Editorial

Eine „behutsame Erneuerung und Imagekorrektur“ wünschen der Wiener Planungsstadtrat Rudi Schicker und die Vizebürgermeisterin Renate Brauner dem Wiener Stuwerviertel. Das Stuwerviertel – außerhalb Wiens vermutlich kaum bekannt – spielt eine zentrale Rolle im Schwerpunkt dieser Ausgabe von dérive. Das Thema lautet Aufwertung, und das Stuwerviertel bildet dafür ein ideales Beispiel. Der Schwerpunkt liefert kein breites theoretisches Hintergrundwissen, keine historische Abhandlung und keine internationalen Analysen, diese Arbeit wurde aus dem Blickwinkel der Gentrification bereits von dérive Heft 4 geleistet. Aufwertung wirft vielmehr einen sehr genauen Blick auf ein Viertel im Umbruch.

Das Stuwerviertel ist Teil des zweiten Wiener Gemeindebezirks, der Leopoldstadt. Die Gegend war vor der Donauregulierung eine Aulandschaft. Die Weltausstellung von 1873 löste einen Bauboom aus, der in den folgenden Jahrzehnten zur Entwicklung des Viertels führte. Die rund 20.000 EinwohnerInnen verfügen im Durchschnitt über weniger Einkommen und haben eine schlechtere Ausbildung als andere WienerInnen. Das Besondere am Stuwerviertel ist seine Abgeschlossenheit. Vielleicht hat diese Insellage dazu beigetragen, dass viele BewohnerInnen ihrem Grätzel stark verbunden sind und auch NeuzuzüglerInnen von einer besonderen Atmosphäre schwärmen. Sieht man sich die Entwicklung ähnlicher Viertel in anderen Städten an, müsste man davon ausgehen, dass dem Stuwerviertel eine Gentrifizierung sondergleichen bevorsteht. Durch die Verlängerung der U-Bahn-Linie U2 ist der Anschluss an hochrangige öffentliche Verkehrsmittel noch besser, als er ohnehin schon war. Die Mieten sind (noch?) relativ günstig, die Zahl der KünstlerInnenateliers steigt kontinuierlich, Dachböden werden ausgebaut, Hunderte neue Wohnungen sind in Bau, die Wirtschaftsuniversität wird in einigen Jahren in unmittelbarer Nähe ihre Pforten öffnen, eine große Zahl neuer Arbeitsplätze entsteht im Umkreis, und angeblich bieten Cafés bereits Latte Macchiato an. Ein untrügliches Zeichen, dass neue Zeiten anbrechen. Ob es zu einer „behutsamen“ Entwicklung kommen wird, wie die zuständigen PolitikerInnen ankündigen, oder zu einer Vertreibung der einkommensschwachen BewohnerInnen sowie zu einer Zerstörung der charakteristischen Atmosphäre, wie KritikerInnen befürchten, werden die nächsten Jahre zeigen.

Roman Seidl zeichnet in seinem Einleitungsartikel Unter Druck? ein sehr genaues Bild der aktuellen Lage und der Entwicklung der letzten Jahre. Hannes Guschelbauer und Erwin Fleger, zwei Vertreter der für das Stuwerviertel zuständigen Gebietsbetreuung Stadterneuerung, einer von der Stadt Wien beauftragten Einrichtung, geben im Interview Auskunft u.a. über die Sanierungstätigkeit und ihre Möglichkeiten, Verdrängung zu verhindern. Betül Bretschneider hat sich das Beteiligungsverfahren für die Neugestaltung des Max-Winter-Parks im Detail angesehen und berichtet in ihrem Artikel Stalking Max-Winter-Platz über die Schwierigkeiten einer Kommunikation auf Augenhöhe. In seinem zweiten Beitrag stellt Roman Seidl Projekte vor, die im und um das Stuwerviertel jetzt und in Zukunft entstehen werden. Den Abschluss des Schwerpunkts bildet ein Interview mit Eva van Rahden, der Geschäftsführerin von Sophie, einer Beratungsstelle für Prostituierte. Sie berichtet über die spezielle Situation der Sexarbeit im Stuwerviertel, die störenden Begleiterscheinungen der Prostitution und die Rechtslage für Prostituierte in Wien. Zum Thema Prostitution siehe auch Manfred Russo neue Folge der Geschichte der Urbanität.

Als künstlerischer Beitrag zum Schwerpunkt sind sowohl am Cover als auch im Schwerpunktteil Fotos der Aktion Marlene Haarig oder In meiner Badewanne bin Ich Kapitän! von Marlene Haring zu sehen. Bei der 2005 durchgeführten Aktion kroch Haring als Ganzkörperblondine auf allen vieren durch Prater und Ausstellungsstraß­e (Coverbild) ins Stuwerviertel, vorbei an Sexshops (und einigen vorbereiteten Interventionen im Straßenraum) und verfolgt von einer mit Fotoapparaten und Videokameras ausgestatteten Menschenmenge. Das Ende der Aktion ist auf der Rückseite von dérive zu betrachten. Weitere Fotos und Informationen zur Aktion finden sich auf www.marleneharing.com.

