Editorial

Dass Umbauten mitttlerweile über ein Drittel aller Bauaufgaben in der Schweiz ausmachen, ist bekannt. Oftmals handelt es sich dabei um Transformationen von Gebäuden, bei denen neue Nutzungen in bestehende Hüllen integriert werden. Die Spuren des ehemaligen Gebrauchs bleiben erhalten und überlagern sich mit den Ablagerungen der neuen Nutzung.

In diesem Heft werden andere Umbauten gezeigt, Gebäude, bei denen nicht die Umnutzung im Vordergrund stand, sondern weiterhin der gleiche Gebrauch, aber mit neuen Ansprüchen an den Raum. Bei der Erneuerung der Siedlung Stadtrain in Winterthur («Frisches im Müesli», S.28ff.) wurden die bestehenden Kreuzreihenhäuser durch einen horizontalen Anbau um mehr als bloss einen zusätzlichen Raum erweitert.

Heute wohnen hier keine Arbeiter mehr, die kompakte Typologie und die Qualitäten der Zwischenräume werden gleichwohl geschätzt. Mindestens zwei dieser Häuser würden in eine der drei Wohnungen passen, die diesen Sommer im ehemaligen «Grandhotel» am Zürcher Bellevue entstanden sind. Sieben Jahre lang wurde der denkmalgeschützte 150-jährige Solitär umgebaut, Haustechnik und Tragwerk wurden saniert und das Dachgeschoss mit Wohnungen für das gehobene Segment ausgebaut («Neu geordnet, wiederbelebt», S.33ff.).

Ein Bellevue der anderen Art, mit Sicht auf das Wildstrubelmassiv, steht im Zentrum des dritten Artikels. Das «Parkhotel Bellevue» in Adelboden wurde über Jahrzehnte immer wieder erweitert und den jeweils aktuellen Nutzungsansprüchen angepasst. Mit der Wahl eines «Hausarchitekten» haben sich die Eigentümer vor einigen Jahren für eine gesamtheitliche Gestaltungsstrategie ausgesprochen. Seither sind drei Bauetappen realisiert worden – jeweils in der Betriebspause von zwei Monaten. Der aktuelle Umbau betraf den teilerneuerten und erweiterten Wellnessbereich («Modernisierung als Tradition», S. 37ff.).

Aus Schichten schliesslich, oder Layern, setzt sich das Schmuckstück des Umbaus, der «parametrisierte Wandteppich», im Büro der Webunternehmung Liip zusammen. Mit wenigen effektiven Eingriffen schufen die Architekten aus einer beliebigen Bürotypologie ein reales «corporate environment» für die Arbeiter der digitalen Welt («Atmosphäre des Digitalen», S. 42ff.).

Die vier Beispiele zeigen ein Spektrum verschiedener Eingriffstiefen und eine Vielzahl von entwerferischen Schwerpunkten. Ob städtebauliche Überlegungen grosses Gewicht hatten wie bei den ersten beiden Beispielen oder gestalterisch-atmosphärische wie bei den letzteren, alle Umbauten erforderten von den Beteiligten eine vertiefte Auseinandersetzung mit den bestehenden Gebäuden – Schicht für Schicht.
Tina Cieslik

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Klosterumnutzung in Freiburg

14 MAGAZIN
Neues Leben am Industriekanal | Bücher | Zeitschrift «archi» in neuen Händen | Wohnqualität im Alter | «Age Report 2009» | Handwerk goes digital

28 FRISCHES IM MÜESLI
Tina Cieslik
Die horizontale Erweiterung der Kreuzreihenhäuser einer ehemaligen Arbeitersiedlung in Winterthur vergrössert die Wohnfläche, ohne die Siedlungsstruktur zu zerstören.

33 NEU GEORDNET, WIEDERBELEBT
Hansjörg Gadient
In siebenjähriger Planungs- und Bauzeit ist in Zürich das ehemalige «Grandhotel Bellevue» saniert und umgebaut worden – bei laufendem Betrieb.

