Editorial

Dieses Jahrzehnt ist schwer zu fassen. Reichhaltig an politischen und gesellschaftlichen Veränderungen bleibt es – will man seinen Gesamtcharakter benennen – doch seltsam vage, jeder hat dazu seine eigenen Assoziationen. Neue Medien erleichterten die Kommunikation und stellten gewohnte Muster des sozialen Umgangs in Frage, ein unschuldiges Schaf namens Dolly brachte althergebrachte Moralvorstellungen ins Wanken, in der Kunst wurde Vieles möglich, was zuvor als undenkbar galt – eine Zeit des »anything goes«. In der Architektur gab es gleich mehrere Strömungen, die ihre Anhänger fanden: Den Studenten wurde »konstruktive Ehrlichkeit« gelehrt, die Ökologie hielt Einzug, in Bayern begeisterten experimentelle Wohnmodelle, in Berlin – und anderswo – wurde der Boden für Retro-Architektur bereitet und die »Signature architecture« einzelner »Stars« schaffte es, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Für unseren neugierig-kritischen Rückblick auf die Architektur der neunziger Jahre haben wir fünf Gebäude ausgesucht, anhand derer wir stellvertretend für je ein Thema untersuchen, welche Konzepte Bestand haben. Es geht dabei nicht etwa darum, Häme über eventuell vorhersehbare Bauschäden auszugießen, interessant ist vielmehr, ob der jeweilige Bau insgesamt den gestellten Anforderungen gerecht geworden ist und wie sich die Gedankenwelt rund um die Bauaufgabe in der Zwischenzeit verändert. ge

Inhalt

Diskurs

03 Kommentar
Dresden: Aberkennung des Weltkulturerbetitels | Arnold Bartetzky

10 Letters from UK
Ein besonderer Kindergarten | Beatrice Galilee

12 Im Blickpunkt
Krakau: »Die Stadt soll kein Museum werden« | Kai-Uwe Scholz

Empfehlungen

Ausstellungen
54 Hermann Kaufmann. WOOD WORKS (Augsburg) | Klaus F. Linscheid
55 Neues Licht auf das Sperrgebiet (Berlin) | Bernd Hettlage

56 Neu in …
...Dachau | Klaus F. Linscheid
...Dresden | Matthias Grünzig
...München | Christoph Gunßer

Schwerpunkt

Die Neunziger
18 Zum Thema: Ein strahlendes Jahrzehnt | Falk Jaeger
20 Zeilgalerie »les Facettes« in Frankfurt/Main (1992): Kramm & Strigl | Enrico Santifaller
28 Jugendbildungsstätte in Windberg (1991): Thomas Herzog | Roland Pawlitschko
34 Wohnsiedlung »Steinberg« in Röthenbach an der Pegnitz (1991): Metron Architektur AG | Christoph Gunßer
40 Quartier Schützenstrasse in Berlin (1997): Aldo Rossi | Mathias Remmele
46 Jüdisches Museum in Berlin (1999): Studio Daniel Libeskind | Nikolas Bernau

Trends

Energie
60 Wohn-/Experimentalhaus »Heliotrop« in Freiburg (1994): Rolf Disch | Rüdiger Krisch

Technik aktuell
66 Ansätze zur Anwendung von Sandwichbauteilen aus Textilbeton | Christian Schätzke, Christiane Feger, Hartwig N. Schneider

Produkte
70 Produktberichte
Solartechnik, Dacheindeckung, Dachabdichtung | cf, Monika Zydeck
78 Schaufenster: Türen, Tore | Monika Zydeck

Anhang
Detailbogen
83 Berlin: Jüdisches Museum (Studio Daniel Libeskind)

Raum- und Einkaufsspektakel

(SUBTITLE) Zeilgalerie »Les facettes« in Frankfurt

Wer zum Begriff »Zip-Shopping« bei Google Aufklärung sucht, stößt unter anderem auf ein Video, in dem Bernd Thomsen über aktuelle Einkaufs-Trends berichtet. Der in feines Tuch gewandete Chef des strategischen Unternehmensberaters Thomson Group entschuldigt seine Anglizismen, um dann eine mit dem Logo »5P« (Product, Price, Placement, Promotion, People) bezeichnete Sammlung gängiger Marktparameter vorzustellen. An »All-in-one-Orten« würden in zwanzig, dreißig Jahren öffentliche Funktionen und Shopping-Bereiche verschmelzen, wobei das Wichtigste sei, Orte für Wohlfühlen und Erlebnis zu schaffen. Darüber hinaus würden sich ausdifferenzierte Lebensstile in Konsummotiven ausdrücken, und die Individualisierung sei der größte Konsumtrend überhaupt.