Den Magazinteil leitet Katharina Kirsch-Soriano da Silva mit einem Artikel über die von BewohnerInnen durchgeführten Um- und Ausbauten in Siedlungen in Recife (Brasilien) ein. Erik Meinharter stellt das Projekt unORTnung vor und Thomas Ballhausen sprach mit dem Künstler Michael Goldgruber „über das Verschwinden der Wildnis, die andauernde künstlerische Auseinandersetzung mit einem reglementierenden Blickregime und das Spannungsverhältnis von Aussicht und Aufsicht.“

Einen schönen Sommer wünscht
Christoph Laimer

Inhalt

Inhalt

Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt: Aufwertung

Unter Druck? Vom angeblich sanften Ende der „Insel auf der Insel“
Roman Seidl

Marlene Haarig oder In meiner Badewanne bin Ich Kapitän, 2005
Marlene Haring

Ungewisse Zukunft eines Stadtteils. Das Stuwerviertel im Aufwertungssog
Christoph Laimer im Gespräch mit Erwin Fleger und Hannes Guschelbauer

Stalking Max-Winter-Platz. Kommunikation auf Augenhöhe, ein Versuch
Betül Bretschneider

Zielgebiete des Wiener Stadtentwicklungsplans
Roman Seidl

Sexarbeit im Stuwerviertel. Prostitution im Zeichen der Imagekorrektur
Christoph Laimer im Gespräch mit Eva van Rahden

KünstlerInnenseite

Willi Tobler trägt das Gedicht To the Lost Space Age vor; im Anschluss daran Diskussion mit dérive-LeserInnen, wie die Zeitschrift wohl aussehen würde, wenn es heute tatsächlich jene Weltraumkolonien gäbe, die vor 30 Jahren für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends geplant waren
Ralo Mayer

Magazin

Evolving by doing! Mutationen von Großsiedlungen in Recife/Brasilien
Katharina Kirsch-Soriano da Silva

Die Ordnung der unORTnung. Wie viel unORTnung braucht die Stadt?
Erik Meinharter

Die Kunst der neuen Perspektive
Thomas Ballhausen im Gespräch mit Michael Goldgruber

Serie

Geschichte der Urbanität, Teil 27 - Moderne IV: Der neue Eros des öffentlichen Raumes
Manfred Russo

Besprechungen

Die Mobilmachung des Flaneurs
Manfred Russo über die Ausstellung Big City – New York Street Photography im Wien Museum
Hafenstadt, herausgeputzt
Daniel Kalt über Port Cities as Areas of Transition herausgegeben von Waltraud Kokot et al.
Typisch: Vorurteile
Susanne Karr über die Ausstellung typisch! Klischees von Juden und Anderen im Jüdischen Museum Wien
Linz, rebellisch
Elke Rauth über RebellInnen! Geschichten erfahren mit dem Omnibus im Rahmen von Linz 09
Fifty Fifty – „Ein Museum“
Paul Rajakovics über die Ausstellung Fifty Fifty – Kunst im Dialog mit den 50er-Jahren im Wien Museum
Scheinriese Kulturwirtschaft
Bernd Hüttner über Kulturwirtschaft und Kreative Stadt herausgegeben vom Institut für Kulturpolitik
Raum ist nicht gleich Raum
Erik Meinharter über Raumwissenschaften herausgegeben von Stephan Günzel
Pop Goes The World
Thomas Ballhausen über Könnte Köln sein von Andreas Neumeister
Regionalisierung und Regionalwissenschaft
Christa Kamleithner über Kritische Regionalwissenschaft – Gesellschaft, Politik, Raum herausgeben von Wolfgang Krumbein et al.
Das ABC der Stadt
Elke Rauth über Stadtalphabet Wien von Martin Ulrich Kehrer und das Buchstabenmuseum Berlin
Momentaufnahmen aus dem iranischen Alltag
Christoph Laimer über Iran, a Winter Journey herausgegeben von Nariman Mansouri und Stephan Schwarz

Zielgebiete des Wiener Stadtentwicklungsplans

„Das Stuwerviertel ist im Aufwind begriffen. Die Investitionen in die U-Bahn-Linie U2, in die Wiener Messe und in die Bebauung des Nordbahnhof-Geländes signalisieren einen Wohnstandort mit Zukunft.“
MIGRA Gemeinnützige Bau- und Siedlungsgesellschaft GesmbH, Werbetext zum Projekt Wilhelm-Kaserne[01]

Die Ränder des Stuwerviertels bilden zwei der so genannten Zielgebiete[02] des Wiener Stadtentwicklungsplans 2005: Waterfront und Prater-Messe-Krieau-Stadion. Letzteres stellt wohl eher eine Konsequenz der Linienführung der U2 und der im Stadtentwicklungsplan auch klar so dargestellten Tatsache dar, dass zwei Drittel des dort vorhandenen Grundstückspotenzials im Besitz der Gemeinde Wien stehen. Die „Entertainmentzone“ soll weiterentwickelt und Dienstleistungsstandorte geschaffen werden. Daneben werden Umfeldmaßnahmen wie die Schaffung von Bezügen zum Donauufer und vereinzelte Hochhausentwicklungen als „Landmarks“ angestrebt. Konkret fallen darunter Projekte wie der Umbau des Pratersterns, der Pratervorplatz, das Stadion-Center oder Büroentwicklungen wie viertel zwei oder das Messekarree.