37 MODERNISIERUNG ALS TRADITION
Nadine Schütz
Bereits drei Umbauetappen hat das «Parkhotel Bellevue» in Adelboden mit Buchner Bründler Architekten aus Basel realisiert. Diesen Sommer wurde der neue Wellnessbereich eröffnet.

42 ATMOSPHÄRE DES DIGITALEN
Albert Kirchengast
Virtuelle Welt trifft auf reales Umfeld: In Zürich wurde das Büro einer Webunternehmung umgebaut. Entstanden ist ein Corporate Environment.

48 SIA
Abschied von Eric Mosimann | BGA-Präsidium neu zu besetzen | Beitritte zum SIA im 2. Quartal 2009 | Partnerschaft von SIA und SAM

55 PRODUKTE

69 IMPRESSUM

70 VERANSTALTUNGEN

Frisches im Müsli

Zwischen 1928 und 1943 entstand im Osten von Winterthur das sogenannte Bichermüesli-Quartier, konzipiert und realisiert von Adolf Kellermüller. Aufgrund der Rohstoff knappheit während der Kriegsjahre kam zum Teil mangelhaft es Baumaterial zum Einsatz – schliesslich war die Bausubstanz so schlecht, dass von 2006 bis 2009 eine Komplettsanierung durchgeführt wurde. Durch eine horizontale Erweiterung der Reihenhäuser gelang den Zürcher Architekten Knapkiewicz & Fickert eine Aufwertung, die die Wohnqualität steigert und den Charakter der Siedlung betont.

Anfang des 19. Jahrhunderts begann Winterthurs Entwicklung zur Industriestadt; 100 Jahre später stellte die Maschinenindustrie 60 % der Arbeitsplätze. Der hohe Bedarf an Arbeitern führte zu einem Mangel an Wohnraum, dem man mit dem Bau von Reihenhäusern nach dem Vorbild der englischen Gartenstädte begegnete. Auch der Bau der Siedlung Stadtrain im Osten von Winterthur geht auf eine solche Initiative zurück. Im Volksmund wird der Stadtteil wegen der Strassennamen «Quitten-», «Kirschen-», «Pfirsich-», «Aprikosen-», «Birnen-» und «Apfelweg» auch «Birchermüesli»-Quartier genannt. Die Bauherrin, die 1923 gegründete Heimstättengenossenschaft HGW, hatte das Ziel, insgesamt 277 Wohnungen zu erstellen, beginnend beim Spitzweg in Westen und endend an der Talackerstrasse im Osten. Mit dem Bau wurde Adolf Kellermüller beauftragt, der in Zusammenarbeit mit Hans Bernoulli bereits die Siedlungen Weberstrasse (1923–25), Bachtelstrasse (1924) und Eichliacker (1924–25) für die HGW realisiert hatte. Bei Planung und Bau der Siedlung Stadtrain arbeitete Kellermüller mit seinem Büropartner Hans Hoffman zusammen.

Kellermüllers Ansatz bestand darin, mit standardisierten Elementen auf der Basis handwerklicher Bauweisen das Kleinhaus als kostengünstige Alternative zur Mietwohnung zu realisieren. Er wählte dafür Kreuzreihenhäuser, eine Typologie, die er bei seiner Tätigkeit beim Wiederaufbau in Litauen und Ostpreussen kennengelernt hatte[1] und die sich durch extreme Kompaktheit auszeichnete. Es entstanden sieben Wohnblöcke à 18 Einheiten in Ost-West-Orientierung mit jeweils einem vorgelagerten Garten sowie mehrere Mehrfamilienhäuser am Blockrand. Durch die Anordnung «Rücken an Rücken» konnte sehr dicht gebaut werden, der Typus brachte aber Belüftungs- und Belichtungsprobleme mit sich, die durch eine Flachdachkonstruktion gelöst wurden: Ein doppeltes Oberlicht liess Licht und Luft ins Obergeschoss. Neben den Bauten, die formal dem «Bauen der neuen Sachlichkeit»[2] verpflichtet waren, zeichnete sich die Siedlung durch ein hierarchisch aufgebautes Erschliessungsnetz aus, das sich bis heute bewährt hat. 1930 waren bereits fünf Reihen fertiggestellt und an Private verkauft, als die Wirtschaftskrise die ursprüngliche Absicht, die Siedlung in einem Zug zu bauen, zunichtemachte. Die Realisierung wurde etappiert, zwei während des Krieges erbaute Häuserreihen sowie ein Mehrfamilienhaus an der Talackerstrasse blieben im Besitz der Genossenschaft. Sie wurden um 1943 fertiggestellt. Durch den Krieg herrschte ein Mangel an Baumaterial, statt in Beton wie bei den früheren Siedlungsteilen wurden die Dächer aus Holz konstruiert. Eine fehlerhaft ausgeführte Erneuerung der Dachabdichtung in den 1980er-Jahren hatte die Konstruktion verfaulen lassen. 2005 war der Zustand so desolat, dass eine vollumfängliche Sanierung nötig wurde.

