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27. November 2009Doris Agotai
TEC21

Raum, filmisch notiert

Zur Darstellung von Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme: Zeichnungen, Fotografien oder Modelle. Wie das Medium des Films in den Raum eingreift, wird im Folgenden anhand dreier Beispiele gezeigt. Sie illustrieren die Unterschiedlichkeit in der Notation von Raum sowie die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation.

Zur Darstellung von Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme: Zeichnungen, Fotografien oder Modelle. Wie das Medium des Films in den Raum eingreift, wird im Folgenden anhand dreier Beispiele gezeigt. Sie illustrieren die Unterschiedlichkeit in der Notation von Raum sowie die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation.

Etienne-Jules Marey erstellte um 1900 mit seinen berühmten und wegweisenden Chronofotografien Bewegungsstudien von Pferden. Diese Chronofotografien gelten zugleich als Wegbereiter des bewegten Bildes, des frühen Films. Auch in der Diskussion über Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme – heute neben Zeichnungen, Fotografien oder Modellen vermehrt auch zeitbasierte Medien, also Ausdrucksformen, die neben dem Raum auch die Bewegung und die Dimension der Zeit erfassen. Der folgende Beitrag zeigt, ausgehend von einer Architekturikone der letzten Jahre, welche unterschiedlichen Formen räumlicher Notation das Medium Film hervorbringt und welche Bedeutungsebenen sich daraus erschliessen.

Schon zu Beginn der 1930er-Jahre nutzte Le Corbusier den Film als propagandistisches Medium, um seinen Ideen Ausdruck zu verleihen und um seine Visionen einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Gemeinsam mit Pierre Chenal verfilmte er in der soeben fertiggestellten Villa Savoye sein Manifest zu den fünf Punkten einer Neuen Architektur. Der Film vermittelt neben Le Corbusiers Faszination für neue Mobilitätsformen und die daraus resultierenden Seherfahrungen eine Bewegungschoreografie entlang der «promenade architecturale», die über Rampen und Treppen von der Zufahrt über das ausladende und lichtdurchflutete Hauptgeschoss bis hin zum «Solarium» auf der Dachterrasse führt. Das Medium Film ermöglichte es so, die Bewegungserfahrungen und damit einen zentralen Bestandteil des architektonischen Konzepts mit einzubinden.

Im Vordergrund standen also nicht nur Fragen der Darstellung, sondern auch neue ästhetische Positionen des architektonischen Entwurfs, die aus dem Austausch dieser beiden Medien hervorgingen – Entwurfsansätze, die sich mit Fragen der bewegten Wahrnehmung, der Konstruktion innerer Raumvorstellungen und den daraus resultierenden choreografischen Elementen wie beispielsweise der Montage befassten.

So umfasst der Film als Medium immer auch eine Notation von Raum: Er übersetzt architektonische Gestaltungsmomente in neue Ausdrucksformen, die er rhythmisch ordnet und zeitlich festigt. Ob Ruttmann in «Berlin, Sinfonie einer Grossstadt» (1972) der Stadt den Puls fühlt, ob wir in Hitchcocks Treppenfluchten vor Schreck erstarren, ob Musikclips uns in experimentellem Duktus durch düstere Hinterhöfe führen oder ob eine Computeranimation ein neues Bauprojekt im Flug erschliesst – das Medium Film leitet an, wie der Raum geordnet wird, wie Farb-, Bewegungs- und Tiefenwirkungen interpretiert und einer neuen Form zugeführt werden. Die raumzeitliche Partitur bringt eine neue Wirklichkeit hervor, die zwischen Konzept und Werkinhalt vermittelt und sich auf unterschiedliche Bedeutungsebenen bezieht.

Villa in Floriac bei Bordeaux von Rem Koolhaas

Die drei folgenden filmischen Arbeiten machen deutlich, wie sich je nach Form der verwendeten Notation ein weites Spektrum von Bedeutungs- und Ausdrucksebenen eröffnet. Die Beispiele könnten dabei unterschiedlicher nicht sein – allein schon die Tatsache, dass sie alle in den letzten Jahren entstanden sind und sich auf denselben Bau beziehen, verbindet sie und macht sie für diesen Vergleich interessant: Es sind filmische Interpretationen der Villa in Floriac bei Bordeaux von Rem Koolhaas. Bemerkenswert ist, dass der Architekt dieses Gebäudes über Erfahrungen als Drehbuchautor und Regisseur verfügte, bevor er sich der Architektur zuwandte – ist es also ein Zufall, dass genau dieser Bau Ausgangspunkt filmischer Interpretationen wurde, oder spiegelt sich bereits in der Anlage des architektonischen Konzepts die Faszination für szenische Sequenzen, Raumverkettungen und Montageformen?

Zunächst zur Vorgeschichte des Baus: Die Villa in Floriac von Rem Koolhaas wurde 1998 erbaut. Bauherr war ein Verleger aus Bordeaux, der einen schweren Autounfall erlitten hatte. Er konnte sich nach diesem Unfall nur noch im Rollstuhl fortbewegen und war gezwungen, seine Wohnsituation verändern. Er gab Koolhaas ein Haus in Auftrag mit dem Wunsch nach einem vielfältigen, abwechslungsreichen Raumangebot. So entstand ein Gebäude, das die Anlage zu unterschiedlichsten Weg- und Erschliessungssystemen enthielt, die zu immer neuen Raumerfahrungen führen sollten. Allein drei Treppensysteme durchstossen das Haus: eine lineare, pragmatische Servicetreppe, eine geheime, eng gewundene Wendeltreppe zu den Zimmern der Kinder und eine plastisch modellierte Haupttreppe, die im Erdgeschoss absetzt und etwas versetzt weitergeführt wird und damit den Weg als Montage inszeniert.

Dazu kommt die ausladende Hebebühne, die je nach Position als Arbeitsraum dient, Galerieräume im Haus öffnet und die horizontale Schichtung aus dem Gefüge hebt. Allein die Treppen zeichnen ein Psychogramm des Hauses, indem sie zwischen äusserer Funktion und inneren Ideenwelten vermitteln.

Echtzeiterlebnis: Wahrnehmung der Dimension der Zeit

Der belgische Künstler David Claerbout wählte diese Architekturikone als Schauplatz seiner kinematografischen Installation «Bordeaux Piece», die er 2004 für eine Dauer von 13 Stunden entwarf. Architekturikone deshalb, weil Claerbout für die Handlung eine Geschichte aufnahm, die ihrerseits in einem Bau spielte, die zur Ikone geworden war: Claerbout übernimmt in diesem Werk den Plot aus Jean-Luc Godards «Le mépris» (1963), der in der Villa Malaparte auf Capri aufgenommen wurde, einer Villa des Architekten Adalberto Libera aus den 1930er-Jahren, die bizarr aus den Klippen auf der Insel Capri ragt (Abb. 5 und 6).

Claerbout inszeniert dieselbe Geschichte, stark verkürzt, und wiederholt sie im Rhythmus von 10 Minuten über 70 Mal. Die einzelnen Sequenzen werden zur selben Tageszeit aufgenommen, zu der sie im Museum projiziert werden. Die Geschichte verliert mit der Wiederholung an Gehalt, wodurch die Lichtstimmungen und der Raum in den Vordergrund treten. Der Besucher taucht in ein atmosphärisches Echtzeiterlebnis der Villa ein und erfährt über das Licht die Dimension der Zeit (Abb. 4).

Im zweiten Beispiel ist die Koolhaas-Villa Protagonistin eines Architekturdokumentarfilms, der 2008 an der Architekturbiennale in Venedig uraufgeführt wurde und in Architekturkreisen grosse Beachtung fand. Der Film heisst «Koolhaas Houselife» von Ila Bêka und Louise Lemoine. Die verschiebbaren Wände, die höhenverstellbare Decke oder die automatisierten Fenster unterliegen hier dem Regime der Reinigung und werden von einer Haushälterin bisweilen lautstark kommentiert, vorab aber mit Gleichgültigkeit quittiert. Immer wieder treten Kuriositäten zutage, die Jacques Tati in «Mon Oncle» (1958) vorweggenommen hatte. Während Tati in seiner Satire über die Moderne den hochtechnisierten Haushalt der vorherrschenden Technikeuphorie karikiert und eine haustechnische Panne der nächsten folgen lässt, wird bei Bêka / Lemoine das Haus von der Wohnmaschine zum lebenden Organismus, der pointiert anthropomorphe Züge annimmt (Abb. 1 und 2).

Walk-Through wird zum Fly-Through

Das dritte und letzte Beispiel stammt aus der Küche der Architektur selbst: Eine zugegebenermassen rudimentäre Animation auf Youtube erfasst den Bau mit den computertechnologischen Mitteln der Architekturdarstellung und errechnet daraus ein Walk-Through, das sich vielmehr als Fly-Through präsentiert. Entlang eines vordefinierten Pfades durchfliegt die Kamera den Bau und simuliert eine Raumerfahrung, die weder der Logik unserer Wahrnehmung noch der Gleichzeitigkeit der von Koolhaas angelegten Bezugspunkte entspricht. Hier zeigt sich das Dilemma zwischen Technologie und Wahrnehmungsdispositionen, die auf bestehenden Konditionierungen und Immersionsstrategien einer Kulturgeschichte der Bildmedien beruht (Abb. 7).

Notationsform als Erkenntnisinstrument

Der Vergleich dieser drei Beispiele zeigt nicht nur die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation, er zeigt auch die Unterschiedlichkeit in der Notation von Raum. Die Notationsform wird zum jeweiligen Erkenntnisinstrument von Raumvorstellungen und Deutungsansätzen: Wer ist der Protagonist dieser Filme – ist es das Haus selbst, das zum Erzähler wird? Ist es der Architekt, der strukturell auf ein Erlebnis hinwirkt? Ist es der Filmer, der aus auktorialer Perspektive berichtet und seine Ideenwelt auf die Haushälterin und damit indirekt auf den Zuschauer überträgt?