Was da ganz aktuell und zukunftssicher unter regelmäßiger Einblendung einer rasant laufenden Uhr inszeniert wird, haben Soziologen wie Pierre Bourdieu und Ulrich Beck schon vor einem Vierteljahrhundert beschrieben. Was die Ãußerungen Thomsens dann doch interessant macht, ist der Auftraggeber seiner Studie: Georg Glatzel, CEO der IFM Immobilien, eines ausgewiesenen Revitalisierungsspezialisten. Dieser hat im Sommer 2008 die Zeilgalerie »Les facettes« für rund 51 Millionen Euro erworben und will sie nun unter dem Leitbild »Zip-Shopping« umrüsten. Jene Vertikalpassage, die an den Tagen nach der Eröffnung im September 1992 jeweils bis zu 200 000 Besucher anzog. Das zu Grunde liegende Konzept nahm für sich in Anspruch, eine ganz neue Dimension des städtischen Einkaufens zu erschließen, indem es Fachhändler mit differenzierten kulinarischen Angeboten, ein Rundfunkstudio mit einem Nachtclub, eine Erlebnisetage mit öffentlichen Funktionen verknüpfte. (Das damals noch sogenannte Arbeitsamt richtete eine kleine Abteilung im »Les facettes« ein.) Das Gebäude verführte die Lokalpresse zu Lobeshymnen und erntete selbst in den zurückhaltenderen Fachmagazinen anerkennendes Erstaunen. Die Feuilletonisten jubilierten: Michael Mönniger sah sich »überwältigt vom Sicht-, Licht- und Raumerlebnis in dieser Mischung aus Lunapark und Piranesi-Kerker«. Dieter Bartetzko fühlte sich an ein »avantgardistisches Raumschiff« erinnert. Peter M. Bode kommentierte kurz und bündig: »Paradiesischer Kommerz«.

Kaufrausch im Übermut

Die Zeilgalerie entzog sich allen Konventionen und Typologien. Kein Warenhaus, keine Shopping-Mall, weder Basar, noch Passage. Eine vertikal gerichtete, in Spiralen aufsteigende, um ein lichtdurchflutetes Atrium sich windende Einkaufsstraße - 750 Meter lang mit behindertengerechtem Neigungswinkel von 6 Grad. 58 Fachgeschäfte dicht gedrängt, Schaufenster an Schaufenster, und, oberhalb der Hochhausgrenze von 22 Metern, die Erlebnisetage, darüber ein Dachgarten, darüber wiederum ein öffentlicher Aussichtsturm. Dieser war damals der höchste Punkt in der Bankenmetropole, von dem aus die Allgemeinheit - also nicht nur die Mitarbeiter in den Wolkenkratzern - einen Panoramablick auf die Skyline werfen konnte. Die vom Büro Kramm & Strigl, Darmstadt, entworfene und ausgeführte, äußerst anspruchsvolle Architektur des Gebäudes entsprach kongenial dem ehrgeizigen Handelskonzept. Und das obwohl die Bedingungen - eine 35 Meter breite, dreiseitig umschlossene Baulücke - alles andere als einfach waren. Die Fassade zum Beispiel ist nicht nur klassisch vertikal gegliedert, sondern reagiert sehr differenziert auf ihre Nachbarn. Sie bietet zum Kaufhof hin eine konvexe Front, in der Mitte, zur Hauptwache gedreht, ein Schaufenster zur Belichtung des dahinterliegenden Atriums, zur Post hin (heute befindet sich hier Massimiliano Fuksas' Shopping Mall »MyZeil«) eine mehrschichtige Glas-Metallblech-Fassade mit einer von Rüdiger Kramm konzipierten kinetischen Lichtplastik, die auf die Witterungsverhältnisse und die Geräuschkulisse der Umgebung reagierte. Dazu im Inneren ein opulent-übermütiger Material-, Farben- und Formenmix: blau hinterleuchtete Glasquadrate, weißer Terrazzo, gebrochene Spiegelwände, ochsenblutrote Stahlstützen, marineblaue T-Träger, Alu-Lochbleche, Glasaufzüge, mattsilberne, mit Lichtschienen unterfangene Tonnengewölbe, schließlich das Glasdach mit Hohlspiegeln, die Sonnenlicht ins Atrium leiten sollten. Auch die Konstruktion war anspruchsvoll und innovativ. Schlitzwände, Deckelbauweise, Stahlverbundstützen und -Decken sowie das elegante Raumfachwerk unter dem Glasdach sorgten dafür, dass in der Zeilgalerie der spektakuläre Schein mit ebensolchem Sein korrespondierte.