Alleine der Praterstern, die U2-Linie vom Praterstern bis zur Station Krieau, die neue Messe und der Pratervorplatz haben ein Investitionsvolumen von über € 300 Millionen. Das ergäbe pro EinwohnerIn des angrenzen Wohngebiets einen Betrag von über € 15.000. Dem folgen nun private Investitionen in Bürobauten und Einzelhandelsflächen – wobei überwiegend nicht von privaten Investitionen gesprochen werden kann: Die Developergesellschaft der Projekte viertel zwei und Stadion-Center (U2 Stadtentwicklung GmbH) befindet sich zu jeweils 20 Prozent im Eigentum der Wien Holding (einer Tochter der Stadt Wien) und zu 40 Prozent der IG Immobilien (einer Tochter der Österreichischen Nationalbank).

Das Zielgebiet Waterfront wird noch deutlich unklarer abgegrenzt. Zwar ist hier wieder von Hochhäusern die Rede – selbstverständlich von den momentan (wahrscheinlich aus Mangel an Investitionskapital) eingefrorenen Perrault-Türmen auf der Seite der Donau-City, aber auch von „Einzel-Hochhäusern“ am rechten Donauufer. Es ist die Rede von „imagetragenden“ Planungen für Büro- und Wohnstandorte vom Nordbahnhof bis zur Donauquerung der U2. Eine Attraktivierung von Uferstandorten durch Gastronomie und Signalarchitektur soll einen Imageeffekt einleiten, der zu wirtschaftlicher Entwicklung führt. Weiters soll die Vernetzung des Donauufers mit dem Hinterland verbessert werden.

Bisher vermarktete die Gemeinde vor allem Konzepte zum Umbau des Personenhafens bei der Reichsbrücke. Es wurden Studierende aus Harvard eingeladen, Konzepte zu entwickeln, und es wurden wieder einmal Shopping-Center, aber auch etwa eine Wohnbebauung direkt am Ufer andiskutiert. Im Folgenden sollen die wesentlichsten dieser Projekte im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf das Stuwerviertel erläutert werden.

U-Bahn

„Die hervorragende Erreichbarkeit durch den öffentlichen Nahverkehr wurde durch den Ausbau der U2 weiter verbessert. Damit sind Chancen zur Entwicklung des Stuwerviertels einerseits, Gefährdungen seiner traditionellen Strukturen andererseits verbunden.“
Peter Zlonicky, TU Wien[03]

U-Bahn-Bauten gehören zu den kostspieligsten und von den Effekten stärksten Infrastrukturinvestitionen in Städten. Im Umfeld von neuen U-Bahn-Linien kommt es zu einer hohen Entwicklungsdynamik und in innerstädtischen Lagen meist zu einer Umkehrung der Bevölkerungsentwicklung in Richtung Wachstum. (Siegl 2007)

Die Auswirkung auf die Bodenrente ist bei Nähe (bis 200 m) zu einer U-Bahn-Station auf Grundstücke im Geschoßwohnbau eine Steigerung von etwa 50 Prozent, was einer Mietsteigerung von etwa 8 Prozent entspricht. Die Wirkung fällt bis 500 Meter Abstand etwa auf 25 Prozent und ist bis etwa zwei km nachweisbar (Wieser 2006).[04] Wesentlicher als der unmittelbare Preiseffekt der U-Bahn sind ihre Investitionseffekte. Die Gebiete besserer Erreichbarkeit sind aufgrund der dann höheren erzielbaren Erträge attraktive Standorte für Sanierungen und Neubautätigkeiten. In diesem Zusammenhang werden sie zu „Zielgebieten“ der Stadtplanung.

Büros und Universität

„Wir erwarten uns durch die Ansiedlung der Wirtschaftsuniversität gute und wichtige Impulse für das Stuwerviertel.“
Claudia Smolik, Stv. Klubobfrau des Grünen Gemeinderatsklubs[05]

Dabei fördern U-Bahn-Bauten vor allem die Ansiedlung dienstleistungsorientierter Branchen – was durchaus auch der Entwicklungspolitik entlang der U2 entspricht. Die Übersiedlung der Wiener Wirtschaftsuniversität an den Standort Messe-Prater ist als ein solcher Effekt zu sehen. Damit entsteht hier neben weiteren 400 hochwertigen Arbeitsplätzen ein Arbeitsort für über 20.000 Studierende. Am Messekarree Nord entstehen Bürobauten für etwa 2.000 Beschäftigte, das viertel zwei bei der Trabrennbahn bietet Büroflächen für etwa 3-4.000 Arbeitsplätze. Daneben entsteht etwas peripherer bei der U2-Station nach dem Praterstadion (Kreuzung Südosttangente/Handelskai) ein Bürokomplex mit etwa den doppelten Ausmaßen des viertel zwei („Marina City“).