Bewegliche Kulissenbauten

Stellt im fiktionalen Film der Raum einen Handlungsrahmen her, der durch die filmische Syntax Befindlichkeiten und Stimmungen der Charaktere spiegelt und damit zur Projektionsfläche emotional gesteuerter Setups wird, stehen wir beim Dokumentarfilm vor dem Dilemma, dass der Protagonist, also das Bauwerk, sich schlecht zum Akteur eignet. Ein Blick auf Beispiele dieses Genres zeigt, dass unterschiedliche Strategien gewählt werden, um dieses Problem anzugehen. Sowohl bei Bêka / Lemoine als auch in «Paris poussière» von Silke Fischer (1998) übernimmt das Reinigungspersonal den Part der Darsteller, führt durch das Gebäude und baut den Identifikationstransfer zum Zuschauer auf. Auch in «Il girasole. Una casa vicino a Verona» des Architekten Marcel Meili und des Regisseurs Christoph Schaub (1995) spricht die Erinnerung aus dem Off und führt in ruhig gleitender Betrachtung durch vergangene Zeiten. Augenfällig ist, dass in allen drei Beispielen die Bauten raumchoreografische Anlagen aufweisen, die wie ein beweglicher Kulissenbau anmuten. Versetzt Koolhaas mit der Hebebühne das Haus in Bewegung, kommen in «Paris poussière» Jean Nouvels Fassadenspiele zum Einsatz (Abb. 3). Meili und Schaub stellen ein Haus aus den 1930er- Jahren vor, das ein ingenieurtechnisches Kuriosum darstellt, als Wohnturm auf einem drehbaren Sockel erbaut wurde und sich wie eine Sonnenblume nach dem Licht ausrichtet.

Dankbar werden diese mobilen Elemente aufgenommen und in bewegte Raumbilder übersetzt. Genau dieses Genre gibt aber auch Auskunft darüber, ob in einem Gebäude Strukturen angelegt sind, die ihre Wirkung erst in der Bewegung entfalten, die zeitgleich unterschiedliche Eindrücke entfalten. Wie John Cage seine Klanglandschaften «als offenes, ungerichtetes, vielfach geschichtetes, aber nicht geordnetes Feld von Wahrnehmungen» propagiert, verweisen experimentelle Ansätze der filmischen Architekturgeschichtsschreibung auf eine Mulitperspektivität, die die Möglichkeiten der Strukturen von Raum und Bewegung andeuten und zum Behälter unserer Erinnerungen, Emotionen und Geschichten werden.


Anmerkung:
[01] Vgl. Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin 2008 (siehe S. 13)

TEC21, Fr., 2009.11.27



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17. November 2008Doris Agotai
TEC21

Virtuelle Welten

Von «Raumschiff Orion» bis zu «Matrix»: Science-Fiction-Szenarios waren stets Projektionsfläche wilder Allmachtsfantasien in computergesteuerten Parallelwelten....

Von «Raumschiff Orion» bis zu «Matrix»: Science-Fiction-Szenarios waren stets Projektionsfläche wilder Allmachtsfantasien in computergesteuerten Parallelwelten....

Von «Raumschiff Orion» bis zu «Matrix»: Science-Fiction-Szenarios waren stets Projektionsfläche wilder Allmachtsfantasien in computergesteuerten Parallelwelten. Heute steht der Begriff «Virtual Reality» auch für eine Technologie, die der Architektur neuartige Erfahrungsräume eröff net – bis sich der Kreis zur Fiktion schliesst: Die virtuelle Vorwegnahme zukünft iger Bauprozesse wird zumindest einen Teil des Wunsches einlösen, Reisen in der vierten Dimension, in die Zukunft , zu unternehmen.

Um Verwechslungen vorzubeugen: Die Technologie «Virtual Reality», auch VR genannt, unterscheidet sich von der Vorstellung einer virtuellen Realität, die sich auf Cyberspaces, digitale Plattformen wie «Second Life» oder das Internet schlechthin bezieht. Der Wandel zur telematischen Gesellschaft geht auch hier – wie bei vielen Veränderungen – mit existenziellen Ängsten einher und wird in der Theorie kontrovers diskutiert[1]: In «Das perfekte Verbrechen» verheisst der französische Philosoph Jean Baudrillard das spurlose Verschwinden der Realität.[2] Bei seinem Kollegen Paul Virilio weicht der gebaute Raum im Zuge der digitalen Entwicklung einer raum-zeitlichen Topologie und führt zur Auflösung des Raums.[3] Etwas nüchterner betrachtet die Professorin für Philosophie am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin Sybille Krämer diesen Wandel und fragt vielmehr, welche Veränderungen die Virtualisierung auf die Bildung neuer Wirklichkeitsvorstellungen hat. Sie stellt dar, wie computergestützte Medien zu neuartigen Phänomenen führen und unsere Modalitäten des Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägen.

Illusion und Immersion

Während sich in der computertechnologischen Entwicklung die Arbeitssituation von Bildschirm, Tastatur und Maus etabliert hat, läuft seit den 1950er-Jahren die Forschung an anderen Interfaces und Interaktionsformen. Die Multi-Touch-Oberfläche des iPhone ist ein Resultat davon, ebenso biometrische Kontrollmedien, Ubiquitous Computing (Allgegenwärtigkeit rechnergestützter Informationsverarbeitung) oder eben VR. Ivan Sutherland war der erste, der mit der Entwicklung eines «Head Mounted Display» (1968) immersive[4] Erfahrungsräume durch dreidimensionale Computerdaten schuf.

Die Möglichkeit, sich durch virtuelle Räume bewegen zu können, steht ideengeschichtlich in der Tradition der Illusionsmedien. So kann VR nicht unabhängig als neues Medium betrachtet werden, sondern steht im Kontext ästhetischer Entgrenzungsstrategien wie perspektivisch überhöhter Fresken in der Renaissance oder Deckenpanoramen in Barockkirchen, des Panoramas und der Erfindung des Stereoskops im 19. Jahrhundert oder des 3-D-Kinos (Bilder 2, 3, 6). Idee dieser Konzepte war dabei immer die spielerisch-bewusste Hingabe an eine Scheinwelt, der Genuss einer Illusion, das Verwischen der Betrachtergrenze zum Bildraum bis hin zur Domestizierung der Sinne und zur Überwältigung der Realitätswahrnehmung. [5] Daraus ergibt sich unweigerlich die Frage, welchen Stellenwert VR als Entwurfs- und Darstellungstechnik für die Architektur einnehmen kann, zumal die Verlockung gross ist, Raumideen virtuell durchschreiten zu können.

Krisen- und Innovationsphasen der VR-Technologie

Für die Gestaltung oder Präsentation von Architektur bietet die VR-Technologie eine intuitive und emotional eindrückliche Alternative gegenüber Computeranimationen am Bildschirm – im Gegensatz zur zweidimensionalen Raumdarstellung und der Navigation mit Tastatur und Maus lässt VR den Betrachter in den dreidimensionalen Raum eintauchen: Die stereoskopische Bildtechnik simuliert eine tiefenräumliche Erfahrung (Bild 7). Die Interaktion erfolgt über die Eigenbewegung des Betrachters. Je nachdem, wie man den Kopf wendet und sich im virtuellen Raum umblickt, wird in Echtzeit die entsprechende Perspektive errechnet und gerendert. Der Betrachter wähnt sich statt in einem virtuellen in einem realen Raum – bis hin zur Höhenangst. Über zusätzliche Eingabegeräte kann die Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit gesteuert oder nach virtuellen Objekten gegriffen werden.[6] Verlief die Interaktion in den Anfängen der VR-Technologie zunächst über Datenhelme und -handschuhe, wurden in den 1990er-Jahren vermehrt Projektionsräume konzipiert, die dem Betrachter mehr Freiheit liessen. Intuitiv, das heisst wie in der echten Welt, konnte sich der Betrachter nun durch simulierte Räume bewegen. Der zentrale Gedanke dieser Erfindungen war, dass sich nicht der Mensch den Gegebenheiten von Maschinen anpasst, sondern die Technologie Simulationsmodelle zur Verfügung stellt, welche auf die Wahrnehmungsdisposition des Menschen eingehen und die äussere Welt spiegeln. Führten VR-Studios mit gewölbten Grossbildleinwänden oder CAVEs[7] in den 1990er-Jahren zu einem eigentlichen Hype, schlitterte die Technologie in den darauffolgenden Jahren in eine Krise: Die damals gebauten vollimmersiven Umgebungen schotteten den Nutzer zu stark von seiner realen Umgebung ab, erfüllten von der Rechnerleistung her nicht die Ansprüche an eine fotorealistische Bildqualität und schränkten durch die hohen Einstiegskosten das Anwendungsspektrum stark ein.[8]

Perspektiven: Simulation und ERkenntnisgewinn

Mittlerweile haben sich VR-Anwendungen in der Automobilindustrie, in der Medizinaltechnik oder bei Flugsimulatoren längst etabliert. Die Prozessoren sind schneller und günstiger geworden – Entwicklungen aus der Game-Industrie wie die Nintendo-Wii-Konsole, die VRKomponenten integriert, kündigen eine neue Innovationsphase an.

Es ist eine Frage der Zeit, bis sich virtuelle Umgebungen auch in der Architektur und im Baubereich festigen werden. So wird die mediale Aufbereitung von Bau- und Planungsprojekten für Investoren, in Informationspavillons oder in der Immobilienbranche selbst Laien einen Raumeindruck vermitteln und Planungsideen besser kommunizieren können.[9] Das Medium eignet sich damit zur Visualisierung und Simulationstechnik (Bilder 4, 5). Zu den Möglichkeiten der Darstellungstechnik treten jedoch vermehrt Fragen zum Erkenntnisgewinn und zur Prognostik[10] – etwa wie das Medium zur Erkennung von vergleichbaren Strukturen oder Verhaltensmustern eingesetzt und so für die Bauprozessgestaltung genutzt werden kann (Bild 8).[11] Hier schliesst sich der Kreis zur Fiktion, zur Zeitmaschine von H.G. Wells: Die Abbildung und damit Kontrolle, Fehlererkennung und Optimierung zukünftiger Bauprozesse kann virtuell vorweggenommen werden – und löst zumindest einen Teil des Wunsches ein, Reisen in der vierten Dimension, in die Zukunft, zu unternehmen.