Stelldichein der Prominenz

Etwas »überinstrumentiert« sagt Kramm heute, doch war, das legten schon die damals erschienenen Kritiken nahe, dieser Ehrgeiz der Zeit geschuldet. Als Versöhnung von Postmoderne und konstruktiver Moderne, als Antwort auf die fast gleich betitelten Ausstellungen, die Heinrich Klotz wenige Jahre zuvor im Architekturmuseum auf der anderen Mainseite präsentierte. Und: Die hochfliegende Inszenierung entsprach der Wiedervereinigungseuphorie, im Zuge derer der Mainmetropole eine gigantische Steigerung der Einwohnerzahl prognostiziert wurde - und damit auch ein Zuwachs an Kaufkraft. Die Promis gaben sich in der Zeilgalerie die Klinke in die Hand. Helmut Kohl erschien zur Bild-Wahlparty, der SPD-Bundesvorstand traf sich hier, Joschka Fischer diskutierte, Steffi Graf, Günter Jauch und Michael Schanze waren zu Gast - und immer wieder Akrobaten, Seiltänzer, Avantgardekünstler. Der Architekt wurde gelobt, der Bauherr gefeiert. Klaus-Dieter Weiß pries in db 11/1992 das »große Engagement« von Dr. Jürgen Schneider und dessen Kunstoffenheit. Weiß' Text war ein zusammenfassender Auszug aus seinem ebenso voluminösen wie ambitiösen Buch »Urbane Handelswelten«. Der Band sollte am 10. April 1994 in diesem Gebäude präsentiert werden. Der dazu eingeladene Bauherr allerdings erschien nicht, dafür zwei Tage später in der FAZ ein Artikel mit der Schlagzeile »Königsteiner Investor Jürgen Schneider ist nicht auffindbar«, tags darauf ermittelte die Frankfurter Staatsanwaltschaft. Einen Tag später erstattete die Deutsche Bank Anzeige wegen Betruges; weitere zehn Tage später - als sich allmählich der Schaden abzeichnete, den der nach Miami geflüchtete Baulöwe verursacht hatte, und die beauftragten Handwerker fünfzig Millionen DM Ausfälle befürchteten - sprach Chefbanker Hilmar Kopper von Erdnüssen.

Im Mittelpunkt dieses »Imperiums der Hoffnungswerte«, wie es einer von Schneiders Verteidigern ausdrückte, stand die Zeilgalerie. Bei diesem Gebäude waren die Tricks des Pleitiers allzu offensichtlich: Schneider hatte die Nutzfläche von real 9000 auf fiktive 22 000 Quadratmeter vergrößert, eigenhändig dreißig Mietverträge gefälscht und einen Gutachter besorgt, der ihm den Wert der Ladengalerie auf rund 950 Millionen DM schätzte. Die Bank hatte das geglaubt, obwohl ihre Zentrale kaum 500 Meter vom bewerteten Gebäude entfernt liegt. Das FAZ-Archiv verzeichnet genau 393 Artikel, die seit dem 1. Januar 1994 das Wort »Zeilgalerie« erwähnten die meisten im Zusammenhang mit der größten Immobilieninsolvenz dieser Republik. Der eingangs erwähnte Bernd Thomsen identifizierte die Zeilgalerie als die »bekannteste Shopping-Mall Deutschlands« - der Grund wird wohl auch in der Schneider-Pleite liegen.

Der Zeilgalerie tat diese nicht gut. In den Tagen der Aufregung wurden unter anderem die Computer für die Lichtplastik geklaut - und nie mehr ersetzt. Die Banker waren mit dem Betrieb einer Ladenpassage überfordert, mehrmals wechselte sie ihren Besitzer. Keiner der Investoren erkannte das enorme Potenzial des ursprünglichen Konzepts, dieses weiterzuführen oder gar auszubauen wurde zugunsten von Lösungen, die schnelle Rendite versprachen, aufgegeben. Weitere Rolltreppen wurden eingebaut, ein riesiges IMAX-Kino aufs Dach gesetzt, das aber schnell floppte. Insgesamt erlebte das Gebäude zahlreiche Metamorphosen, doch erst im Jahre 2004 war es erstmals zu hundert Prozent vermietet.