Die nahe gelegenen Bürostandorte ergeben damit etwa 6.000 Arbeitsplätze, denen rund 2.800 Arbeitsplätze, 20.000 EinwohnerInnen und damit etwa 10.000 Erwerbstätige im Stuwerviertel gegenüber stehen.Daneben stehen Ansiedlungen kleinerer Dienstleistungsbetriebe, die den größeren zuarbeiten. Gerade in Neubaustrukturen funktionieren diese Cluster oft nicht so gut, da die räumliche Flexibilität nicht gegeben ist bzw. die InvestorInnen sich eher auf größere Unternehmen orientieren, die ihnen entsprechende Mieten, Bonität und geringe Verwaltungskosten bieten können. Daher bilden sich solche Strukturen eher in gründerzeitlichen Quartieren, was dazu führen könnte, dass sich diese Unternehmen Standorte im Süden des Stuwerviertels suchen.

In der Hamburger Neustadt, einem ursprünglich isolierten und strukturschwachen Stadtteil, kam es Ende der 1980er-Jahre durch die Errichtung des Gruner & Jahr-Pressehauses zu einem schubartig einsetzenden Gentrification-Prozess. Das Quartier erhielt damit ein deutliches Symbol der Aufwertung. Die Modernisierung von Wohnun­gen und die Umwandlung in Eigentumswohnungen stiegen stark an. Die Einzugsmieten entwickelten sich damit sprunghaft nach oben – vor allem kurz nach der Eröffnung. Es kam zu einem wesentlichen Bevölkerungs­austausch und einer grundlegenden Veränderung der Gewerbestruktur. Ein hochrangiger Bürostandort in einem ärmeren Quartier konnte als Motor einer Aufwertung dienen.

Die dann an der Achse der U2 Beschäftigten werden einen nahen Wohnstandort bevorzugen und damit auf den Wohnungsmarkt der Umgebung drängen. Die Beschäftigten der Betriebe sind wohl eine passende Zielgruppe für die geförderten Wohnbauten (vor allem am Nordbahnhofgelände) und die Umwandlung von Mietshäusern in Eigentumswohnungen. Die Studierenden, als BewohnerInnen, die traditionell auch in den Markt der weniger gut ausgestatteten gründerzeitlichen Wohnungen drängen, geraten in eine Konkurrenzsituation mit der eher ärmeren und migrantischen Bevölkerung in diesem Segment. Es ergibt sich somit eine nahezu ideale Mischung aus studentischen Pionieren und Angestellten aus durchwegs relativ guten Branchen als Gentrifier, die die Aufwertung auch vollziehen.

Nordbahnhof

„Die Entwicklungsachse Praterstern-Kagran ist Erschließungssystem und Nahtstelle für die an sie anschließenden Stadtteile. Sie urbanisiert einen Raum, der […] an dich bebaute Wohn- und Mischviertel der historischen Vorstadt bzw. an Orte potentiell hoher Qualität, aber auch sozialer Empfindsamkeit (Stuwerviertel, Mexikoplatz) anschließt.“
Heinz Tesar, Boris Podrecca u.a., Leitbild Nordbahnhof

Das Anfang 1994 beschlossene städtebauliche Leitbild für die Bebauung des Nordbahnhofs nennt als Ziel die Errichtung von etwa 10.000 Wohnungen für 20.000 EinwohnerInnen und 17.000 Arbeitsplätze. Damit entspricht die Struktur in etwa der Größe des Stuwerviertels. Eingerechnet ist dabei allerdings auch die während der Planung bereits in Umsetzung befindliche Bebauung der Lassallestraße. (Tesar, Podrecca et al. 1993)

Das Leitbild verlangt speziell den Zuzug von MigrantInnen. Es wird als Schizophrenie betrachtet, dass das Wachstum der Stadt auf Zuzug begründet ist, diese Bevölkerungsgruppen aber im Wesentlichen von der Neubautätigkeit ausgeschlossen sind. Über 40 Prozent der 25-30-jährigen WienerInnen sind ZuwanderInnen aus den Bundesländern und dem Ausland. (Bauer 2007).