Anmerkungen/Literatur
[1] Vgl. Döring, Jörg und Thielemann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; Krämer, Sybille (Hg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M. 1990; Maresch, Rudolf und Werber, Niels (Hg.): Raum – Wissen – Macht. Frankfurt a.M., 2002; Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M., 2005
[2] Baudrillard, Jean: Das perfekte Verbrechen. München, 1996, S.11–21
[3] Virilio, Paul (1984), Die Auflösung des Stadtbilds, in: Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M., 2006, S.261–273
[4] Der Begriff der filmischen Immersion meint das Eintauchen in eine künstliche Welt durch Auflösung der räumlichen Grenzen, die noch Theater und Oper bestimmten; er geht auf einen Text von Béla Balázs aus dem Jahr 1938 zurück und bezeichnete dort den Eingang, also die Tür in einen anderen Raum. Im Gegensatz dazu steht die Metapher des Fensters in den anderen Bildmedien; durch das Fenster kann man zwar in einen anderen Raum hineinschauen, ihn jedoch nicht betreten. Béla Balázs, Zur Kunstphilosophie des Films (1938); in: Albersmeier, F.-J. (Hg.): Theorie des Films. Reclam, Stuttgart, 1995, 204–226, hier S.215
[5] Vgl. Grau, Oliver: Virtual Art. From Illusion to Immersion: Cambridge Mass., 2003
[6] Vgl. Craig, Allan und Sherman, William: Understanding Virtual Reality. Interface, Application and Design. San Francisco (California), 2003; Burdea, Grigore und Coiffet, Philippe: Virtual Reality Technology. Hoboken (New Jersey), 2003
[7] «CAVE’s» (Cave Automatic Virtual Environments) sind geschlossene Illusionsräume, die meist aus sechs Projektionswänden bestehen
[8] Vgl. Hellige, Hans Dieter (Hg.): Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung. Bielefeld, 2008, S.59–62
[9] Doulis, Mario; Agotai, Doris; Wyss, Hans Peter (2008), Spatial Interface. Wahrnehmungsfelder und Gestaltungsansätze im virtuellen Raum, in: Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur, in Vorbereitung
[10] Vgl. Gleiniger, Andrea und Vrachliotis, Georg (Hg.): Simulation. Präsentationstechnik und Erkenntnisinstrument, Basel, 2008; Egloff , Rainer, Folkers, Gerd und Michel, Matthias (Hg.): Archäologie der Zukunft . Zürich, 2007
[11] Am Institut für 4-D-Technologien der FHNW werden mit Unterstützung von VR-Technologien Bauprozessoptimierungen für den Aus- und Umbau von Stationsbauten der SBB entwickelt. In einer virtuellen Umgebung kann dabei der gesamte Bauprozess entlang der zeitlichen Entwicklung simuliert und modifi ziert werden. Vgl. dazu: Doulis, Mario u.a. (2007), 4DIVE – A 4D Interface for the Visualization of Construction Processes in a Virtual Environment. Proceedings of CONVR 2007, University Park PA, S.28–39

TEC21, Mo., 2008.11.17



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tec21 2008|47 Ghost Architecture

05. Mai 2008Doris Agotai
TEC21

Berührungen

Die Faszination für den Film ist so alt wie das Medium selbst. Woran liegt es, dass sich auch Architekten immer wieder für den Film interessieren, Beispiele aus Filmen zitieren oder selbst Filme drehen möchten?

Die Faszination für den Film ist so alt wie das Medium selbst. Woran liegt es, dass sich auch Architekten immer wieder für den Film interessieren, Beispiele aus Filmen zitieren oder selbst Filme drehen möchten?

Vielleicht spiegelt sich in der Wahrnehmung filmischer Raumillusionen der Wunsch, neben der Beständigkeit des Gebauten auch flüchtige Raumqualitäten zu erfassen. Vielleicht erfüllt der Film die Sehnsucht, mit dem bewegten Raum auf eine Zeitlichkeit einzugehen, die an die persönliche Raumerfahrung gebunden ist. Vielleicht gibt der Film aber auch eine Realität wieder, die unserem subjektiven Empfinden näher kommt als die Architekturdarstellung. [1]

Das Verhältnis von filmischen und architektonischen Räumen ist durch eine ästhetische Nachbarschaft geprägt, unterscheidet sich aber in vielen Wahrnehmungsbedingungen. Während die Zuschauerinnen und Zuschauer im abgedunkelten Kinosaal im Sessel versinken, bewegte Räume als Lichtprojektion vorüberziehen lassen und in eine Welt eintauchen, welche die physische Präsenz der Gegenwart vergessen lässt und den Erzählraum zur momentanen Wirklichkeit macht, fordert die Architektur den bewegten Blick und das aktive Erkunden des Raums. [2]

Dort, wo dann die Architektur im Film zum Ausdruck des jeweiligen Zeitgeists wird, zur Projektionsfläche architektonischen Gestaltungswillens oder zum Schauplatz städtebaulicher Visionen, verschmelzen die beiden Bereiche. [3] Oder dort, wo die Architekturdarstellung zeitbasierte Visualisierungsformen wählt, nähert sich das eine Medium dem anderen an. Eine schwieriger zu ergründende Verbindung erschliesst sich uns dort, wo im Film Räume vorbeiziehen, die wir zwar nicht bewusst wahrnehmen, aber dennoch mit Befindlichkeiten, Tagträumen und Stimmungslagen vermischen. Hier zeigt sich, dass der Film über Gestaltungsmittel verfügt, die unsere Emotionen beeinflussen und die Imagination anregen. Wir sehen, wie filmische Raumkonzepte wie beispielsweise der Schnitt oder die Montage subjektive Raumbezüge schaffen und die Sehnsucht der Architekten einlösen, den oft diffus verhandelten Begriff der Stimmung zu präzisieren [4] – und sich damit als Untersuchungsmodell anbieten, um Raumwirkungen in der Architektur neu zu begreifen und vermeintlich bekannte Wahrnehmungsmuster aufzubrechen.

Kontextexperimente im Film

Mit einem kleinen Exkurs in die Filmgeschichte der 1920er-Jahre lässt sich zeigen, wie ein filmisches Experiment Ausgangspunkt für raumgestalterische Überlegungen sein kann. 1921 unternahm Lev Kuleschow, Regisseur und Lehrer an der 1919 gegründeten weltweit ersten Filmhochschule in Moskau, verschiedene Kontextexperimente, die unter dem Namen «Kuleschow-Effekt» in die Filmgeschichte eingegangen sind. Geprägt durch die Auseinandersetzung mit bedeutungsgenerierenden Strukturen im Umfeld des sowjetischen Formalismus, geht Kuleschow davon aus, dass das Wesen des Films nicht innerhalb der Grenzen einer einzelnen Einstellung gesucht werden muss, sondern in der Verkettung dieser Fragmente: «Kurz nach der Oktoberrevolution wurde dem jungen Filmemacher Lev Kuleschow eine Filmwerkstatt übergeben. Pudowkin war einer seiner Studenten, wie auch, für kurze Zeit, Eisenstein. Da sie nicht genügend Rohmaterial für ihre Projekte finden konnten, begannen sie, bereits fertige Filme neu zu schneiden, und bei diesem Prozess entdeckten sie eine Reihe von Wahrheiten über die Technik der Filmmontage. [...] In ihrem wohl berühmtesten Experiment nahm die Kuleschow-Gruppe drei identische Aufnahmen des bekannten vorrevolutionären Schauspielers Mosjukin und fügte sie mit Aufnahmen von einem Teller Suppe, einer Frau in einem Sarg und einem kleinen Mädchen zusammen. Nach Pudowkin, der später die Ergebnisse des Experiments beschrieb, zeigte sich das Publikum höchst begeistert von Mosjukins subtiler und affektiver Fähigkeit, solch unterschiedliche Emotionen wie Hunger, Traurigkeit und Zuneigung zu vermitteln.» [5] (Bild 1)

Subjektive Raumvorstellugen Dieses Experiment zeigt, dass die Zuschauer eine Kausalverbindung zwischen den einzelnen Einstellungen aufbauen. Aus wahrnehmungspsychologischer Sicht sind sie offensichtlich durch das Erzählkino konditioniert. Allein durch die Reihenfolge der Einstellungen nehmen sie auch die Folgerichtigkeit der Bezüge untereinander an. Die erzählerische Logik und die visuellen Verbindungen bauen im Film eine Erwartungshaltung auf, die es ermöglicht, die einzelnen Einstellungen in einen kausalen Zusammenhang zu stellen. [6]

Nun gibt es aber auch Situationen, in denen der Regisseur von den Regeln dieser sogenannten Kontinuitätsmontage abweicht und bewusst einen Bruch herbeiführt: In der Verfilmung von Franz Kafkas «Der Prozess» (1962) akzentuiert Orson Welles die Befindlichkeit des Protagonisten und setzt deshalb einen falschen Anschluss.

Der Film erzählt die alptraumähnliche Geschichte des Josef K., der Opfer eines Prozesses wird, ohne die Gründe der Anklage zu kennen. In der Folge gerät Josef K. in den Sog eines undurchsichtigen und vernichtenden Gerichtsprozederes. Welles überträgt mit seiner Verfilmung Kafkas Roman in eine visuelle, ja räumliche Sprache. Labyrinthartige Raumbezüge deuten die Normalität ins Bedrohliche und Paranoide um. In der gezeigten Szene wird Josef K. als Angeklagter zu einer Gerichtsverhandlung vorgeladen. Im berstend vollen Saal ergreift er selbst das Wort und wendet sich in einem leidenschaftlichen Plädoyer an die unbekannte, bedrohliche Menge. Er verlässt daraufhin fluchtartig den Saal und sammelt sich erschöpft vor der unvermittelt übergrossen Türe des Gerichtssaals. Welles entwirft in dieser kurzen Abfolge von Einstellungen einen szenischen Raum, der erst im Bezug der Bilder zueinander die erwünschte Wirkung entfaltet, wie dies im «Kuleschow- Effekt» beschrieben wird. Zum einen ist die Tür zum Gerichtssaal im Innenraum deutlich kleiner als in der Ansicht von aussen. Zum anderen spannen die Einstellungswinkel der Kamera eine schiefe Ebene auf. Die Ansicht der Tür, unterstützt durch die Untersicht der Kamera, verzerrt die tatsächlichen Proportionen und zeigt eine emotional gezeichnete, subjektive Vorstellung eines Raums, der so nicht gebaut sein kann, der aber die innere Befindlichkeit des Protagonisten spiegelt. Welles bedient sich hier eines falschen Anschlusses, um mit diesem Stilmittel die emotionale Ebene der Szene räumlich nachzuzeichnen. (Bilder 4–8).

