Editorial
«Doppelt genäht hält besser» - ein grundsätzlich einfaches Prinzip: Fällt ein Element in einem (technischen) System aus, übernimmt das andere automatisch die zugewiesene Funktion. Eine vermeintlich zweckmässige Methode, eine erhöhte Robustheit für ein reibungslos funktionierendes System zu erreichen - robust im Sinne von immun gegen äussere Einflüsse. So offensichtlich diese Lösung scheint, so wenig tauglich ist sie in manchen Fällen. Solche Ansätze, Robustheit zu erlangen, sind vor allem bei mehrfacher Ausführung untragbar, ineffizient und unwirtschaftlich, da die Duplikate die meiste Zeit nicht genutzt werden. Die Lösung liegt in viel subtileren, weniger offensichtlichen, komplexeren Strategien. Auch scheinbar anfällige Systeme können de facto widerstandsfähig sein und sind keinesfalls nur höchstens so robust gegenüber äusseren Einflüssen wie das schwächste ihrer Einzelteile (Titelbild). Dies sollen zwei Artikel (S. 16 ff.) in dieser Ausgabe von TEC21 zeigen.
In «Tragfunktion sichern» wird in technischer Weise erläutert, mit welchen Massnahmen die Robustheit einer Tragkonstruktion beeinflusst werden kann. Der Begriff wird für den Fachbereich Bauingenieurwesen systematisiert und klar umgrenzt - die Umsetzung in spezifischen Einzelfällen bleibt komplex und uneindeutig.
In «Herrlichkeit in Hoogvliet» wird die ästhetische Robustheit einer Parkanlage mit verschiedenen Gebäuden beschrieben. Die robuste Architektursprache macht es möglich, dass die Anlage auf unterschiedliche Weise sozial nutzbar ist - sie lässt ausserdem Freiraum für stetige Anpassungen durch immer wieder variierende Nutzer.
Beide Artikel weisen - einmal akkurat und methodisch, das andere Mal farbenfroh und unkonventionell - auf einen wesentlichen themenbezogenen Aspekt hin: «Robust» muss noch lange nicht robust im Sinne des umgangssprachlichen «kräftig» oder «stämmig» sein - filigrane und leichte Strukturen können diese fachspezifische Anforderung ebenso ästhetisch ansprechend erfüllen. Die materielle Unversehrtheit über eine Zeit hinweg und die Widerstandsfähigkeit gegenüber Beeinträchtigung oder Veränderung - hier an den Beispielen Tragkonstruktion und Architektur dargelegt -, stellen die Qualität des Systems an sich dar. Dadurch kann es auf die wechselnden Einflüsse der belebten Umgebung reagieren und ist fähig, seine Funktion auch bei schwankenden Umgebungsbedingungen aufrechtzuerhalten.
Clementine van Rooden
Inhalt
05 WETTBEWERBE
Siedlung Stöckacker Süd, Bern
11 MAGAZIN
Stimmen aus vergangener Zeit
16 TRAGFUNKTION SICHERN
Thomas Vogel
Eine Tragkonstruktion soll möglichst invariant gegenüber Ausfall, Versagen oder Beschädigung einzelner Elemente sein. Mit sogenannt robusten Tragwerken erfüllen Bauingenieure diesen Anspruch.
21 HERRLICHKEIT IN HOOGVLIET
Maren Harnack, Sandra Schluchter
Der Park im niederländischen Hoogvliet – einem Stadtteil von Rotterdam – erweist sich sowohl als robust in der Architekturästhetik als auch in der Benutzungsvariabilität.
27 SIA
Erste Präsidentenkonferenz 2009 | Revision des Raumplanungsgesetzes | «Oranger Ordner»: dritter Band | Kurs: Dynamische Teamentwicklung
31 FIRMEN
33 PRODUKTE
37 IMPRESSUM
38 VERANSTALTUNGEN
Tragfunktion sichern
Robuste Tragwerke schränken allfälliges Versagen ein, der gefährliche Dominoeffekt wird verhindert. Ingenieure planen darum Konstruktionen, die bei Ausfall eines Tragelementes beispielsweise eine Lastumlagerung über das Resttragwerk zulassen.