Wettbewerb, Abriss und Neubau

Ein geladener Wettbewerb unter sechs Schweizer Architekturbüros wurde ausgeschrieben: Neben den Sanierungen im konstruktiven und energetischen Bereich waren eine Anpassung der sanitären Anlagen an heutige Standards und die Schaffung von grosszügigeren räumlichen Verhältnissen erwünscht. Im Juli 2005 konnten die Zürcher Architekten Knapkiewicz & Fickert die Auslobung für sich entscheiden (vgl. TEC21 35/2005). Ausschlaggebend dafür war unter anderem die geplante horizontale Erweiterung zur räumlichen Entspannung der Wohnfläche. Die Mehrheit der Teams hatte eine Aufstockung der Gebäude vorgeschlagen – im Hinblick auf die vorherrschenden Volumina im Quartier wurde dies jedoch abgelehnt. Für die Sanierung wurde eine differenzierte Herangehensweise gewählt und das Projekt in drei Bauphasen aufgeteilt. Die erste Etappe umfasste die Mehrfamilienhäuser an der Talackerstrasse. Die Bauten waren in sehr schlechtem Zustand und ausserdem mit einem Hochparterre versehen, was die angestrebte rollstuhlgängige Nutzung erschwerte. Hier wurden der Abriss und die Erstellung eines Ersatzbaus mit zwölf barrierefreien Dreizimmerwohnungen projektiert. Dadurch liess sich auch eine unterirdische zweigeschossige Einstellhalle mit 63 Plätzen realisieren, die den Bedarf der gesamten Siedlung deckt. Per Lift besteht ein Direktanschluss an die Wohnungen des Neubaus.

Den Architekten war es ein Anliegen, den kleinteiligen Volumina der Kreuzreihenhäuser keinen überdimensionierten Block gegenüberzustellen. Der dreigeschossige Neubau orientiert sich daher an den Proportionen des Abbruchbaus, durch den Wegfall des Hochparterres konnte aber ein zusätzliches Geschoss realisiert werden. Darüber hinaus wurde über die Wahl der Materialien versucht, eine Zusammengehörigkeit mit den Reihenhäusern herzustellen: Die dem Quartier zugewandte Fassade ist mit Eternit verkleidet und korrespondiert mit den ebenfalls eternitverkleideten Anbauten der Reihenhäuser. Süd-, Ost- und Nordfassade sind massiv gemauert, aussen isoliert und grau verputzt. Im Innern herrscht Genossenschaftscharme: Alle nichttragenden Wände sind aus Holz in Leichtbauweise erstellt, die Fugen mit hellgrauen Deckleisten belegt (Abb. 8). Die Kassettierung thematisiert den Kontrast zwischen massiven und Leichtbauelementen – ein Motiv, das durch die Schiebetüren zusätzlich akzentuiert wird. Im Grundriss orientierten sich die Architekten an Kellermüllers kompakten Typologien: Es gibt keine Verkehrsflächen, analog zur zunehmenden Privatsphäre reihen sich Nebenräume, Wohnzimmer und Schlafzimmer in drei Schichten hintereinander (Abb.10).