«Der Kuleschowsche Raum»

Ausgehend von der filmischen Raumkonstellation in «Der Prozess» stellt sich für die Architektur die Frage, welche Wirkungsästhetik der Kontext in der Wahrnehmung von realem Raum zu entfalten vermag. So ist ein gebauter Raum zwar physisch messbar, in der subjektiven Wahrnehmung jedoch vom Kontext abhängig, also von den ihn umgebenden Räumen, die seine eigenen Raumqualitäten determinieren. Ein Raum ist beispielsweise nicht an sich hoch, sondern hoch im Vergleich zu angrenzenden Räumen, zu vertrauten Massstäben, zu einer bestimmten Funktion oder zu Räumen in der Erinnerung. Der Eindruck eines Raums wird einerseits durch den vorhergehenden konditioniert, andererseits durch die Erwartungshaltung an den nächstfolgenden Raum geprägt: «Architektur ist Gliederung des Raums, um im Teilnehmer eine bestimmte Raumerfahrung gemäss früheren oder erwarteten Raumerfahrungen hervorzurufen.» [7]

Überraschungsmomente treten dann auf, wenn genau wie im Film gegen dieses Syntagma verstossen wird und eine Raumfolge mit der Erwartung der Betrachter bricht. Peter Märkli führt dieses Phänomen am Beispiel von «La Congiunta» (1992), einem Ausstellungsbau für die Eisenplastiken Hans Josephsons in Giornico, geradezu paradigmatisch vor (Bilder 9–11). Märkli nimmt Bezug auf die klassische Enfilade, entlang deren er die drei langgezogenen Baukörper einander folgen lässt. Zunächst rückt er die Durchgänge seitlich aus der Symmetrieachse, verändert dann aber zudem die Raumhöhen von einem Ausstellungsraum zum nächsten, was wohl die am seltensten veränderte Variable in der Raumgestaltung ist. Die Räume unterliegen sorgfältig durchdachten Proportionsverhältnissen, treten vermutlich gerade deshalb in ein dialektisches Verhältnis zum Betrachter und fordern dessen bewegte Erkundung entlang der Exponate. Just beim Übergang von einem Raum zum nächsten, dem Schwellenmoment, da das Unerwartete eintrifft und der Raum sich anders präsentiert als erwartet – zunächst tiefer, dann viel höher –, destabilisiert dieser Bruch die Wahrnehmung des Betrachters. Diese Raumkonstellation, welche die Bewegungserfahrung mit einschliesst, könnte man in Analogie zum filmischen Kontextexperiment einen «räumlichen Schnitt», einen «Kuleschowschen Raum» nennen.

Auch beim «Tulach a’tSolais»-Memorial (1998) in Oulart Hill in Irland von Scott Tallon Walker Architects treffen wir auf einen Raum, der unsere Erwartungshaltung bricht. Die Gedenkstätte befindet sich unter einem künstlich angelegten Hügel und lehnt sich damit formal an die Ausprägung keltischer Kultstätten an. Einzig eine schmale Kerbe, bestehend aus zwei Betonscheiben, zerschneidet den Hügel und führt den Blick symbolisch in die Weite. Beim Betreten dieses Korridors öffnet sich im Inneren des Hügels ein breiter, offener Raum, der sich der anfänglich dominanten Ausrichtung des schmalen Zwischenraums entgegensetzt. Im Inneren verbleibt die Schneise durch den Hügel nurmehr als Linie zum Himmel, die in Form von Licht die Symbolik im Innenraum abbildet. Dieser überraschende Richtungswechsel spielt mit den Raumbezügen und setzt die Wirkung des Kontexts voraus. [8]

Unterscheiden sich Raumkonzepte im Film und in der Architektur in vielen Belangen, zeigen diese Beispiele doch, wie die ästhetische Nachbarschaft für den Umgang mit gestalterischen Problemen neue Wege öffnen kann. Der «Kuleschowsche Raum» erfasst phänomenologisch ein Erlebnismoment, beschreibt eine Raumerfahrung, die mit dem unmittelbaren Kontext und der subjektiven Erwartungshaltung verbunden ist. Der Begriff führt ein raumchoreografisches Element ein, das im Vokabular der Architektur bislang fehlt. Die Metapher wird hier zum Erkenntnisinstrument:9 Neben dem terminologischen Transfer schärft sie die Wahrnehmung, hinterfragt vermeintlich Bekanntes und eröffnet eine neue Perspektive, die in der Auseinandersetzung mit entwerferischen Fragen neue Impulse zu setzen vermag.

TEC21, Mo., 2008.05.05



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tec21 2008|19 Film und Architektur

05. Mai 2008Doris Agotai
TEC21

Architektur filmisch animiert

Von zweidimensionalen Plänen über perspektivische Ansichten bis zu fotorealistischen Computervisualisierungen arbeitet die Architektur heute zunehmend mit Animationen, die technisch dem Film sehr nahe stehen, ohne jedoch dessen spezifische Gestaltungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Hier eröffnet sich ein Feld, das ein grosses Gestaltungspotenzial birgt und eine zunehmende Verflechtung von Film und Architektur zur Folge haben wird.

Von zweidimensionalen Plänen über perspektivische Ansichten bis zu fotorealistischen Computervisualisierungen arbeitet die Architektur heute zunehmend mit Animationen, die technisch dem Film sehr nahe stehen, ohne jedoch dessen spezifische Gestaltungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Hier eröffnet sich ein Feld, das ein grosses Gestaltungspotenzial birgt und eine zunehmende Verflechtung von Film und Architektur zur Folge haben wird.

Das Forschungsprojekt «Compositing Spaces» (siehe Kasten) untersucht, in welchen Bereichen Architekturanimationen Anstösse aus dem filmischen Gestaltungsinstrumentarium aufnehmen können. Eines der Hauptprobleme zeigt sich bei der Erstellung solcher Animationen: Hier sind vorwiegend ausgebildete Architekten am Werk, die sich in filmgestalterischen Fragen nicht hinreichend auskennen. Da wir aber als Zuschauerinnen und Zuschauer durch Konventionen geprägt sind, die der Film über Jahrzehnte etabliert hat, kann dies auf visueller Ebene zu Verständnisschwierigkeiten, zu unbedacht angefertigten Aufnahmen führen, die nicht auf die Konditionierung des Betrachters eingehen. Bekannt ist dieses Phänomen aus langen, ungeschnittenen Kameraflügen durch Projekte hindurch, die wenig mit vielfältigen Blickwinkeln der subjektiven Raumbetrachtung gemein haben.

Regieanweisungen an die virtuelle Kamera

Hier setzt das Forschungsprojekt an: Die lange, ungeschnittene Einstellung ist ein Stilmittel, das auch in der filmischen Sprache existiert. Plansequenzen treten immer dort auf, wo ein besonderer Gestaltungswille vorliegt, eine Szene speziell betont wird oder schlicht die Kunstfertigkeit des Regisseurs unterstrichen werden soll, da Plansequenzen aufwendig zu filmen sind (Bilder 1–5).1 Der Normalfall sind aber Schnittsequenzen, also Szenen, die aus einzelnen Einstellungen zusammengeschnitten sind, unterschiedliche Blickwinkel einnehmen und nach den Prinzipien der Kontinuitätsmontage die Betrachter Schritt für Schritt in den Raum einführen. Daher haben wir versucht, eine Narration für die Architekturanimation zu erstellen und real gefilmte Personen per Bluescreen-Verfahren ins Bild zu integrieren, damit der fiktive Betrachter wie im Film den Identifikationstransfer zu den Zuschauern herstellen kann (Bilder 6, 7). Doch die gerenderten dreidimensionalen Modelle waren sehr gross und die Qualität der Bildüberlagerung nicht zufriedenstellend – schliesslich sollte die zu entwickelnde Technik nicht nur in Hollywood, sondern auch durch normale Architekturbüros einsetzbar sein. Bei der weiteren Analyse wurde deutlich, dass der filmische Raum nicht immer bewegt, sondern häufig aus statischen Einstellungen zusammengeschnitten war. Diese fixen Raumeinstellungen sind in der Architektur zur Genüge vorhanden: hochauflösende Visualisierungen, die als Standbilder der «Compositing-Technik» zur Verfügung stehen. Mit dem digitalen Zusammenfügen und Animieren von Bildelementen mit Softwaretools wie Motion, After Effects oder ähnlichen Produkten war der Weg zu einer attraktiven Bearbeitungstechnik geebnet. Bei der Abfolge der räumlichen Perspektiven griffen wir auf Gestaltungskonventionen zurück, die aufzeigen, wie die Informationen im filmischen Raum beiläufig und ohne Redundanzen vermittelt werden. Waren die Bildausschnitte gewählt und zu einer kontinuierlichen Bewegungschoreografie zusammengefügt, konnten einzelne Ausschnitte weiterbearbeitet werden. So haben wir im einen Fall die Tiefenebenen einer Visualisierung in einem «Shifting» (Bilder 10, 11) leicht zueinander verschoben, sodass sich die auf der Zweidimensionalität eingefrorene Raumtiefe unmerklich zu verändern schien. Oder aber der gezeigte Bildausschnitt glitt wie eine Maske über das dahinter liegende Bild, tauchte darin ein und generierte eine Bewegung innerhalb des ursprünglich statischen Bildes.

«Compositing Spaces»

Der Ansatz des «Compositing» stellt eine Rückbesinnung zum Standbild als Ausdrucksform dar, die sich visuell, narrativ und ökonomisch bestätigt. Mit dem Einsatz dieser eigentlich alten Kulturtechnik2 (Bilder 8 und 9) nahm das Projekt eine überraschende Wende, die mehrere Probleme gleichzeitig löste: «Compositings» unterscheiden sich formal zunächst nicht von Renderings eines 3-D-Modells. Die Bildqualität ist trotz viel geringerer Datenmenge besser, da das Ausgangsmaterial, also die Visualisierung, hochauflösend ist. Der Compositing- Ansatz ist zudem eine kostengünstige Lösung, da er ohne ein aufwendig detailliertes und dadurch teures 3-D-Rendering auskommt. Denn die computergenerierten Standbilder, welche die Basis für diese Bearbeitung liefern, sind häufig Fotomontagen. Dadurch fliessen fotorealistische Elemente in die Bildsprache ein, die das Bedürfnis nach einer haptischsinnlichen Ausdrucksform einlösen. Die im Forschungsprojekt erstellten Animationen führen die Bildsprache in Richtung einer filmischen Schnittsequenz fort. Dabei wird die zu Beginn des Projektes formulierte Hypothese aufgenommen, dass bruchlose Realitätskonstruktionen die Wirklichkeitsvorstellung nicht fördern, Lücken und Brüche dagegen einen Vorstellungsfreiraum für die Betrachter schaffen. Mehrere Compositings können, als Schnittsequenz angelegt, den narrativen Anspruch einer Animation einlösen. Hier zeigt sich eine Chance zur Weiterentwicklung und Neudefinierung einer genuinen Bildsprache, die nicht den Film für die Architektur kopiert, sondern den Umgang mit diesem Medium reflektiert und zu einem eigenständigen Ausdrucksmittel für die Darstellung von Raum werden kann.