Die Strukturen sind weitgehend relativ konventionelle Blockstrukturen. Experimente sollen – wenn überhaupt – innerhalb dieses Rahmens stattfinden. So wird etwa Durchmischung und eine gewerbliche Nutzung der Sockelzone gefordert. Bis dato finden sich in den bisher realisierten Bauten kaum solche Lösungen, was einerseits an der Wohnbauförderung liegt, die dies schwer möglich macht, und andererseits an der Trennung der Bauträger in meist reine gemeinnützige Wohnbauträger und jene, die frei finanzierte Objekte errichten. Das Gebiet soll in gründerzeitlicher Dichte bebaut werden. In der Nähe der U1 und der hochrangigen Lagen am bereits errichteten Anton-Bednar-Park liegen die Nettodichten über 4,0, um dann in Richtung Nordwesten auf etwa 2,5 abzufallen. In den dichteren Bereichen sollen auch vorzugsweise gemischte Strukturen und ein höherer Anteil an frei finanzierten Wohnungen entstehen.
Heute ist es dieser Teil, der bereits bebaut ist oder sich gerade im Bau befindet. Das ganze Gebiet soll bis 2025 in mehreren Stufen bis zur Innstraße bebaut werden. Es enthält auch eine Reihe an Infrastrukturprojekten wie Schulen, Kindergärten oder ein Pensionistenheim. Ursprünglich war auch eine Bebauung mit Gemeindewohnungen vorgesehen. Nachdem aber seit einigen Jahren keine Gemeindebauten mehr errichtet werden, sind diese Flächen nun für geförderten Wohnbau vorgesehen. Zahlreiche Fragen wie die Grundstücksverhandlungen mit den ÖBB, die sich gegenüber der Stadt als privater Grundeigentümer gerieren, die Belastung der Böden mit Altlasten oder die Frage der Finanzierung der Infrastrukturprojekte haben das Projekt immer wieder gebremst, so dass bisher jeder längerfristige Zeitplan seit Beschluss des Masterplans verschoben werden musste.

Nunmehr zeichnet sich in Fortschreibung der momentanen Entwicklungen das Bild eines Quartiers, einerseits in weiten Bereichen mit reinen Wohnbauten ohne öffentliche Nutzung der Sockelzonen und andererseits an den Rändern mit Bereichen mit reinen Bürobauten, die den Anschluss an die Umgebung erschweren. Die Wohnbauten bestehen zum überwiegenden Teil aus geförderten Mietwohnungen, mit deren Ausschlussmechanismen für sozial schwache Schichten. Daneben findet sich in den besseren Lagen ein nicht unwesentlicher Anteil frei finanzierter Eigentumswohnungen.

Daher wird die Sozialstruktur des Quartiers schließlich eher von ökonomisch besser gestellten Personen mit inländischer Staatsbürgerschaft in einer für Neubausiedlungen typischen relativ homogenen Altersmischung geprägt sein und damit nicht der im Leitbild geforderten Mischung entsprechen. Zwar versucht man nun mit einem Projekt, das sich durch Wohngemeinschaften ohne Eigenmittel und die Stundung von Eigenmitteln oder hohe subjektbezogene Förderungen für Darlehen auf die Eigenmittel für Wohnungen auszeichnet, dieser Tendenz entgegenzuwirken, es handelt sich dabei jedoch um etwa 800 Wohnungen von über 10.000, und daher erscheint es fraglich, ob dies dazu geeignet sein kann, den Trend zu brechen. Die Zahl der billigen Wohnungen, die durch Sanierungen verschwinden, wird durch Projekte wie das oben erwähnte und Genossenschaftswohnungen, die einen niedrigen Eigenmittelanteil benötigen (z. B. Sozialbau) und dadurch auch für einkommensschwache Gruppen leistbar sind, wohl nicht erreicht. Zum Problem wird das vor allem in Zeiten, in denen die Zahl der Armen steigt. Es entsteht damit eine Struktur, die sich sehr stark vom Stuwerviertel, aber auch von Alliierten- und Volkertviertel oder dem angrenzenden Bereich des 20. Bezirks – die in gewissem Maße dem Stuwerviertel ähnlich sind – unterscheidet. Diese Kontraste sind dazu geeignet, die Umgebung nachhaltig zu verändern.

Wirkungen

Inwieweit solche Effekte durch die U2 im Stuwerviertel, vor allem in jenen Bereichen, die dem Praterstern bzw. dem Mexikoplatz nahe sind, derart stark nachweisbar wären, ist unklar. Jedenfalls wurde mit der Eröffnung der Station Messe ein Bereich gestärkt, der bereits vorher die höchste AkademikerInnenquote und den höchsten Anteil an Eigentumswohnungen aufgewiesen[06] hatte.

So wird der Druck auf das Viertel durch die in diesem Umfeld entstehenden Bürobauten und die Universität deutlich erhöht. Die Entwicklung der Lassallestraße in den 1990er-Jahren mit fast reinen Bürokomplexen, bei der ein „Brückenschlag“ vorgesehen war, hat zwar keine wesentlichen Veränderungen verursacht, die Situation ist diesmal jedoch durch die Studierenden längerfristig eine wesentlich andere.

Die „Insel auf der Insel“ wird vor allem mit der Entwicklung des Nordbahnhofs endgültig nicht mehr existieren. Die Bewohnerinnen des Neubauquartiers werden die Nachfrage nach Dienstleistungen im nahen Stuwerviertel – vor allem in der Nähe der U1 – erhöhen. Vor allem da die Neubaustrukturen auch hier wohl meist eine relativ teure, unflexible Struktur mit kaum gewerblich genutzter Sockelzone bilden werden. Daher ist das Stuwerviertel eine interessante Adresse für entsprechende Angebote im Kleingewerbe und der Gastronomie. Orientiert sich aber ein lebendiger Teil der Infrastrukturversorgung über die Lassallestraße, so wird auch der Standort als Wohnstandort wesentlich attraktiver.