Horizontale Erweiterung / Vertikale Lichtführung

Die zweite Bauphase von 2008 bis 2009 umfasste die 18 Kreuzreihenhäuser zwischen Quittenund Kirschenweg. Hier stand neben der bautechnischen und energetischen Sanierung die Steigerung der Wohnqualität durch zusätzliche Fläche im Vordergrund. Mit einer Grundfläche von 53 m² waren die Reihenhäuser bescheiden dimensioniert. Das Erdgeschoss beherbergte die Küche, das Wohnzimmer und ein Bad mit Waschküche; im Obergeschoss gab es drei Schlafzimmer und ein WC. Neben den engen Raumverhältnissen und dem unbefriedigenden Zustand der Sanitärräume war primär auch die Erschliessung ein Problem: Durch das Fehlen von Verkehrsfläche befand man sich beim Eintreten praktisch bereits auf der Treppe ins Obergeschoss, der Keller konnte nur durch die Küche erschlossen werden.

Die Erweiterung lösten die Architekten durch einen nach Süden ausgerichteten eingeschossigen Anbau für Küche und Wohnzimmer, eine Holzkonstruktion mit Eternitverkleidung, die auf einer Bodenplatte aufgeständert ist. Die Küche wurde als Küchenzeile in den Verbindungsgang zwischen Bestand und Anbau platziert. Der durchgängige Linoleumboden betont den fliessenden Grundriss; es entsteht eine – an den Proportionen des ehemaligen Arbeiterhauses gemessen – geradezu grosszügige Enfilade. Der Vorteil dieser horizontalen Erweiterung liegt auf der Hand: Die Zusatzfläche wird für Wohnräume geschaffen, dort, wo die Bewohner sie am dringendsten benötigen. Darüber hinaus entsteht durch den neuen L-Grundriss im Aussenraum ein semiprivater Hof. Dem Anbau haftet etwas Provisorisches an, Assoziationen mit Schrebergärten, Schuppen drängen sich auf – eine bewusste Reverenz an die Geschichte der Siedlung.

In den Innenräumen verfolgte man eine Strategie der sanften wertsteigernden Eingriffe: Alle Gebrauchsräume – Küche, Wohnzimmer, Esszimmer und das Badezimmer mit Waschmaschine – sind im Erdgeschoss auf einem Niveau untergebracht. Ein zusätzlicher Aussenzugang zum Keller entspannt zudem die Erschliessungssituation. Die dringend nötige Sanierung des Daches wurde mit vorfabrizierten isolierten Holzelementen durchgeführt. Auf diese Weise konnte das Dach angehoben und eine Raumhöhe von 2.55–2.75 m im Obergeschoss ermöglicht werden. Die analog zum ursprünglichen Bestand projektierte Terrasse im Obergeschoss fiel Einsparungen zum Opfer. Zudem befürchtete die Bauherrschaft durch mögliche Einblicke in das Nachbargrundstück Einbussen in der Privatsphäre der Bewohner. Während des Umbaus stellte sich heraus, dass die Bausubstanz noch schlechter war als befürchtet: Im Treppenhaus war das Mauerwerk teilweise stehend vermauert, was eine Berechnung des Tragwerks praktisch verunmöglichte. Als Konsequenz versuchte man, zusätzliche Schwächungen des Mauerwerks zu vermeiden sowie – ganz allgemein – einen möglichst hohen Anteil der Originalsubstanz zu erhalten. Ein Beispiel: Während im ganzen Haus ein neuer Bodenbelag aus orange-gelbem Linoleum verlegt wurde, findet sich in einem der Räume im Obergeschoss ein Parkettboden. Dies ist der einzige Raum, in dem keine Abbrucharbeiten an den bestehenden Wänden vorgenommen wurden, das Parkett konnte übernommen werden. Da die Kreuzreihenhaus-Typologie natürliches Licht lediglich von der Fassadenseite her erlaubt, betraf ein wichtiger Eingriff die Lichtführung. Das bestehende Oberlicht wurde ersetzt, statt nur ins Obergeschoss leitet ein Lichtschacht neu natürliches Licht bis ins Wohn- / Esszimmer im Erdgeschoss. Das darüberliegende Schlafzimmer ist zum Schacht hin verglast und profitiert auf diese Weise ebenso von der zusätzlichen Helligkeit. Neben der Steigerung der Wohnqualität war auch die energetische Sanierung ein wichtiges Thema. Hier war die Kreuzreihenhaus-Typologie von Vorteil, die einzelnen Häuser konnten als gesamthaftes Volumen betrachtet werden. Eine Innendämmung wurde von der Bauherrschaft aus Platzgründen abgelehnt, die Architekten wollten aber ein «Verpacken» der Fassade möglichst vermeiden. Isoliert wird nun über die vorgefertigten Holzelemente des Daches, lediglich die Kopfbauten erhielten eine zusätzliche Dämmung an den Aussenfassaden. Daneben wurde die Fassade auch farblich aufgewertet: Die ehemals einheitlichen Fronten der Häuserreihe werden nun differenziert behandelt, während die vorgestellten Anbauten, die jetzt die neue Fassade gegen aussen bilden, mit grauem Eternit verkleidet sind. Als Reverenz an den Bestand wurden die neuen Haustüren rot gestrichen.