TEC21, Mo., 2008.05.05



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tec21 2008|19 Film und Architektur

Presseschau 12

27. November 2009Doris Agotai
TEC21

Raum, filmisch notiert

Zur Darstellung von Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme: Zeichnungen, Fotografien oder Modelle. Wie das Medium des Films in den Raum eingreift, wird im Folgenden anhand dreier Beispiele gezeigt. Sie illustrieren die Unterschiedlichkeit in der Notation von Raum sowie die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation.

Zur Darstellung von Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme: Zeichnungen, Fotografien oder Modelle. Wie das Medium des Films in den Raum eingreift, wird im Folgenden anhand dreier Beispiele gezeigt. Sie illustrieren die Unterschiedlichkeit in der Notation von Raum sowie die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation.

Etienne-Jules Marey erstellte um 1900 mit seinen berühmten und wegweisenden Chronofotografien Bewegungsstudien von Pferden. Diese Chronofotografien gelten zugleich als Wegbereiter des bewegten Bildes, des frühen Films. Auch in der Diskussion über Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme – heute neben Zeichnungen, Fotografien oder Modellen vermehrt auch zeitbasierte Medien, also Ausdrucksformen, die neben dem Raum auch die Bewegung und die Dimension der Zeit erfassen. Der folgende Beitrag zeigt, ausgehend von einer Architekturikone der letzten Jahre, welche unterschiedlichen Formen räumlicher Notation das Medium Film hervorbringt und welche Bedeutungsebenen sich daraus erschliessen.

Schon zu Beginn der 1930er-Jahre nutzte Le Corbusier den Film als propagandistisches Medium, um seinen Ideen Ausdruck zu verleihen und um seine Visionen einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Gemeinsam mit Pierre Chenal verfilmte er in der soeben fertiggestellten Villa Savoye sein Manifest zu den fünf Punkten einer Neuen Architektur. Der Film vermittelt neben Le Corbusiers Faszination für neue Mobilitätsformen und die daraus resultierenden Seherfahrungen eine Bewegungschoreografie entlang der «promenade architecturale», die über Rampen und Treppen von der Zufahrt über das ausladende und lichtdurchflutete Hauptgeschoss bis hin zum «Solarium» auf der Dachterrasse führt. Das Medium Film ermöglichte es so, die Bewegungserfahrungen und damit einen zentralen Bestandteil des architektonischen Konzepts mit einzubinden.

Im Vordergrund standen also nicht nur Fragen der Darstellung, sondern auch neue ästhetische Positionen des architektonischen Entwurfs, die aus dem Austausch dieser beiden Medien hervorgingen – Entwurfsansätze, die sich mit Fragen der bewegten Wahrnehmung, der Konstruktion innerer Raumvorstellungen und den daraus resultierenden choreografischen Elementen wie beispielsweise der Montage befassten.

So umfasst der Film als Medium immer auch eine Notation von Raum: Er übersetzt architektonische Gestaltungsmomente in neue Ausdrucksformen, die er rhythmisch ordnet und zeitlich festigt. Ob Ruttmann in «Berlin, Sinfonie einer Grossstadt» (1972) der Stadt den Puls fühlt, ob wir in Hitchcocks Treppenfluchten vor Schreck erstarren, ob Musikclips uns in experimentellem Duktus durch düstere Hinterhöfe führen oder ob eine Computeranimation ein neues Bauprojekt im Flug erschliesst – das Medium Film leitet an, wie der Raum geordnet wird, wie Farb-, Bewegungs- und Tiefenwirkungen interpretiert und einer neuen Form zugeführt werden. Die raumzeitliche Partitur bringt eine neue Wirklichkeit hervor, die zwischen Konzept und Werkinhalt vermittelt und sich auf unterschiedliche Bedeutungsebenen bezieht.

Villa in Floriac bei Bordeaux von Rem Koolhaas

Die drei folgenden filmischen Arbeiten machen deutlich, wie sich je nach Form der verwendeten Notation ein weites Spektrum von Bedeutungs- und Ausdrucksebenen eröffnet. Die Beispiele könnten dabei unterschiedlicher nicht sein – allein schon die Tatsache, dass sie alle in den letzten Jahren entstanden sind und sich auf denselben Bau beziehen, verbindet sie und macht sie für diesen Vergleich interessant: Es sind filmische Interpretationen der Villa in Floriac bei Bordeaux von Rem Koolhaas. Bemerkenswert ist, dass der Architekt dieses Gebäudes über Erfahrungen als Drehbuchautor und Regisseur verfügte, bevor er sich der Architektur zuwandte – ist es also ein Zufall, dass genau dieser Bau Ausgangspunkt filmischer Interpretationen wurde, oder spiegelt sich bereits in der Anlage des architektonischen Konzepts die Faszination für szenische Sequenzen, Raumverkettungen und Montageformen?

Zunächst zur Vorgeschichte des Baus: Die Villa in Floriac von Rem Koolhaas wurde 1998 erbaut. Bauherr war ein Verleger aus Bordeaux, der einen schweren Autounfall erlitten hatte. Er konnte sich nach diesem Unfall nur noch im Rollstuhl fortbewegen und war gezwungen, seine Wohnsituation verändern. Er gab Koolhaas ein Haus in Auftrag mit dem Wunsch nach einem vielfältigen, abwechslungsreichen Raumangebot. So entstand ein Gebäude, das die Anlage zu unterschiedlichsten Weg- und Erschliessungssystemen enthielt, die zu immer neuen Raumerfahrungen führen sollten. Allein drei Treppensysteme durchstossen das Haus: eine lineare, pragmatische Servicetreppe, eine geheime, eng gewundene Wendeltreppe zu den Zimmern der Kinder und eine plastisch modellierte Haupttreppe, die im Erdgeschoss absetzt und etwas versetzt weitergeführt wird und damit den Weg als Montage inszeniert.

Dazu kommt die ausladende Hebebühne, die je nach Position als Arbeitsraum dient, Galerieräume im Haus öffnet und die horizontale Schichtung aus dem Gefüge hebt. Allein die Treppen zeichnen ein Psychogramm des Hauses, indem sie zwischen äusserer Funktion und inneren Ideenwelten vermitteln.

Echtzeiterlebnis: Wahrnehmung der Dimension der Zeit

Der belgische Künstler David Claerbout wählte diese Architekturikone als Schauplatz seiner kinematografischen Installation «Bordeaux Piece», die er 2004 für eine Dauer von 13 Stunden entwarf. Architekturikone deshalb, weil Claerbout für die Handlung eine Geschichte aufnahm, die ihrerseits in einem Bau spielte, die zur Ikone geworden war: Claerbout übernimmt in diesem Werk den Plot aus Jean-Luc Godards «Le mépris» (1963), der in der Villa Malaparte auf Capri aufgenommen wurde, einer Villa des Architekten Adalberto Libera aus den 1930er-Jahren, die bizarr aus den Klippen auf der Insel Capri ragt (Abb. 5 und 6).

Claerbout inszeniert dieselbe Geschichte, stark verkürzt, und wiederholt sie im Rhythmus von 10 Minuten über 70 Mal. Die einzelnen Sequenzen werden zur selben Tageszeit aufgenommen, zu der sie im Museum projiziert werden. Die Geschichte verliert mit der Wiederholung an Gehalt, wodurch die Lichtstimmungen und der Raum in den Vordergrund treten. Der Besucher taucht in ein atmosphärisches Echtzeiterlebnis der Villa ein und erfährt über das Licht die Dimension der Zeit (Abb. 4).

Im zweiten Beispiel ist die Koolhaas-Villa Protagonistin eines Architekturdokumentarfilms, der 2008 an der Architekturbiennale in Venedig uraufgeführt wurde und in Architekturkreisen grosse Beachtung fand. Der Film heisst «Koolhaas Houselife» von Ila Bêka und Louise Lemoine. Die verschiebbaren Wände, die höhenverstellbare Decke oder die automatisierten Fenster unterliegen hier dem Regime der Reinigung und werden von einer Haushälterin bisweilen lautstark kommentiert, vorab aber mit Gleichgültigkeit quittiert. Immer wieder treten Kuriositäten zutage, die Jacques Tati in «Mon Oncle» (1958) vorweggenommen hatte. Während Tati in seiner Satire über die Moderne den hochtechnisierten Haushalt der vorherrschenden Technikeuphorie karikiert und eine haustechnische Panne der nächsten folgen lässt, wird bei Bêka / Lemoine das Haus von der Wohnmaschine zum lebenden Organismus, der pointiert anthropomorphe Züge annimmt (Abb. 1 und 2).

Walk-Through wird zum Fly-Through

Das dritte und letzte Beispiel stammt aus der Küche der Architektur selbst: Eine zugegebenermassen rudimentäre Animation auf Youtube erfasst den Bau mit den computertechnologischen Mitteln der Architekturdarstellung und errechnet daraus ein Walk-Through, das sich vielmehr als Fly-Through präsentiert. Entlang eines vordefinierten Pfades durchfliegt die Kamera den Bau und simuliert eine Raumerfahrung, die weder der Logik unserer Wahrnehmung noch der Gleichzeitigkeit der von Koolhaas angelegten Bezugspunkte entspricht. Hier zeigt sich das Dilemma zwischen Technologie und Wahrnehmungsdispositionen, die auf bestehenden Konditionierungen und Immersionsstrategien einer Kulturgeschichte der Bildmedien beruht (Abb. 7).

Notationsform als Erkenntnisinstrument

Der Vergleich dieser drei Beispiele zeigt nicht nur die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation, er zeigt auch die Unterschiedlichkeit in der Notation von Raum. Die Notationsform wird zum jeweiligen Erkenntnisinstrument von Raumvorstellungen und Deutungsansätzen: Wer ist der Protagonist dieser Filme – ist es das Haus selbst, das zum Erzähler wird? Ist es der Architekt, der strukturell auf ein Erlebnis hinwirkt? Ist es der Filmer, der aus auktorialer Perspektive berichtet und seine Ideenwelt auf die Haushälterin und damit indirekt auf den Zuschauer überträgt?