Aus dem Schatten

Inzwischen hat sich das Umfeld verändert und der verstärkte Handlungsdruck wurde spürbar. Der IFM-Chef Glatzel ließ vor kurzem diese Definition von »Zip-Shopping« verbreiten: »Ähnlich wie bei einem Reißverschluss sollen unterschiedliche Bereiche aus Einzelhandel und Gastronomie zusammengezogen werden. Konkret soll dies durch die Öffnung der Geschäfte und die teilweise Aufhebung der klassischen Shopgrenzen geschehen.« . Nicht viel Neues - wenn man die Geschichte der Zeilgalerie kennt. Doch der neue Besitzer muss reagieren und will dafür etwa zehn Millionen Euro investieren. Der Nachbar, die gut doppelt so große Shopping Mall »MyZeil«, steht seit der Eröffnung im März dieses Jahres im Zentrum Frankfurter Aufmerksamkeit - und die Zeilgalerie im Schatten. Obwohl Fuksas' spektakuläre Blobarchitektur zahlreiche Ausführungsmängel aufweist, erinnert die Zahl der Besucher an die ersten Tage der Zeilgalerie. Während sich der Käuferandrang im »Les Facettes« in engen Grenzen hält. Und damit geringere Ladenmieten verspricht. Die ersten Renderings des Umbaus - erstellt vom damit beauftragten Wiesbadener Büro 3deluxe - zeigen vor allem Oberflächen: Der Sockel soll deutlicher abgesetzt, der Eingang verbreitert, die Lichtplastik durch eine von »Nero Assoluto« gerahmte Medienfassade ersetzt werden. Klotzen, nicht kleckern ist das Motto.

Genaueres ist nicht zu erfahren, die Architekten wurden zum Stillschweigen verpflichtet. Wie man hört, sind städtische Behörden mit dem Umbaukonzept nicht einverstanden - bis jetzt. Interessant an der Neuerfindung ist indes, dass sie - leider offenbar ziemlich unbewusst - an der Anfangsidee ansetzt. Freilich mit einem neuen Begriff und neuen Tapeten.

db, Mi., 2009.08.05

05. August 2009 Enrico Santifaller

Robuste neue Einfachheit

(SUBTITLE) Wohnsiedlung »Steinberg« in Röthenbach an der Pegnitz

Experimenteller Wohnungs- und Städtebau, heute eine Rarität, fand in den Neunzigern noch statt: Die »Wohnmodelle Bayern« suchten damals neue Wege kostengünstigen und sozialen Wohnbaus. Die Siedlung in der Nähe von Nürnberg nennt ihr Schöpfer eine »Träger-Architektur, die stark verändert werden kann« - Grund für uns, knapp zwei Jahrzehnte später nachzuschauen, was verändert wurde und was nicht.

In der Planungsphase, erzählt der Architekt, habe ihn der Bauherr wiederholt gefragt, wann denn nun die Ausarbeitung der Pläne beginne. Dies sei die Ausarbeitung, habe er erwidert und sein Gegenüber damit sehr geschockt. Nach Jahren postmoderner Üppigkeit war man eine so klare, ja rigide Architektur nicht mehr gewohnt. »Baracken« nannte man die Häuser bald, von »Kasernenflair« schrieb die Lokalpresse. Architekt Markus Gasser, inzwischen Städtebau-Professor an der TU Darmstadt, sagt heute rückblickend: »Wir haben beim Entwerfen nicht an ein „Lager“ gedacht. Es war halt einfach ein Stil«.

Gasser war damals Ende zwanzig und Assistent bei Martin Steinmann, Aldo Rossis archetypische Formensprache prägte die Züricher Szene ebenso wie eine geläuterte Moderne-Rezeption. Eine »neue Einfachheit« wuchs da auf calvinistischem Boden heran, und gerade Siedlungsbauten boten dafür mit ihren verschiedenen Bausteinen ein ideales Experimentierfeld.

So wurde die sechzig Wohnungen kleine Siedlung »Steinberg« zu einer städtischen Komposition archetypischer Elemente: Tor, Gasse, Platz und Turm bilden ein prägnantes räumliches Gefüge, einen »Ort« in der Waldlichtung, klar geschieden vom Siedlungsbrei der Umgebung. »Branding« nennt man das heute, Identitätsbildung oder »Themenpark«.

Mietwohnungen in Form von Einfamilienhäusern

Doch der Reihe nach: Für sparsame Siedlungsbauten und seinen interdisziplinären Ansatz bekannt, war das Schweizer Büro Metron von der Obersten Baubehörde 1986 aufgefordert worden, gemeinsam mit dem Bauträger die Siedlung Steinberg zu planen. Im Programm »Mietwohnungen in Form von Einfamilienhäusern« suchten die Auslober damals an acht Standorten nach einem sozialen Wohnungsbau, der »den Anforderungen an Altersaufbau, Haushaltsgrößen und Lebensweisen von heute gerecht wird«. Die »hausartigen Wohnungen sollten den Bewohnern das Gefühl geben, frei über Haus und Garten verfügen zu können«. Rund ein Fünftel des Baulandes sollte für gemeinschaftlich nutzbare Flächen reserviert bleiben. Es ging also um Alternativen zum Geschosswohnungsbau.