Heterogen statt zusammenhängend

Nach Fertigstellung der 18 Reihenhäuser im Mai 2009 sollte die anschliessende Reihe zwischen Kirschen- und Pfirsichweg nach dem gleichen Konzept saniert werden. Dazu wird es nicht kommen: Aufgrund von Differenzen zwischen Bauherrin und Architekten entschloss sich Erstere, die Zusammenarbeit zu beenden. Statt einer Sanierung ist ab April 2010 der Abriss der originalen Kreuzreihenhäuser geplant. An ihrer Stelle entstehen Ersatzbauten, die aufgrund des Volumenschutzes den sanierten Reihenhäusern samt Anbauten entsprechen werden. Der Entscheid ist zu bedauern, zeugt aber – von der Fragwürdigkeit einer solchen Rekonstruktion abgesehen – immerhin für die städtebauliche Qualität des Entwurfs von Knapkiewicz & Fickert: Mit den Anbauten gelang eine erhebliche Steigerung der Wohnqualität, ohne den Charakter der Siedlung zu zerstören. Sie bereichern das Quartier auf spielerische, selbstverständliche Art und ermöglichen eine zeitgemässe Nutzung.


Anmerkungen:
[01] Christoph Luchsinger, «Adolf Kellermüller (1895–1981). Drei Siedlungsunternehmen». archithese 6/1983
[02] Kellermüller bevorzugte den Ausdruck «Bauen der neuen Sachlichkeit» gegenüber «Neues Bauen». Es ging ihm nicht um die Erfindung einer neuen Baukultur, sondern um das Wiederfinden verlorener Qualitäten. Vgl.: Adolf Kellermüller, «Gedanken über Wesen und Aufgabe des Architekten», handschrift - liches Manuskript für ein Referat für die Oberklassen der Kantonsschule Winterthur, 8.2.1946, S.4

TEC21, Fr., 2009.09.25

25. September 2009 Tina Cieslik

Neu geordnet, wiederbelebt

Der Bellevueplatz im Zentrum von Zürich liegt an einer städtebaulichen Schlüsselstelle zwischen See und Limmat. Seinen Namen hat er vom ehemaligen «Grandhotel Bellevue», 1856–1858 erbaut von Leonhard Zeugheer.
Im Laufe der Jahre war der Solitärbau durch Alterung und Umbauten stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Martin Spühler und seine Mitarbeiter haben ihn in siebenjähriger Planungs- und Bauzeit wieder in Wert gesetzt.