Anmerkungen:
[01] http://www.migra.at/MIGRA_Startseite/Immobilien/Wohnungen/In_Planung-Bau/1020_Vorgarten/ (Stand 26. 5. 2009)
[02] Die Formulierung von „Zielgebieten“ stellt einen Ausdruck der aktuellen Tendenz in der Wiener Stadtplanung dar. Sie ist Ausdruck für eine Orientierung mehr auf Einzelmaßnahmen denn auf grundlegende Strategien.
[03] Zlonicky, Peter, 2009, Stadtentwicklung – Angaben zu einer Lehrveranstaltung. Verfügbar unter: http://www.stb.tuwien.ac.at/index.php?id=97 (Stand 26. 5. 2009)
[04] Diese Schätzung basiert auf einem hedonischen Preismodell – daher ist dies eine Schätzung der ausschließlichen U-Bahn-Wirkungen. Die gleichzeitige Nähe anderer Stationen und der Abriss einer Straßenbahnlinie, wie im Bereich der U2-Verlängerung erfolgt, dürfte die Effekte abschwächen.
[05] Smolik, Claudia, 2. 10. 2007, Wirtschaftsuni bald beim Messegelände. Verfügbar unter: http://wien.gruene.at/wissenschaft/artikel/lesen/21840/
[06] VZ/HWZ 2001, ZBZ 90201078

Literatur.
Bauer, Eva (2007): Migrationsbewegun­gen und Wohnbau. In: Wohnbau-Forschung 3/07
Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 18 – Stadtentwicklung und Stadtplanung (Hg)(2008): Stadt am Prater. U-Bahn und Stadtentwicklung in Wien.
Tesar, Heinz; Podrecca, Boris et al. (1993): Leitbild Nordbahnhof
Siegl, Christian (2007): Die Veränderung der Wohnbevölkerungsstruktur entlang der Linienführung der U-Bahn am Beispiel Wien. Diplomarbeit, Institut für Regional- und Umweltwirtschaft, WU Wien
Wieser, Robert (2006): Wirkungen der U-Bahn auf den Bodenmarkt in Wien.
In: ifip working paper, 1/2006. Verfügbar unter: http://www.ifip.tuwien.ac.at/publ/wp/PDF/IFIP_WP_1_2006.pdf (Stand 26.5. 09)

dérive, Do., 2009.07.09

09. Juli 2009 Roman Seidl

Die Ordnung der unORTnung.

(SUBTITLE) Wie viel unORTnung braucht die Stadt?

Ein leerstehender Industriebau aus Backstein in der Randlage eines historischen Arbeiterbezirks. Nebenan hat eine große Baufirma eine Wohnhausanlage über einer Autobahn neu errichtet. Im Gebäude sind in den Räumen noch die vergangenen Produktionsbedingungen ablesbar. Funktionelle, aber veraltete bauliche Strukturen, die von den Arbeitsprozessen nur mehr andeutungsweise erzählen. Die Ankerbrot-Fabrik im zehnten Wiener Gemeindebezirk ist ein ungeschliffenes Museum der Produktion. Sie war im April 2009 Schauplatz von unORTnung V, einer Serie von Ausstellungen, die von zwei Künstlerinnen aus dem Bedarf nach Möglichkeiten der Präsentation 2007 etabliert wurde. Veronika Barnas und Andrea Maria Krenn (bis Nov. 2008) haben in den letzten zwei Jahren Leerstände in Wien mit von ihnen kuratierten Ausstellungen „bespielt“. Bei unORTnung V war als Gastkurator Georg Schöllhammer (Chefredakteur der Kunstzeitschrift Springerin) geladen. Das Konzept der Initiatorinnen für die auf sechs Orte beschränkte Ausstellungsserie fußt auf der Verschränkung des von ihnen gesuchten und definierten Ortes mit den Beiträgen der teilnehmenden KünstlerInnen. Dies geschieht, wie es Georg Schöllhammer formuliert, mit einer „strengen Nonchalance“. Das Projekt wirkt mit einer gewissen Ambivalenz in den Stadtraum hinein. Das in der Beschreibung des Projekts verwendete Wort des Leerstandes als Auswahlkriterium für die Räume trifft auf die ausgewählten genauer zu als das negativ konnotierte Wort des Unortes. Vielmehr handelt es sich um eine Serie der unORTnung innerhalb der Regeln der städtischen Ordnung, wovon ja jeder Leerstand einen Teil darstellt.