Das 1,8 Hektar große Gelände am Ostrand des Nürnberger Ballungsraums, vormals Teil des Reichswaldes, war bereits für eine Bebauung mit Reihen- und Einfamilienhäusern vorgesehen.

Dem Sparzwang folgend, konnte Metron die Stärken des bescheidenen schweizerischen Siedlungsbaus (erinnert sei an Hans Bernoulli, aber auch Oud oder May sind Vorbilder) voll ausspielen: Neun Reihenhausstangen wie aus der Strangpresse bilden die Grundbausteine der Siedlung - tatsächlich wurden zum Bau die damals noch neuen Kalksandstein-Plansteine verwendet. Aus jeweils sechs Drei- bis Vierzimmerwohnungen bestehend, gruppieren sie sich um den Turm des Gemeinschaftshauses, werden blockweise gedreht und von Schuppen und Carports so eingehegt, dass ein abgestuftes, gut nutzbares und spannendes Gefüge aus öffentlichen, halböffentlichen und privaten Räumen entsteht.

Details wie die schräg auskragenden Dächer - ihr Schöpfer findet die »chinesischen Hütchen« heute »ein bisschen strange« - oder die Terrassierung des Hauptplatzes tragen dazu bei, dass trotz der strengen Grundform eine differenziertere Hülle zustandekommt (wenngleich zum Beispiel Vordächer über den Haustüren wohl wirklich praktisch wären). Auch die Bepflanzung mit rankendem Grün war von Anfang an geplant.

Ein »schützender Winkel« von hohem Wohnwert

So legte sich die Aufregung um die »Baracken« denn auch bald nach dem Bezug. Die Leute stellten fest, dass die geräumigen, hellen - da nur 6,50 Meter tiefen - Häuser sehr gut nutzbar und unschlagbar günstig waren. Mit Baukosten von 1395 DM pro Quadratmeter Wohnfläche brutto war die Siedlung die wirtschaftlichste aller Wohnmodelle. Weite Wege zum Auto von bis zu 120 Metern wurden durch sichere Spielräume für die Kinder und die Wohnruhe aufgewogen. Die Vorstellung der Architekten von einem »schützenden Winkel« war Realität geworden.

Wer heute die Siedlung besucht, erlebt eine üppig begrünte Oase. Kinder tollen herum, Menschen sitzen vor ihren Häusern, die Gärten werden intensiv genutzt. Im Gespräch erfährt man eigentlich nur Gutes über die Siedlung, die Wohnungen sind begehrt und werden bevorzugt an Familien mit Kindern vergeben.

Allein die sechs Appartements über den Carports sorgen für eine gewisse Balance in dieser Monostruktur. Die Architekten hatten ursprünglich eine »totale Flexibilität« eingeplant: Schaltzimmer zwischen den Wohnungen sollten wahlweise dem einen oder dem anderen Nachbarn überlassen werden (deshalb stehen die Badewannen quer in den Bädern), Außentreppen sollten die getrennte Nutzung der Ebenen möglich machen: unten Alt, oben Jung, so war die Vorstellung. Doch ungeachtet der demografisch absehbaren Entwicklung wurden Familien mit (kleinen) Kindern zur alleinigen Zielgruppe und nur zwei Wohnungsgrößen von gut achtzig und knapp hundert Quadratmetern realisiert, die Schaltzimmer verteilt. Auch Barrierefreiheit war noch kein Thema. An diesem Ort wird also kaum jemand alt werden.

Schon für ältere Jugendliche gibt es - so wird beklagt - keine Angebote vor Ort. Die von den Architekten zunächst geplante Halle fiel den Kürzungen zum Opfer, und das Gemeinschaftshaus ist als Turm »eigentlich ein Unsinn, da er für 220 Bewohner nicht genügend Raum bietet« (Gasser). Augenscheinlich wird das Haus nicht intensiv genutzt. Im Sockelgeschoss ist die zentrale Heizungsanlage der Siedlung untergebracht. Auf dem Platz davor finden offenbar auch keine Volksversammlungen statt, denn auf Wunsch der Bewohner wurde dort ein (bescheidener) Kleinkinderspielplatz angelegt. Die Architekten verstanden die ganze Siedlung als Spielraum und weigerten sich, einen Spielplatz vorzusehen. Das sehen die Kinder heute ähnlich: Sie lassen Wippe und Rutsche zumeist links liegen.

