen, da das Risiko klein ist, durch den vorausfahrenden Zug behindert zu werden. Ist der vorausfahrende Zug unzuverlässig mal pünktlich, mal unpünktlich, müssen unter Umständen grössere Abstände eingeplant oder weitere Möglichkeiten zur Behandlung von Verspätungen zur Verfügung gestellt werden.

Zukünftige Fahrpläne und Angebotsverbesserungen

Je dichter ein Fahrplan ist, desto kleiner werden diese Reserven. Besonders in den Zuläufen zu wichtigen Knotenbahnhöfen bestehen Kapazitätsengpässe. In der Folge müssen Fahrzeiten-, Haltezeiten- und Abstandspuffer in diesen Bereichen reduziert werden, da sonst zu viele wertvolle Ressourcen unnötig beansprucht werden. Eine weitere Verdichtung des Fahrplantaktes und die damit einhergehende grössere Anzahl der Umsteigebeziehungen führt gerade in Bahnhofsregionen zur Saturierung der Infrastruktur. Der Fahrplan wird nur dadurch stabil gehalten, dass Fahrzeitenpuffer reduziert werden und Anschlüsse früher gebrochen werden (Reduktion der Haltezeitpuffer) – das erweiterte Verkehrsangebot und der verdichtete Taktfahrplan entschädigen für verpasste Anschlüsse.

Bei ausgelasteten Fahrplänen müssen deshalb die Züge innerhalb einer Bahnhofsregion auf Grund der spärlich vorhandenen Kapazität so schnell wie möglich fahren. Da jedoch auf Pufferzeiten nicht grundsätzlich verzichtet werden kann, werden die Puffer auf die Strecke zwischen den Bahnhöfen transferiert. Dies ist eine Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit der Bahn zu steigern.

Präzise Planung und neue Technologien

Alternativ zu eingebauten Zeitreserven können auch andere Massnahmen ergriffen werden, um die Stabilität des Fahrplans zu gewährleisten: Die Abläufe können beispielsweise zeitlich exakter durchgeführt werden. Aber nicht nur präzise Prozesse und Planungen helfen, einen Fahrplan stabil zu halten, sondern auch neue Technologien. Mit Hilfe der Entwicklungen zu ERTMS (European Railway Traffic Management System) und den Komponenten ETCS (European Train Control System) und GSM-R (Global System for Mobile Communications – Railway) werden in Zukunft immer mehr und genauere Informationen für Fahrdienstleiter, Lokführer und Disponenten zur Verfügung stehen.[3] Die Einführung und Weiterentwicklung dieser Technologien erhöht die Verfügbarkeit präziser Informationen über das Geschehen auf den Schienen. Dies steigert die Flexibilität und die Möglichkeiten, auf Verspätungen zu reagieren, womit die Leistungsfähigkeit des Systems «Bahn» ebenfalls optimiert werden kann, ohne dass Stabilitätseinbussen in Kauf genommen werden müssen.


Anmerkungen:
[01] www.fahrplanfelder.ch
[02] UIC, Code 406 – Capacity. UIC, Paris, 2004
[03] www.ertms.com

TEC21, Fr., 2009.11.27

27. November 2009 Thomas Herrmann

4 | 3 | 2 | 1