Die Theorie des Ortes, als Bedeutungsträger im Gegensatz zum Nicht-Ort, trifft im Falle der Ausstellungsserie nur bedingt zu. Die Orte, die gesucht und gefunden wurden, entsprachen den Anforderungen der Organisatorinnen. Aus der Summe der Orte von unORTnung I-VI entsteht nun eine Abfolge, eine Serie, die Muster erkennen lässt. Die Ankerbrotfabrik ist nur ein Schritt in einer Abfolge von spezifischen städtischen Räumen. Das Muster der aufgefundenen und verfügbaren Leerstände oder Zwischenräume, die sich in einem Transformationsprozess befinden. So meint Georg Schöllhammer, dass es einer der großen Vorteile des Projektes ist, dass es einer gewissen Logik von Transformation in der Stadt folgt. Die unORTnungen fanden nur an Orten statt, an denen es zugelassen wird, so etwas Ungeordnetes stattfinden zu lassen. Etwas, das nicht kontrollieret werden kann. Die BesitzerInnen können sich zwar einen Image-Transfer erhoffen, aber sie begeben sich gleichzeitig auf ein unsicheres Terrain. Das folgt der Logik von Transformation in der Stadt. Die Ordnung, die dabei entsteht, bezieht sich auf Orte der Unordnung in der Stadt. Orte und Räume, die aus dem planerischen System der geordneten Funktion ausgetreten sind und sich in einer Phase des Übergangs befinden. Dieser Übergang birgt Chancen. Er kann eine Lücke für eine kuratorische, künstlerische Initiative in der Stadt jenseits der bekannten und regulierten Orte der Kunst sein. Er ist ein Raum in der Stadt, der zeitlich begrenzt als Ausstellungsort fungiert, statt ein nach klaren Regeln und Auslesemechanismen bespielter Ort der Kunst zu sein. Es ist auch nicht Kunst in einem geschichtslosen „Containerraum“.
Die Vorgabe der KuratorInnen, sich mit dem gegebenen Ort auch im Werk auseinanderzusetzen, fixiert die künstlerischen Äußerungen auf diesen einen kurzen Moment der freien Ausstellungsmöglichkeit. Der Ort und die Beiträge der KünstlerInnen treten in einen Dialog auf Zeit. Diese Auseinandersetzung findet in unterschiedlicher Intensität statt, unterscheidet sich jedoch bei jeder weiteren Ausstellung von den vorangegangenen. Die Unterschiedlichkeit der Orte generiert die Differenz der Charakteristik der Ausstellungen und zeigt sich auch in den Beiträgen der KünstlerInnen. Die Umgebung wird so mit in die Arbeiten und in den Ort der Ausstellung getragen. Die unORTnung verbindet sich mit dem Stadtteil, in dem sie stattfindet. So beschreibt Veronika Barnas die ursprüngliche Intention der Ausstellungsserie als ein Wechselspiel aus Interesse am Raum und auch mit dem Raum zu arbeiten und ihn gleichzeitig auch als Ausstellungsraum für die KünstlerInnen zu nutzen.

Ein Ort, der in der Serie zuvor als Störung erscheint, wie das leerstehende Restaurant an der Copa Kagrana, der eigentlich aufgrund seiner Monofunktionalität der Definition eines Nicht-Ortes nach Marc Augé am nächsten kommt, fügt sich, wenn die Ordnung der Leerstände als Zeitfenster in der Transformation gelesen wird, perfekt ein. Das Umfeld ändert sich und lässt an diesem Ort ganz andere Beiträge entstehen als in abgelegenen leerstehenden Räumen ehemaliger Produktionsstätten, die fast schon als Museen der fordistischen Ära fungieren. Damit ist die unORTnung eine Sammlung von künstlerischen Statements zu dem die Orte der Ausstellung umgebenden Stadtteil. Die Ausstellung ist damit selbst als Indikator für die Machbarkeit von Eigeninitiative in der Off-Szene innerhalb einer Stadt zu sehen. Es verwundert nicht, dass die bereits stattgefundenen Ausstellungen in Räumen der Hoffnung – also in den Räumen, deren Funktion überholt ist und die in eine neuen Funktion übergehen sollen – stattfanden. Die Hoffnung der Kuratorinnen, eine Ausstellung jenseits der reglementierten Räume zu ermöglichen, trifft einerseits auf die Hoffnung der einreichenden KünstlerInnen auszustellen, wie auch andererseits auf die Hoffnung der Personen und Institutionen, die einen Raum zu Verfügung stellen, diesem neue Funktionen zuweisen zu können. Das Projekt bewegt sich in jeder Hinsicht in einem Randbereich.