Gelungenes Modell ohne Nachfolger

Der Bauzustand von Häusern und Nebengebäuden ist allem Anschein nach gut. An den lackierten Holzteilen der Südfassaden blättert die Farbe. Hier wollten die Architekten ursprünglich eine Ganzglaslösung, um passiv mehr Energie zu gewinnen. Die Bandfassade war ein akzeptabler Kompromiss. Seit Gärten und Fassaden zugegrünt, die Schuppen angeeignet, die Gassen möbliert sind, lockert sich die gleichförmige Ordnung im Quartier.

Die »Träger-Architektur« erträgt die vielen Zutaten ihrer Mieter mit Würde. Sie hat sich gerade in ihrer strikten Einfachheit als robust erwiesen. Trotzdem hatte sie als »Wohnmodell« kaum Nachfolger. Waren die achtziger Jahre noch durch eine weitgehende Sättigung des Wohnungsmarktes, die Hinwendung zum Bestand und wenige teure Unikate im Stile der Internationalen Bauausstellung Berlin geprägt (bei zugleich stark steigenden Baulandpreisen und Mieten), erlebte der Wohnungsbau Anfang der Neunziger einen regelrechten Boom: 1994 wurden in den alten Bundesländern erstmals wieder über eine halbe Million Wohnungen fertiggestellt, der Großteil davon im Geschosswohnungsbau. Vor allem in den Ballungsräumen war es für einkommensschwache Haushalte immer schwerer geworden, ausreichend Wohnraum zu finden. Wartezeiten für eine Sozialwohnung von mehreren Jahren waren die Regel. So wurde nun richtig geklotzt: Große neue Baugebiete wurden ausgewiesen, oft noch hinter den ungeliebten Großwohnsiedlungen der sechziger Jahre. Ansätze einer Rationalisierung im Bauprozess dämpften die Kosten, typologisch gab es jedoch kaum Neuerungen - anonyme Spännertypen waren im Geschosswohnbau die Regel.

Freilich gab es Ausnahmen: Neben den bayerischen »Wohnmodellen«, die in der Architektenschaft teilweise viel publiziert wurden und Ziel von Fachexkursionen waren (siehe dazu u. a. db 10/1995 und 6/1996), brachte die Internationale Bauausstellung Emscher Park einige modellhafte Wohnsiedlungen hervor, die neben der Kostenersparnis durch neue Bauweisen und Selbsthilfe auch soziale Qualitäten zum Thema hatten. Mehr als die - relativ konstanten - Schweizer Vorbilder zog der Wiener Wohnbau in dieser Zeit das Interesse auf sich: Die Siedlung Pilotengasse (Krischanitz, Steidle, Herzog & de Meuron) mit ihren langen gekrümmten Zeilen ohne Zentrum bildet hier - bei gleicher Dichte - gewissermaßen einen Gegenpol zur Röthenbacher Siedlung Steinberg. In ihrer räumlich dichten »Urbanität« dieser verwandt ist dagegen Roland Rainers Siedlung Tamariskengasse. So gab es durchaus spannende Versuche, die Regeln traditioneller Stadtbaukunst auf zeitgemäße Quartiere anzuwenden.

Dennoch: Diese Experimente blieben Ausnahmen. Die geringere Bauland-Ausnutzung bei höherem Planungs- und Verwaltungsaufwand machten Ansätze wie die Mietwohnungen in der Form von Einfamilienhäusern für Wohnungsbaugesellschaften weiterhin unattraktiv. Auch der ebenfalls in Bayern vorgeführte Wohnungsbau in Holzsystembauweise wurde nicht nennenswert weiterverfolgt. Es ist sicher auch dieses notorische Zaudern der etablierten Wohnungswirtschaft, dem alternative Trägerformen wie neue Genossenschaften und Baugemeinschaften seither ihren Aufschwung verdanken.

db, Mi., 2009.08.05

05. August 2009 Christoph Gunßer

Fassaden - Patchwork

(SUBTITLE) Quartier Schützenstrasse in Berlin

Was ist - nicht nur in Berlin - über das Schützenstraßenquartier und die Begleitumstände seiner Entstehung Mitte der neunziger Jahre nicht geredet, gerätselt und diskutiert worden?! Aus heutiger Sicht kommt einem das kaum noch nachvollziehbar, ja seltsam surreal vor. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang mühsam an ein paar Stichworte: »kritische Rekonstruktion« zum Beispiel, »Block und Parzelle« oder »Europäische Stadt« - und ermessen sogleich, wie sehr das alles schon Geschichte ist: vorbei, verweht, vergessen. Ganz entspannt lässt sich das Quartier heute betrachten.