Bewegliche Kulissenbauten

Stellt im fiktionalen Film der Raum einen Handlungsrahmen her, der durch die filmische Syntax Befindlichkeiten und Stimmungen der Charaktere spiegelt und damit zur Projektionsfläche emotional gesteuerter Setups wird, stehen wir beim Dokumentarfilm vor dem Dilemma, dass der Protagonist, also das Bauwerk, sich schlecht zum Akteur eignet. Ein Blick auf Beispiele dieses Genres zeigt, dass unterschiedliche Strategien gewählt werden, um dieses Problem anzugehen. Sowohl bei Bêka / Lemoine als auch in «Paris poussière» von Silke Fischer (1998) übernimmt das Reinigungspersonal den Part der Darsteller, führt durch das Gebäude und baut den Identifikationstransfer zum Zuschauer auf. Auch in «Il girasole. Una casa vicino a Verona» des Architekten Marcel Meili und des Regisseurs Christoph Schaub (1995) spricht die Erinnerung aus dem Off und führt in ruhig gleitender Betrachtung durch vergangene Zeiten. Augenfällig ist, dass in allen drei Beispielen die Bauten raumchoreografische Anlagen aufweisen, die wie ein beweglicher Kulissenbau anmuten. Versetzt Koolhaas mit der Hebebühne das Haus in Bewegung, kommen in «Paris poussière» Jean Nouvels Fassadenspiele zum Einsatz (Abb. 3). Meili und Schaub stellen ein Haus aus den 1930er- Jahren vor, das ein ingenieurtechnisches Kuriosum darstellt, als Wohnturm auf einem drehbaren Sockel erbaut wurde und sich wie eine Sonnenblume nach dem Licht ausrichtet.

Dankbar werden diese mobilen Elemente aufgenommen und in bewegte Raumbilder übersetzt. Genau dieses Genre gibt aber auch Auskunft darüber, ob in einem Gebäude Strukturen angelegt sind, die ihre Wirkung erst in der Bewegung entfalten, die zeitgleich unterschiedliche Eindrücke entfalten. Wie John Cage seine Klanglandschaften «als offenes, ungerichtetes, vielfach geschichtetes, aber nicht geordnetes Feld von Wahrnehmungen» propagiert, verweisen experimentelle Ansätze der filmischen Architekturgeschichtsschreibung auf eine Mulitperspektivität, die die Möglichkeiten der Strukturen von Raum und Bewegung andeuten und zum Behälter unserer Erinnerungen, Emotionen und Geschichten werden.


Anmerkung:
[01] Vgl. Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin 2008 (siehe S. 13)

TEC21, Fr., 2009.11.27



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tec21 2009|48 Notation

17. November 2008Doris Agotai
TEC21

Virtuelle Welten

Von «Raumschiff Orion» bis zu «Matrix»: Science-Fiction-Szenarios waren stets Projektionsfläche wilder Allmachtsfantasien in computergesteuerten Parallelwelten....

Von «Raumschiff Orion» bis zu «Matrix»: Science-Fiction-Szenarios waren stets Projektionsfläche wilder Allmachtsfantasien in computergesteuerten Parallelwelten....

Von «Raumschiff Orion» bis zu «Matrix»: Science-Fiction-Szenarios waren stets Projektionsfläche wilder Allmachtsfantasien in computergesteuerten Parallelwelten. Heute steht der Begriff «Virtual Reality» auch für eine Technologie, die der Architektur neuartige Erfahrungsräume eröff net – bis sich der Kreis zur Fiktion schliesst: Die virtuelle Vorwegnahme zukünft iger Bauprozesse wird zumindest einen Teil des Wunsches einlösen, Reisen in der vierten Dimension, in die Zukunft , zu unternehmen.

Um Verwechslungen vorzubeugen: Die Technologie «Virtual Reality», auch VR genannt, unterscheidet sich von der Vorstellung einer virtuellen Realität, die sich auf Cyberspaces, digitale Plattformen wie «Second Life» oder das Internet schlechthin bezieht. Der Wandel zur telematischen Gesellschaft geht auch hier – wie bei vielen Veränderungen – mit existenziellen Ängsten einher und wird in der Theorie kontrovers diskutiert[1]: In «Das perfekte Verbrechen» verheisst der französische Philosoph Jean Baudrillard das spurlose Verschwinden der Realität.[2] Bei seinem Kollegen Paul Virilio weicht der gebaute Raum im Zuge der digitalen Entwicklung einer raum-zeitlichen Topologie und führt zur Auflösung des Raums.[3] Etwas nüchterner betrachtet die Professorin für Philosophie am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin Sybille Krämer diesen Wandel und fragt vielmehr, welche Veränderungen die Virtualisierung auf die Bildung neuer Wirklichkeitsvorstellungen hat. Sie stellt dar, wie computergestützte Medien zu neuartigen Phänomenen führen und unsere Modalitäten des Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägen.

Illusion und Immersion

Während sich in der computertechnologischen Entwicklung die Arbeitssituation von Bildschirm, Tastatur und Maus etabliert hat, läuft seit den 1950er-Jahren die Forschung an anderen Interfaces und Interaktionsformen. Die Multi-Touch-Oberfläche des iPhone ist ein Resultat davon, ebenso biometrische Kontrollmedien, Ubiquitous Computing (Allgegenwärtigkeit rechnergestützter Informationsverarbeitung) oder eben VR. Ivan Sutherland war der erste, der mit der Entwicklung eines «Head Mounted Display» (1968) immersive[4] Erfahrungsräume durch dreidimensionale Computerdaten schuf.

Die Möglichkeit, sich durch virtuelle Räume bewegen zu können, steht ideengeschichtlich in der Tradition der Illusionsmedien. So kann VR nicht unabhängig als neues Medium betrachtet werden, sondern steht im Kontext ästhetischer Entgrenzungsstrategien wie perspektivisch überhöhter Fresken in der Renaissance oder Deckenpanoramen in Barockkirchen, des Panoramas und der Erfindung des Stereoskops im 19. Jahrhundert oder des 3-D-Kinos (Bilder 2, 3, 6). Idee dieser Konzepte war dabei immer die spielerisch-bewusste Hingabe an eine Scheinwelt, der Genuss einer Illusion, das Verwischen der Betrachtergrenze zum Bildraum bis hin zur Domestizierung der Sinne und zur Überwältigung der Realitätswahrnehmung. [5] Daraus ergibt sich unweigerlich die Frage, welchen Stellenwert VR als Entwurfs- und Darstellungstechnik für die Architektur einnehmen kann, zumal die Verlockung gross ist, Raumideen virtuell durchschreiten zu können.

Krisen- und Innovationsphasen der VR-Technologie

Für die Gestaltung oder Präsentation von Architektur bietet die VR-Technologie eine intuitive und emotional eindrückliche Alternative gegenüber Computeranimationen am Bildschirm – im Gegensatz zur zweidimensionalen Raumdarstellung und der Navigation mit Tastatur und Maus lässt VR den Betrachter in den dreidimensionalen Raum eintauchen: Die stereoskopische Bildtechnik simuliert eine tiefenräumliche Erfahrung (Bild 7). Die Interaktion erfolgt über die Eigenbewegung des Betrachters. Je nachdem, wie man den Kopf wendet und sich im virtuellen Raum umblickt, wird in Echtzeit die entsprechende Perspektive errechnet und gerendert. Der Betrachter wähnt sich statt in einem virtuellen in einem realen Raum – bis hin zur Höhenangst. Über zusätzliche Eingabegeräte kann die Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit gesteuert oder nach virtuellen Objekten gegriffen werden.[6] Verlief die Interaktion in den Anfängen der VR-Technologie zunächst über Datenhelme und -handschuhe, wurden in den 1990er-Jahren vermehrt Projektionsräume konzipiert, die dem Betrachter mehr Freiheit liessen. Intuitiv, das heisst wie in der echten Welt, konnte sich der Betrachter nun durch simulierte Räume bewegen. Der zentrale Gedanke dieser Erfindungen war, dass sich nicht der Mensch den Gegebenheiten von Maschinen anpasst, sondern die Technologie Simulationsmodelle zur Verfügung stellt, welche auf die Wahrnehmungsdisposition des Menschen eingehen und die äussere Welt spiegeln. Führten VR-Studios mit gewölbten Grossbildleinwänden oder CAVEs[7] in den 1990er-Jahren zu einem eigentlichen Hype, schlitterte die Technologie in den darauffolgenden Jahren in eine Krise: Die damals gebauten vollimmersiven Umgebungen schotteten den Nutzer zu stark von seiner realen Umgebung ab, erfüllten von der Rechnerleistung her nicht die Ansprüche an eine fotorealistische Bildqualität und schränkten durch die hohen Einstiegskosten das Anwendungsspektrum stark ein.[8]

Perspektiven: Simulation und ERkenntnisgewinn

Mittlerweile haben sich VR-Anwendungen in der Automobilindustrie, in der Medizinaltechnik oder bei Flugsimulatoren längst etabliert. Die Prozessoren sind schneller und günstiger geworden – Entwicklungen aus der Game-Industrie wie die Nintendo-Wii-Konsole, die VRKomponenten integriert, kündigen eine neue Innovationsphase an.

Es ist eine Frage der Zeit, bis sich virtuelle Umgebungen auch in der Architektur und im Baubereich festigen werden. So wird die mediale Aufbereitung von Bau- und Planungsprojekten für Investoren, in Informationspavillons oder in der Immobilienbranche selbst Laien einen Raumeindruck vermitteln und Planungsideen besser kommunizieren können.[9] Das Medium eignet sich damit zur Visualisierung und Simulationstechnik (Bilder 4, 5). Zu den Möglichkeiten der Darstellungstechnik treten jedoch vermehrt Fragen zum Erkenntnisgewinn und zur Prognostik[10] – etwa wie das Medium zur Erkennung von vergleichbaren Strukturen oder Verhaltensmustern eingesetzt und so für die Bauprozessgestaltung genutzt werden kann (Bild 8).[11] Hier schliesst sich der Kreis zur Fiktion, zur Zeitmaschine von H.G. Wells: Die Abbildung und damit Kontrolle, Fehlererkennung und Optimierung zukünftiger Bauprozesse kann virtuell vorweggenommen werden – und löst zumindest einen Teil des Wunsches ein, Reisen in der vierten Dimension, in die Zukunft, zu unternehmen.