Ursprünglich als Hotel erstellt, wurde das Gebäude bereits 1921 zum Geschäftshaus mit Kino umgebaut. Alterung, An- und Einbauten, Teilabrisse und Transformationen hatten ihm über die Jahre jedoch so zugesetzt, dass sich die Bauherrschaft gezwungen sah, den Werterhalt mit mehr als einer Pinselrenovation langfristig zu sichern. Die Bauherrschaft vergab den Auftrag für eine Machbarkeitsstudie an Martin Spühler Architekten aus Zürich. Dabei standen von einem Neubau über ein Entkernen bis zu einer Revitalisierung des historischen Bestandes alle Möglichkeiten zur Debatte. In enger Zusammenarbeit mit der Städtischen Denkmalpflege entschied man sich für Letzteres – ein Neubau an so prominenter Lage wäre für die Stadt nur mit einer bedeutenden öffentlichen Nutzung zu rechtfertigen gewesen.

Belebungsstrategie

Zusammen mit einer - so Projektleiter Peter Trachsler - ebenso entscheidungsfreudigen wie begeisterungsfähigen Projektsteuerungsgruppe aus Auftraggeberin und Planern entwickelten die Architekten eine Strategie der Revitalisierung, die sich auf vier Haupteingriffe konzentrierte: die Wiederherstellung der Arkade auf der Limmatseite, den Einbau eines neuen Treppenhauses, den Ausbau des Dachgeschosses zu Wohnungen und, als eher kleinen, aber symbolträchtigen Eingriff, die Wiederherstellung der zweiläufigen Treppenanlage am Eingang Limmatquai 1 (Abb. 1). Die Interventionen sollten sich der Substanz unterordnen und mit ihr zu einem neuen Ganzen verschmelzen. Die besondere Schwierigkeit bestand in der Heterogenität des Baus, die es verunmöglichte, der komplexen Aufgabe mit fixen Rezepten zu begegnen. Der Bestand sei völlig «unberechenbar» gewesen, Pläne lückenhaft, Sondierungen im vermieteten Zustand kaum möglich. Gut erhaltene und reizvolle Jugendstildetails standen neben einer teilweise desolaten Bausubstanz. Die Abrisse und Einbauten der 1960er- und 1970er-Jahre hatten viel zerstört, und die gesamte Haustechnik war veraltet. Den heutigen Brand- und Schallschutzstandards entsprach das alte Bellevue längst nicht mehr. Orts- und problembezogen wurden in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege Lösungen gefunden, die von Konservierung über Restaurierung und Renovierung bis zu Ergänzung und Neubau reichten. Neben den Ausbauten im Inneren wurde auch die Fassade denkmalgerecht saniert.

Als «Operation am offenen Herzen» bezeichnet Sylvia Kirsten, die Vertreterin der Bauherrschaft, das 50-Millionen-Vorhaben – auf einer Verkehrsinsel, möchte man ergänzen. Der Bau blieb während des gesamten Eingriffes teilweise vermietet. Die auf allen Seiten von stark befahrenen Strassen begrenzte Baustelle bot keinerlei Flächen für Lager oder Installa tionen. Und es ging um mehr als einen neuen Innenausbau: Unter anderem mussten die bestehenden Pfahlfundationen mit 230 Stahlbetonpfählen ergänzt, die Bodenplatte abgesenkt und eine Seewasserzuleitung für Heizung und Kühlung von der Limmat her erstellt werden.

Plakativ und versöhnlich?

Ein Beispiel für den Umgang im Inneren ist die Treppe beim Eingang Limmatquai. Einer der brachialeren Umbauten hatte eine Hälfte des symmetrischen Treppenhauses entfernt. Wieder aufbauen? Oder mit dem Verlust spielerisch umgehen? Erste Konzepte schlugen eine Spiegelwand vor, die den alten Teil bildnerisch zum Ganzen ergänzen würde. Oder ein Wiederaufbau des zweiten Laufs mit einem Materialwechsel, um das Neue zu zeigen?