Zugegeben, Gebäude, die ein Alter von zehn bis 25 Jahren erreicht haben, haben es grundsätzlich schwer. Ihr Neuigkeitswert ist längst aufgebraucht und für eine Wiederentdeckung - unter welchem Vorzeichen auch immer - ist es entschieden zu früh. Im besten Fall betrachtet man sie wie gute alte Bekannte, für gewöhnlich aber würdigt man sie nach einer Weile nicht einmal mehr eines Blickes. Das ist der Lauf der Dinge und eigentlich nicht weiter zu beklagen - jedenfalls solange diese menschliche Ignoranz nicht zu vorschnellen, irreparablen Abrissentscheidungen führt. Es gibt freilich Beispiele, bei denen zwischen anfänglicher Beachtung und dem späteren In-Vergessenheit-Geraten ein solches Missverhältnis besteht, dass man es schon fast tragisch nennen möchte. Zu diesen Bauten zählt Aldo Rossis Quartier Schützenstraße in Berlin.

Aldo Rossi, der in den achtziger Jahren den europäischen Diskurs über Architektur und Städtebau durch seine Bauten und vielleicht noch mehr durch seine Lehre und seine Schriften, beeinflusst hat wie kaum ein anderer, war ein Advokat der vormodernen Stadt und deren gewachsener Strukturen. Im (West-)Berlin der IBA-Zeit fielen seine Ideen auf besonders fruchtbaren Boden. Sein Plädoyer für eine Rückkehr zu Block und Parzelle, für ein Bauen, dass die Geschichte des Ortes reflektiert, hatte hier eine unbestreitbar nachhaltige Wirkung. So zeitgemäß und zukunftsweisend das einmal gewesen sein mochte, so rückwärtsgewandt und kleinmütig erschienen diese Ideen in der dogmatischen Verengung, die sie im wiedervereinigten Berlin erfuhren - auch wenn man Rossi dafür nicht verantwortlich machen möchte. Das Quartier Schützenstraße fand in den neunziger Jahren deshalb so großes Interesse, weil der Meister hier beispielhaft vorführen konnte, wie es seiner Meinung nach aussehen sollte in der neuen alten Mitte Berlins.

Das Areal, ein Stück Mauerstreifen-Niemandsland mit kümmerlichen Resten gründerzeitlicher Bebauung, aber immerhin ein kompletter Block zwischen Schützen-, Charlotten-, Markgrafen- und Zimmerstraße, schien wie geschaffen für ein programmatisches Projekt. Hinzu kam, dass der vorwiegend aus Bürohäusern bestehende Neubau über Nacht quasi zu Rossis Berliner Vermächtnis wurde. Denn noch ehe der Komplex ganz vollendet war, starb Rossi an den Folgen eines Autounfalls und die beiden anderen Großprojekte, die er ebenfalls mit den aus München stammenden Immobilien-Entwicklern Peter und Isolde Kottmair noch hatte realisieren wollen - ein Bürokomplex an der Landsberger Allee und die Neubebauung des Wertheim-Areals am Leipziger Platz - zerschlugen sich. Ebenso überraschend wie die Kottmairs nach der Wende in Berlin aufgetaucht waren, ebenso schnell und spurlos waren sie auch wieder verschwunden. Von den Aufsehen erregenden Rossi-Plänen blieb nicht mehr als eine halbfertige Investitionsruine an der Landsberger Allee.

Typisch berlinisch?

Als »Hommage an die typische Berliner Architektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts« hat Rossi selbst sein Projekt Quartier Schützenstraße beschrieben. Seine Behauptung, hier besonders »berlinerisch« zu bauen, überzeugte freilich allenfalls in städtebaulicher Hinsicht. Die Anleihen an die dichte Blockbebauung der Mietskasernenstadt mit ihren zu klein geratenen Hinterhöfen sind genau so offensichtlich, wie die Tatsache, dass er damit vor allem den Verwertungsinteressen des Investors entgegenkam. Ansonsten präsentiert sich der Bau, der selbst die Anhänger von Rossis Architektur nicht zur Begeisterung hinriss, als eine merkwürdige Collage aus (mehr oder minder) archetypischen Hausformen und Architekturelementen, aus Materialien und Farben, die viel über Rossis ästhetische Vorstellungen aussagen, mit Berlin aber herzlich wenig zu tun haben. Das wäre nicht weiter tragisch, wenn das Ergebnis der Collage in sich stimmig wäre. Doch der Bau offenbart ein Problem, das sich an vielen Projekten Rossis ablesen lässt: Was auf seinen schönen Architekturzeichnungen immer so pittoresk und lebendig aussieht, wirkt gebaut seltsam steril, akademisch, ungelenk und leblos. So kam es, dass Rossis Quartier Schützenstraße lange Zeit als ein etwas grillenhafter Fremdling wahrgenommen wurde, der mehr Fragen aufwarf als er beantwortete. Was sollte das Bemühen um formale Vielfalt zur Untermauerung der in mehreren Fällen vorgetäuschten Parzellenstruktur, wenn doch die Handschrift des Entwerfers jeweils überdeutlich zu Tage tritt (die zwei Fassaden, die aus dem Rahmen fallen, sind nicht von Rossi)? Welchen Sinn macht die aufwendige 1:1 Kopie der Hoffassade des Palazzo Farnese in der Schützenstraße?