Für eine (verkürzte und vereinfachende) Kritik an einer einen möglichen Aufwertungsprozess unterstützenden, vermuteten Institutionalisierung von KünstlerInnen oder Kunst war das Projekt allerdings ein ungeeigneter Gegenstand. Einerseits führt die bewusste Vorgabe der InitiatorInnen an die teilnehmenden KünstlerInnen, ein Werk einzureichen, das sich auch mit dem Ort selbst beschäftigt, auch zu möglichen kritischen Beiträgen. Andererseits ist durch die kurze Laufzeit der Ausstellung keine große „Verwertungs- und Marketingchanc­e“ gegeben. Zumeist wird der individuelle Faktor bei Aufwertungsprozessen gegenüber dem ökonomischen überschätzt (vgl. hierzu dérive Heft 4!). Eine mit dem mittlerweile schon zum unreflektiert verwendeten Schlagwort gewordenen Begriff der gentrification verkürzte Kritik an einer Initiative von Künstlerinnen, ausstellen zu wollen und dafür Räume in der Stadt zu suchen, greift sicher zu kurz. Einerseits sind an den meisten Orten die Prozesse schon gelaufen, wie bei der Ankerbrot-Fabrik, andererseits reagieren, wie Georg Schöllhammer meint, verschiedene Unternehmensstrukturen ja auch in den Stadtraum hinein, und aufgrund dieser differenzierten urbanen Faktoren sollte man nicht immer versuchen, nur mit generellen Theorien alles zu beschreiben. unORTnung bewegt sich entlang von Hoffnungsräumen, die in jeder Stadt vorhanden sind, kommen und wieder vergehen. Dass eine Ausstellung in der denkmalgeschützten und für die Produktion der Firma Ankerbrot nicht mehr geeigneten Fabrik stattfindet, die bereits vor der Ausstellung längst von einer Entwicklungsgesellschaft für eine Nachnutzung vorbereitet wurde, ist sicher kein herausragender Faktor in der zukünftigen Veränderung des zehnten Wiener Gemeindebezirkes. Es ist ein gravierender Unterschied, ob eine Ausstellung als einmalige Initiative einen Ort öffnet, BesucherInnen aus der Umgebung in das ehemalige Arbeitsumfeld oder den unbekannten, ehemals unzugänglichen Ort einlädt oder einen Stadtteil immer wieder zur Galerie umdeutet.

Die Ausstellungsserie springt also entlang von Orten der Transformation und Hoffnung durch die Stadt und öffnet auf Zeit für die Öffentlichkeit sonst geschlossene Orte. Dass parallel dazu der geregelte Kunstmarkt ebenfalls die Orte der Veränderung für sich entdeckt, scheint nicht weiter verwunderlich. Im Rahmen der viennafair wurde die ehemalige Markthalle in Wien Mitte als Ausstellungsort genutzt. Der Raum dient hier jedoch als Nebenschauplatz. Er ist eine Erweiterung des institutionellen Raums der Galerie.

UnORTnung wird mit seiner sechsten Folge einen Zyklus abschließen, der von Anfang an begrenzt gedacht wurde. Bis es sich einen neuen Ort sucht, um ein Fenster der Transformation zu nutzen. Das Thema aber ist wieder dasselbe: der Ort, in welcher Ausformung auch immer.


Der Artikel beruht auf einem im Mai 2009 geführten Gespräch mit Veronika Barnas und Georg Schöllhammer.
www.unortnung.net

dérive, Do., 2009.07.09

09. Juli 2009 Erik Meinharter

Zum Kunstinsert von Ralo Mayer

„Willi Tobler trägt das Gedicht To the Lost Space Age vor; im Anschluss daran Diskussion mit dérive-LeserInnen, wie die Zeitschrift wohl aussehen würde, wenn es heute tatsächlich jene Weltraumkolonien gäbe, die vor 30 Jahren für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends geplant waren.“

Am 20. Juli 1969 ist die „Utopie“, auf den Mond fliegen zu können, Realität geworden. Damit konnten die USA die ideologische Vormachtstellung im Weltall von den bis dato eindeutig führenden Kosmonauten der UdSSR zurückerobern. Ralo Mayers Arbeit hinterfragt genau jene Zwischenbereiche und Wendepunkte, an denen eine Utopie an ihrem Kipppunkt zur Fiktion, der Realität oder ihrem gnadenlosen Gegenraum der Distopie übergeht. Er analysiert dabei collageartig politisch-ideologische Hintergründe, wobei er nicht nur die offensichtlichen zeitlichen Wenden wie die Jahre 1969 und 1989 fokussiert. Ihm geht es vielmehr um den Fortgang kollektiver Fiktionen wie etwa der Besiedelung des Weltalls, wie sie in den 1970er-Jahren z.B. von der L5 Society propagiert wurde (L5 ist ein Bereich ausgeglichener Anziehungskräfte zwischen Erde und Mond, der sich für eine Weltraumkolonie eignen könnte). Derartige Projekte eröffneten natürlich Spekulationen über eine „bessere“ und unabhängige Weltraumgesellschaft, welche die Probleme auf der Erde zurücklassen kann. Mayer ist Mitherausgeber der Zeitschrift multiplex fiction und arbeitet an der Übersetzung des Science-Fiction-Romans The Ninth Biospherian. Dieser beschäftigt sich mit dem geschlossenen Ökosystem Biosphere 2, in dem zwischen 1991 und 1993 acht Personen als Test für ein Leben im Weltraum lebten. Das Buch folgt den Spuren eines imaginären neunten Crewmitglieds und mit ihm der Geschichte dieser Space Age-Ruine. Einige von Mayers aktuellen Arbeiten sind Zwischenergebnisse dieser intensiven Auseinandersetzung mit dem Science-Fiction-Buch. Weitere Informationen: was-ist-multiplex.info.

dérive, Do., 2009.07.09

09. Juli 2009 Paul Rajakovics

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