Zur Ausführung gelangte eine dem bestehenden Teil entsprechende Rekonstruktion in den gleichen Materialien, Marmor und Stuck. Auf den ersten Blick ist alles «beim Alten», auf den zweiten zeigen die fehlenden Gebrauchsspuren der neuen Hälfte ihre heutige Entstehungszeit. Ein zweites Beispiel: Die bestehenden Schmiedeeisengitter eines Treppenabsatzes hätten einer neuen Wand weichen müssen. Sie wurden nicht abgebrochen, sondern in die Wand integriert: Künftige Generationen werden sie vielleicht beim nächsten Umbau finden. Auch grössere Eingriffe in die Substanz waren nötig. Die Belle Epoque legte Treppen vor allem nach repräsentativen Gesichtspunkten an, gross und breit in den unteren Geschossen, schmal und irgendwo verstreut in den oberen. Heute bestimmen funktionale Liftanlagen und kurze Fluchtwege das Layout. Eine weitere wichtige Intervention betraf daher das Errichten eines neuen, durchgängigen Treppenhauses. Das Studium der historischen Pläne zeigte, dass die Fassade zum Bellevueplatz ursrprünglich eine starke Mittelbetonung aufwies. Historisch folgerichtig und erschliessungstechnisch günstig wurde hier der neue Zugang zum Gebäude angeordnet.

Auch die neue Haustechnik stellte die Planenden aufgrund der beschränkten Platzverhältnisse vor einige Herausforderungen; an vielen Stellen waren Eingriffe in das Tragwerk nötig, um sie zu integrieren. Mittels Seewasser wird der sanierte Bau nun gekühlt und beheizt. Nirgends treten diese Neuerungen aufdringlich in Erscheinung. So wie aussen konnte der Bau auch innen seine Gestalt und seine Würde wahren.

Für das bisher als Abstellraum genutzte Dachgeschoss dagegen waren neue Ideen gefragt; hier sollten Wohnungen entstehen. Keine leichte Aufgabe, waren doch die einzigen vorhandenen Fenster die kleinen Öffnungen im Kniestock und die spärlichen Dachfenster des ehemaligen Estrichs. Grosse Öffnungen zu schaffen, kam nicht in Frage. Die Lösung war massgeschneidert. Die Architekten kamen von der ersten Vorstellung, auf der riesigen Fläche sechs Wohnungen zu schaffen, ab und schlugen drei – mit 280 bis 370 m² aussergewöhnlich grosszügige – Einheiten vor. So konnten sie jeder Wohnung einen zweigeschossigen Turm und einen privaten Aussenraum zuordnen. Dank dem Entgegenkommen der Denkmalpflege entstanden in der Dachschräge auf der Westseite zwei Terrassen; man kann sie als «Belohnung» für die dem öffentlichen Raum zurückgegebene Loggia im Erdgeschoss verstehen. Die dritte Wohnung erhielt eine innen liegende intime Dachterrasse. Das Defizit der niedrigen, kleinen Fenster kompensieren die grossflächigen Öffnungen zu diesen Terrassen und die anstelle der alten Dachluken eingesetzten «Lichtkanonen». Die als Raumkontinuum ausgebildeten Grundrisse mit ihren weiten Sichtbezügen entschädigen für die teilweise recht niedrigen Decken. Die Materialisierung entspricht Lage und Fläche der Wohnungen – ohne zu protzen. Die Mieten der Wohnungen von monatlich 20 000 Franken haben in der Tagespresse zu Schlagzeilen geführt. Heute sind alle drei vergeben; das Konzept ist aufgegangen – auch im Ganzen. Der Bauherrschaft steht wieder eine hochwertige Immobilie zur Verfügung, und der Stadt ist ihr geschätzter Solitär erhalten geblieben. Neu gefasst und geschliffen leuchtet er in dem, was man gewöhnlich als «den alten Glanz» bezeichnet. Es ist aber ein neuer Glanz: der eines zeitgemässen, sorgfältigen und sensiblen Umgangs mit einem historischen Stück Stadt.

TEC21, Fr., 2009.09.25

25. September 2009 Hansjörg Gadient

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