Und schließlich: Warum hat man hier so viel gestalterische Energie auf die Fassaden und so wenig Esprit auf die dahinter liegenden Räume verwendet? Uns bleibt das nach all den Jahren, die der Komplex nun dasteht, so rätselhaft wie eh und je.

Büros, Einzelhandel, Gastronomie und ein Hotel

Das Quartier Schützenstraße gehört zu jenen Projekten, die ohne den euphorisch-spekulativen Nachwende-Bauboom nicht entstanden wären. Pech für den Bau, dass er dann ausgerechnet zu jener Zeit fertiggestellt wurde, als die Berliner Blütenträume vom schnellen Wachstum geplatzt waren und viele Bürobauten außerhalb der Spitzenlagen sich kaum mehr vermieten ließen.

Der Rossi-Block hatte - seiner prominenten Architektur zum Trotz - lange unter chronischem Leerstand zu leiden. Viele Jahre fuhr man dort an leeren Ladenfronten und an den blinden Fenstern der Büroetagen vorbei. Mit dem GSW-Hochhaus von Sauerbruch Huttton (in dessen Schatten der Rossi-Bau buchstäblich steht) und vor allem mit den Büroneubauten auf dem nahe gelegenen Springer-Areal kam dann nach der Jahrtausendwende allmählich Leben in das Viertel. Auch das Quartier Schützenstraße hat davon profitiert. Heute sind die Büroflächen mehrheitlich vermietet. Manche Etagen aber befinden sich noch immer im Rohbauzustand. Die Läden sind belegt mit Einzelhandel und Gastronomie. Man lebt in erster Linie von den Bedürfnissen der Büromenschen, denn von den Touristenströmen am Checkpoint Charlie, der nur einen Block entfernt liegt, kann man allenfalls am Rande profitieren und am Abend sind die Bürgersteige hier schon früh hochgeklappt. Der wichtigste Nutzer ist das zur Accor-Gruppe gehörende Hotel Mercure. 2001 eröffnet, verzeichnet es mit seinen 135 Zimmern (20 davon sind als Dauerappartements ausgelegt) trotz wachsender Konkurrenz im unmittelbaren Umfeld, steigende Auslastungszahlen. Vor allem Geschäftsreisende schätzen das Haus wegen seiner zentralen aber ruhigen Lage und weil die Zimmer mit dreißig bis fünfzig Quadratmetern Grundfläche außergewöhnlich groß geraten sind. Das Hotel liegt an einem der beiden großen Höfe, die den Block im Innern strukturieren. Der öffentlich zugängliche Garten, mittlerweile gut eingewachsen, ist, ganz wie es Rossi imaginiert haben mag, eine grüne Oase geworden und trägt zum Reiz des Hauses nicht wenig bei.

Was die Bausubstanz angeht, gab es bisher keine Probleme, die aus dem Rahmen des Üblichen fallen. Die Fassaden, die regelmäßig gereinigt werden, sehen knapp eineinhalb Jahrzehnte nach ihrer Fertigstellung noch ordentlich aus. Bisweilen sind die Farben etwas verblasst. Besonders deutlich ist das an den grünen und roten Aluminiumpaneelen in der Zimmerstraße zu sehen, die der Mittagssonne ausgesetzt sind. Dass sie ohne Pflege in Würde altern würden, stand nicht zu erwarten.

Wer heute am Quartier vorbeikommt, wird feststellen, dass aus dem Fremdling von einst, am Ende doch ein fast normales Stück Stadt geworden ist. Ein wenig anders als die anderen mutet der scheinbar kleinteilig strukturierte, durch seine leuchtenden Fassadenfarben auffällige Block zwar an, doch im mittlerweile kompakt bebauten Viertel nördlich der Kochstraße, fällt das weniger ins Gewicht als in den ersten Jahren nach der Fertigstellung. Für die Einen ist der Bau eine nicht unwillkommene Abwechslung inmitten größtenteils völlig charakterloser Investorenarchitektur, für die Anderen immer noch ein eher missglückter Versuch origineller Fassadengestaltung. Aufregen aber kann das heute keinen mehr. Womöglich wäre es Rossi gerade recht so.

db, Mi., 2009.08.05

05. August 2009 Mathias Remmele

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