Anmerkungen/Literatur
[1] Vgl. Döring, Jörg und Thielemann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; Krämer, Sybille (Hg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M. 1990; Maresch, Rudolf und Werber, Niels (Hg.): Raum – Wissen – Macht. Frankfurt a.M., 2002; Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M., 2005
[2] Baudrillard, Jean: Das perfekte Verbrechen. München, 1996, S.11–21
[3] Virilio, Paul (1984), Die Auflösung des Stadtbilds, in: Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M., 2006, S.261–273
[4] Der Begriff der filmischen Immersion meint das Eintauchen in eine künstliche Welt durch Auflösung der räumlichen Grenzen, die noch Theater und Oper bestimmten; er geht auf einen Text von Béla Balázs aus dem Jahr 1938 zurück und bezeichnete dort den Eingang, also die Tür in einen anderen Raum. Im Gegensatz dazu steht die Metapher des Fensters in den anderen Bildmedien; durch das Fenster kann man zwar in einen anderen Raum hineinschauen, ihn jedoch nicht betreten. Béla Balázs, Zur Kunstphilosophie des Films (1938); in: Albersmeier, F.-J. (Hg.): Theorie des Films. Reclam, Stuttgart, 1995, 204–226, hier S.215
[5] Vgl. Grau, Oliver: Virtual Art. From Illusion to Immersion: Cambridge Mass., 2003
[6] Vgl. Craig, Allan und Sherman, William: Understanding Virtual Reality. Interface, Application and Design. San Francisco (California), 2003; Burdea, Grigore und Coiffet, Philippe: Virtual Reality Technology. Hoboken (New Jersey), 2003
[7] «CAVE’s» (Cave Automatic Virtual Environments) sind geschlossene Illusionsräume, die meist aus sechs Projektionswänden bestehen
[8] Vgl. Hellige, Hans Dieter (Hg.): Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung. Bielefeld, 2008, S.59–62
[9] Doulis, Mario; Agotai, Doris; Wyss, Hans Peter (2008), Spatial Interface. Wahrnehmungsfelder und Gestaltungsansätze im virtuellen Raum, in: Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur, in Vorbereitung
[10] Vgl. Gleiniger, Andrea und Vrachliotis, Georg (Hg.): Simulation. Präsentationstechnik und Erkenntnisinstrument, Basel, 2008; Egloff , Rainer, Folkers, Gerd und Michel, Matthias (Hg.): Archäologie der Zukunft . Zürich, 2007
[11] Am Institut für 4-D-Technologien der FHNW werden mit Unterstützung von VR-Technologien Bauprozessoptimierungen für den Aus- und Umbau von Stationsbauten der SBB entwickelt. In einer virtuellen Umgebung kann dabei der gesamte Bauprozess entlang der zeitlichen Entwicklung simuliert und modifi ziert werden. Vgl. dazu: Doulis, Mario u.a. (2007), 4DIVE – A 4D Interface for the Visualization of Construction Processes in a Virtual Environment. Proceedings of CONVR 2007, University Park PA, S.28–39

TEC21, Mo., 2008.11.17



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tec21 2008|47 Ghost Architecture

05. Mai 2008Doris Agotai
TEC21

Berührungen

Die Faszination für den Film ist so alt wie das Medium selbst. Woran liegt es, dass sich auch Architekten immer wieder für den Film interessieren, Beispiele aus Filmen zitieren oder selbst Filme drehen möchten?

Die Faszination für den Film ist so alt wie das Medium selbst. Woran liegt es, dass sich auch Architekten immer wieder für den Film interessieren, Beispiele aus Filmen zitieren oder selbst Filme drehen möchten?

Vielleicht spiegelt sich in der Wahrnehmung filmischer Raumillusionen der Wunsch, neben der Beständigkeit des Gebauten auch flüchtige Raumqualitäten zu erfassen. Vielleicht erfüllt der Film die Sehnsucht, mit dem bewegten Raum auf eine Zeitlichkeit einzugehen, die an die persönliche Raumerfahrung gebunden ist. Vielleicht gibt der Film aber auch eine Realität wieder, die unserem subjektiven Empfinden näher kommt als die Architekturdarstellung. [1]

Das Verhältnis von filmischen und architektonischen Räumen ist durch eine ästhetische Nachbarschaft geprägt, unterscheidet sich aber in vielen Wahrnehmungsbedingungen. Während die Zuschauerinnen und Zuschauer im abgedunkelten Kinosaal im Sessel versinken, bewegte Räume als Lichtprojektion vorüberziehen lassen und in eine Welt eintauchen, welche die physische Präsenz der Gegenwart vergessen lässt und den Erzählraum zur momentanen Wirklichkeit macht, fordert die Architektur den bewegten Blick und das aktive Erkunden des Raums. [2]

Dort, wo dann die Architektur im Film zum Ausdruck des jeweiligen Zeitgeists wird, zur Projektionsfläche architektonischen Gestaltungswillens oder zum Schauplatz städtebaulicher Visionen, verschmelzen die beiden Bereiche. [3] Oder dort, wo die Architekturdarstellung zeitbasierte Visualisierungsformen wählt, nähert sich das eine Medium dem anderen an. Eine schwieriger zu ergründende Verbindung erschliesst sich uns dort, wo im Film Räume vorbeiziehen, die wir zwar nicht bewusst wahrnehmen, aber dennoch mit Befindlichkeiten, Tagträumen und Stimmungslagen vermischen. Hier zeigt sich, dass der Film über Gestaltungsmittel verfügt, die unsere Emotionen beeinflussen und die Imagination anregen. Wir sehen, wie filmische Raumkonzepte wie beispielsweise der Schnitt oder die Montage subjektive Raumbezüge schaffen und die Sehnsucht der Architekten einlösen, den oft diffus verhandelten Begriff der Stimmung zu präzisieren [4] – und sich damit als Untersuchungsmodell anbieten, um Raumwirkungen in der Architektur neu zu begreifen und vermeintlich bekannte Wahrnehmungsmuster aufzubrechen.

Kontextexperimente im Film

Mit einem kleinen Exkurs in die Filmgeschichte der 1920er-Jahre lässt sich zeigen, wie ein filmisches Experiment Ausgangspunkt für raumgestalterische Überlegungen sein kann. 1921 unternahm Lev Kuleschow, Regisseur und Lehrer an der 1919 gegründeten weltweit ersten Filmhochschule in Moskau, verschiedene Kontextexperimente, die unter dem Namen «Kuleschow-Effekt» in die Filmgeschichte eingegangen sind. Geprägt durch die Auseinandersetzung mit bedeutungsgenerierenden Strukturen im Umfeld des sowjetischen Formalismus, geht Kuleschow davon aus, dass das Wesen des Films nicht innerhalb der Grenzen einer einzelnen Einstellung gesucht werden muss, sondern in der Verkettung dieser Fragmente: «Kurz nach der Oktoberrevolution wurde dem jungen Filmemacher Lev Kuleschow eine Filmwerkstatt übergeben. Pudowkin war einer seiner Studenten, wie auch, für kurze Zeit, Eisenstein. Da sie nicht genügend Rohmaterial für ihre Projekte finden konnten, begannen sie, bereits fertige Filme neu zu schneiden, und bei diesem Prozess entdeckten sie eine Reihe von Wahrheiten über die Technik der Filmmontage. [...] In ihrem wohl berühmtesten Experiment nahm die Kuleschow-Gruppe drei identische Aufnahmen des bekannten vorrevolutionären Schauspielers Mosjukin und fügte sie mit Aufnahmen von einem Teller Suppe, einer Frau in einem Sarg und einem kleinen Mädchen zusammen. Nach Pudowkin, der später die Ergebnisse des Experiments beschrieb, zeigte sich das Publikum höchst begeistert von Mosjukins subtiler und affektiver Fähigkeit, solch unterschiedliche Emotionen wie Hunger, Traurigkeit und Zuneigung zu vermitteln.» [5] (Bild 1)

Subjektive Raumvorstellugen Dieses Experiment zeigt, dass die Zuschauer eine Kausalverbindung zwischen den einzelnen Einstellungen aufbauen. Aus wahrnehmungspsychologischer Sicht sind sie offensichtlich durch das Erzählkino konditioniert. Allein durch die Reihenfolge der Einstellungen nehmen sie auch die Folgerichtigkeit der Bezüge untereinander an. Die erzählerische Logik und die visuellen Verbindungen bauen im Film eine Erwartungshaltung auf, die es ermöglicht, die einzelnen Einstellungen in einen kausalen Zusammenhang zu stellen. [6]

Nun gibt es aber auch Situationen, in denen der Regisseur von den Regeln dieser sogenannten Kontinuitätsmontage abweicht und bewusst einen Bruch herbeiführt: In der Verfilmung von Franz Kafkas «Der Prozess» (1962) akzentuiert Orson Welles die Befindlichkeit des Protagonisten und setzt deshalb einen falschen Anschluss.

Der Film erzählt die alptraumähnliche Geschichte des Josef K., der Opfer eines Prozesses wird, ohne die Gründe der Anklage zu kennen. In der Folge gerät Josef K. in den Sog eines undurchsichtigen und vernichtenden Gerichtsprozederes. Welles überträgt mit seiner Verfilmung Kafkas Roman in eine visuelle, ja räumliche Sprache. Labyrinthartige Raumbezüge deuten die Normalität ins Bedrohliche und Paranoide um. In der gezeigten Szene wird Josef K. als Angeklagter zu einer Gerichtsverhandlung vorgeladen. Im berstend vollen Saal ergreift er selbst das Wort und wendet sich in einem leidenschaftlichen Plädoyer an die unbekannte, bedrohliche Menge. Er verlässt daraufhin fluchtartig den Saal und sammelt sich erschöpft vor der unvermittelt übergrossen Türe des Gerichtssaals. Welles entwirft in dieser kurzen Abfolge von Einstellungen einen szenischen Raum, der erst im Bezug der Bilder zueinander die erwünschte Wirkung entfaltet, wie dies im «Kuleschow- Effekt» beschrieben wird. Zum einen ist die Tür zum Gerichtssaal im Innenraum deutlich kleiner als in der Ansicht von aussen. Zum anderen spannen die Einstellungswinkel der Kamera eine schiefe Ebene auf. Die Ansicht der Tür, unterstützt durch die Untersicht der Kamera, verzerrt die tatsächlichen Proportionen und zeigt eine emotional gezeichnete, subjektive Vorstellung eines Raums, der so nicht gebaut sein kann, der aber die innere Befindlichkeit des Protagonisten spiegelt. Welles bedient sich hier eines falschen Anschlusses, um mit diesem Stilmittel die emotionale Ebene der Szene räumlich nachzuzeichnen. (Bilder 4–8).

«Der Kuleschowsche Raum»

Ausgehend von der filmischen Raumkonstellation in «Der Prozess» stellt sich für die Architektur die Frage, welche Wirkungsästhetik der Kontext in der Wahrnehmung von realem Raum zu entfalten vermag. So ist ein gebauter Raum zwar physisch messbar, in der subjektiven Wahrnehmung jedoch vom Kontext abhängig, also von den ihn umgebenden Räumen, die seine eigenen Raumqualitäten determinieren. Ein Raum ist beispielsweise nicht an sich hoch, sondern hoch im Vergleich zu angrenzenden Räumen, zu vertrauten Massstäben, zu einer bestimmten Funktion oder zu Räumen in der Erinnerung. Der Eindruck eines Raums wird einerseits durch den vorhergehenden konditioniert, andererseits durch die Erwartungshaltung an den nächstfolgenden Raum geprägt: «Architektur ist Gliederung des Raums, um im Teilnehmer eine bestimmte Raumerfahrung gemäss früheren oder erwarteten Raumerfahrungen hervorzurufen.» [7]

Überraschungsmomente treten dann auf, wenn genau wie im Film gegen dieses Syntagma verstossen wird und eine Raumfolge mit der Erwartung der Betrachter bricht. Peter Märkli führt dieses Phänomen am Beispiel von «La Congiunta» (1992), einem Ausstellungsbau für die Eisenplastiken Hans Josephsons in Giornico, geradezu paradigmatisch vor (Bilder 9–11). Märkli nimmt Bezug auf die klassische Enfilade, entlang deren er die drei langgezogenen Baukörper einander folgen lässt. Zunächst rückt er die Durchgänge seitlich aus der Symmetrieachse, verändert dann aber zudem die Raumhöhen von einem Ausstellungsraum zum nächsten, was wohl die am seltensten veränderte Variable in der Raumgestaltung ist. Die Räume unterliegen sorgfältig durchdachten Proportionsverhältnissen, treten vermutlich gerade deshalb in ein dialektisches Verhältnis zum Betrachter und fordern dessen bewegte Erkundung entlang der Exponate. Just beim Übergang von einem Raum zum nächsten, dem Schwellenmoment, da das Unerwartete eintrifft und der Raum sich anders präsentiert als erwartet – zunächst tiefer, dann viel höher –, destabilisiert dieser Bruch die Wahrnehmung des Betrachters. Diese Raumkonstellation, welche die Bewegungserfahrung mit einschliesst, könnte man in Analogie zum filmischen Kontextexperiment einen «räumlichen Schnitt», einen «Kuleschowschen Raum» nennen.

Auch beim «Tulach a’tSolais»-Memorial (1998) in Oulart Hill in Irland von Scott Tallon Walker Architects treffen wir auf einen Raum, der unsere Erwartungshaltung bricht. Die Gedenkstätte befindet sich unter einem künstlich angelegten Hügel und lehnt sich damit formal an die Ausprägung keltischer Kultstätten an. Einzig eine schmale Kerbe, bestehend aus zwei Betonscheiben, zerschneidet den Hügel und führt den Blick symbolisch in die Weite. Beim Betreten dieses Korridors öffnet sich im Inneren des Hügels ein breiter, offener Raum, der sich der anfänglich dominanten Ausrichtung des schmalen Zwischenraums entgegensetzt. Im Inneren verbleibt die Schneise durch den Hügel nurmehr als Linie zum Himmel, die in Form von Licht die Symbolik im Innenraum abbildet. Dieser überraschende Richtungswechsel spielt mit den Raumbezügen und setzt die Wirkung des Kontexts voraus. [8]

Unterscheiden sich Raumkonzepte im Film und in der Architektur in vielen Belangen, zeigen diese Beispiele doch, wie die ästhetische Nachbarschaft für den Umgang mit gestalterischen Problemen neue Wege öffnen kann. Der «Kuleschowsche Raum» erfasst phänomenologisch ein Erlebnismoment, beschreibt eine Raumerfahrung, die mit dem unmittelbaren Kontext und der subjektiven Erwartungshaltung verbunden ist. Der Begriff führt ein raumchoreografisches Element ein, das im Vokabular der Architektur bislang fehlt. Die Metapher wird hier zum Erkenntnisinstrument:9 Neben dem terminologischen Transfer schärft sie die Wahrnehmung, hinterfragt vermeintlich Bekanntes und eröffnet eine neue Perspektive, die in der Auseinandersetzung mit entwerferischen Fragen neue Impulse zu setzen vermag.

TEC21, Mo., 2008.05.05



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tec21 2008|19 Film und Architektur

05. Mai 2008Doris Agotai
TEC21

Architektur filmisch animiert

Von zweidimensionalen Plänen über perspektivische Ansichten bis zu fotorealistischen Computervisualisierungen arbeitet die Architektur heute zunehmend mit Animationen, die technisch dem Film sehr nahe stehen, ohne jedoch dessen spezifische Gestaltungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Hier eröffnet sich ein Feld, das ein grosses Gestaltungspotenzial birgt und eine zunehmende Verflechtung von Film und Architektur zur Folge haben wird.

Von zweidimensionalen Plänen über perspektivische Ansichten bis zu fotorealistischen Computervisualisierungen arbeitet die Architektur heute zunehmend mit Animationen, die technisch dem Film sehr nahe stehen, ohne jedoch dessen spezifische Gestaltungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Hier eröffnet sich ein Feld, das ein grosses Gestaltungspotenzial birgt und eine zunehmende Verflechtung von Film und Architektur zur Folge haben wird.

Das Forschungsprojekt «Compositing Spaces» (siehe Kasten) untersucht, in welchen Bereichen Architekturanimationen Anstösse aus dem filmischen Gestaltungsinstrumentarium aufnehmen können. Eines der Hauptprobleme zeigt sich bei der Erstellung solcher Animationen: Hier sind vorwiegend ausgebildete Architekten am Werk, die sich in filmgestalterischen Fragen nicht hinreichend auskennen. Da wir aber als Zuschauerinnen und Zuschauer durch Konventionen geprägt sind, die der Film über Jahrzehnte etabliert hat, kann dies auf visueller Ebene zu Verständnisschwierigkeiten, zu unbedacht angefertigten Aufnahmen führen, die nicht auf die Konditionierung des Betrachters eingehen. Bekannt ist dieses Phänomen aus langen, ungeschnittenen Kameraflügen durch Projekte hindurch, die wenig mit vielfältigen Blickwinkeln der subjektiven Raumbetrachtung gemein haben.

Regieanweisungen an die virtuelle Kamera

Hier setzt das Forschungsprojekt an: Die lange, ungeschnittene Einstellung ist ein Stilmittel, das auch in der filmischen Sprache existiert. Plansequenzen treten immer dort auf, wo ein besonderer Gestaltungswille vorliegt, eine Szene speziell betont wird oder schlicht die Kunstfertigkeit des Regisseurs unterstrichen werden soll, da Plansequenzen aufwendig zu filmen sind (Bilder 1–5).1 Der Normalfall sind aber Schnittsequenzen, also Szenen, die aus einzelnen Einstellungen zusammengeschnitten sind, unterschiedliche Blickwinkel einnehmen und nach den Prinzipien der Kontinuitätsmontage die Betrachter Schritt für Schritt in den Raum einführen. Daher haben wir versucht, eine Narration für die Architekturanimation zu erstellen und real gefilmte Personen per Bluescreen-Verfahren ins Bild zu integrieren, damit der fiktive Betrachter wie im Film den Identifikationstransfer zu den Zuschauern herstellen kann (Bilder 6, 7). Doch die gerenderten dreidimensionalen Modelle waren sehr gross und die Qualität der Bildüberlagerung nicht zufriedenstellend – schliesslich sollte die zu entwickelnde Technik nicht nur in Hollywood, sondern auch durch normale Architekturbüros einsetzbar sein. Bei der weiteren Analyse wurde deutlich, dass der filmische Raum nicht immer bewegt, sondern häufig aus statischen Einstellungen zusammengeschnitten war. Diese fixen Raumeinstellungen sind in der Architektur zur Genüge vorhanden: hochauflösende Visualisierungen, die als Standbilder der «Compositing-Technik» zur Verfügung stehen. Mit dem digitalen Zusammenfügen und Animieren von Bildelementen mit Softwaretools wie Motion, After Effects oder ähnlichen Produkten war der Weg zu einer attraktiven Bearbeitungstechnik geebnet. Bei der Abfolge der räumlichen Perspektiven griffen wir auf Gestaltungskonventionen zurück, die aufzeigen, wie die Informationen im filmischen Raum beiläufig und ohne Redundanzen vermittelt werden. Waren die Bildausschnitte gewählt und zu einer kontinuierlichen Bewegungschoreografie zusammengefügt, konnten einzelne Ausschnitte weiterbearbeitet werden. So haben wir im einen Fall die Tiefenebenen einer Visualisierung in einem «Shifting» (Bilder 10, 11) leicht zueinander verschoben, sodass sich die auf der Zweidimensionalität eingefrorene Raumtiefe unmerklich zu verändern schien. Oder aber der gezeigte Bildausschnitt glitt wie eine Maske über das dahinter liegende Bild, tauchte darin ein und generierte eine Bewegung innerhalb des ursprünglich statischen Bildes.

«Compositing Spaces»

Der Ansatz des «Compositing» stellt eine Rückbesinnung zum Standbild als Ausdrucksform dar, die sich visuell, narrativ und ökonomisch bestätigt. Mit dem Einsatz dieser eigentlich alten Kulturtechnik2 (Bilder 8 und 9) nahm das Projekt eine überraschende Wende, die mehrere Probleme gleichzeitig löste: «Compositings» unterscheiden sich formal zunächst nicht von Renderings eines 3-D-Modells. Die Bildqualität ist trotz viel geringerer Datenmenge besser, da das Ausgangsmaterial, also die Visualisierung, hochauflösend ist. Der Compositing- Ansatz ist zudem eine kostengünstige Lösung, da er ohne ein aufwendig detailliertes und dadurch teures 3-D-Rendering auskommt. Denn die computergenerierten Standbilder, welche die Basis für diese Bearbeitung liefern, sind häufig Fotomontagen. Dadurch fliessen fotorealistische Elemente in die Bildsprache ein, die das Bedürfnis nach einer haptischsinnlichen Ausdrucksform einlösen. Die im Forschungsprojekt erstellten Animationen führen die Bildsprache in Richtung einer filmischen Schnittsequenz fort. Dabei wird die zu Beginn des Projektes formulierte Hypothese aufgenommen, dass bruchlose Realitätskonstruktionen die Wirklichkeitsvorstellung nicht fördern, Lücken und Brüche dagegen einen Vorstellungsfreiraum für die Betrachter schaffen. Mehrere Compositings können, als Schnittsequenz angelegt, den narrativen Anspruch einer Animation einlösen. Hier zeigt sich eine Chance zur Weiterentwicklung und Neudefinierung einer genuinen Bildsprache, die nicht den Film für die Architektur kopiert, sondern den Umgang mit diesem Medium reflektiert und zu einem eigenständigen Ausdrucksmittel für die Darstellung von Raum werden kann.

TEC21, Mo., 2008.05.05



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