Robust wird umgangssprachlich diffus verwendet – nämlich als Synonym für stark, kräftig und widerstandsfähig. Die Tragwerksplaner hingegen setzen den Begriff Robustheit präzisiert ein. Er wird in der Norm SIA 260 «Grundlagen der Projektierung von Tragwerken»[1] wie folgt definiert: «Fähigkeit eines Tragwerks und seiner Bauteile, Schädigungen oder ein Versagen auf Ausmasse zu begrenzen, die in einem vertretbaren Verhältnis zur Ursache stehen». Weiter hält die Norm als Anforderung fest, dass ein Tragwerk «bei angemessener Einpassung, Gestaltung und Zuverlässigkeit wirtschaftlich, robust und dauerhaft» sein soll.[2]
Eingrenzung des Begriffs
Robustheit steht in den Normen somit auf gleicher Hierarchiestufe wie die Wirtschaftlichkeit und die Dauerhaftigkeit. Zudem werden in diesem Zusammenhang Begriffe wie Redundanz, Verletzbarkeit und progressiver Kollaps – umgangssprachlich der Dominoeffekt – verwendet. Müllers[3] gebraucht diese drei Begriffe in seiner Dissertation, um Robustheit zu definieren und abzugrenzen (Abb. 1), wobei er die Definition von Robustheit aus der Norm SIA 260 übernimmt. Als differenzierendes Kriterium fand er den Grad des Versagens. Redundanz ist bei Tragwerken kaum jemals gegeben, da jedes Versagen zumindest die Gebrauchstauglichkeit einschränkt und jede Lastumlagerung auf ein Reservesystem mit Deformationen gekoppelt ist. Der progressive Kollaps ist ein denkbarer Versagensmechanismus für ein Tragwerk, der jedoch nicht impliziert, dass die Ursache im Vergleich zur Auswirkung klein ist, sondern lediglich umschreibt, dass sich der versagende Bereich ausbreitet. Verletzbarkeit umschreibt am ehesten den Gegensatz von Robustheit, ist aber als negativ wertender Begriff schlecht als Anforderung an ein Tragwerk geeignet.
Faber und Schubert[4] benützen den Begriff der Verletzbarkeit, um den Zusammenhang zwischen der Gefährdung und den direkten Konsequenzen zu beschreiben, und den Begriff der Robustheit, um den Anteil indirekter – das heisst ausserhalb der Systemgrenzen liegender – Konsequenzen darzulegen (Abb. 2). Wird nun als System ein Tragelement definiert, entspricht diese Betrachtungsweise der Definition der Norm SIA 260.
Die Verletzbarkeit soll nicht vertieft werden, da – wie die Vergangenheit zeigt – die auslösende Gefährdung häufig nicht in Betracht gezogen werden kann, weil sie zum Zeitpunkt der Planung nicht vorstellbar ist. Fokussiert sich der Planer ausserdem darauf, die Verletzbarkeit zu reduzieren – auch für Gefährdungen, die noch nicht bekannt sind –, führt dies zu überaus klobigen Tragwerken. Die Stärke des Konzepts der Robustheit besteht gerade darin, dass es eben keine Rolle spielt, weshalb ein Bauteil versagt – entsprechend konzipiert, können auch äusserst schlanke Tragwerke robust sein.
Fallweise spezifizieren
Konkrete Ereignisse haben die Entwicklung im Bereich der Robustheit vorangetrieben (siehe Kasten S. 17). Spezifische Massnahmen wurden getroffen und in die Planung von neuen Projekten mit einbezogen. Um bereits in der Planungsphase standardisierte Vergleichswerte als Grundlage für einen Tragwerksentwurf beiziehen zu können, stellt sich die Frage, ob und wie Robustheit quantifiziert werden kann. Obwohl es plausible Ansätze gibt, ist es nicht sinnvoll, eine Quantifizierung zu definieren und allenfalls ein bestimmtes Mass zu fordern, bevor die Robustheit des Tragwerks nicht unter allen möglichen, auch qualitativen, Aspekten ausgeleuchtet wird. Es geht vor allem auch darum, «das Undenkbare zu denken», da die üblichen Gefährdungsbilder durch eine konventionelle Bemessung bereits abgedeckt sind. Bereits einfache Beispiele (siehe S. 18) zeigen jedoch, dass die Robustheit einer Konstruktion nicht einfach oder eindeutig zu erreichen ist – voreilige Schlüsse können falsch sein. Das Problem liegt darin, dass nie alle möglichen Einfl üsse bekannt sind und eine Disposition im einen Fall nützen, im anderen aber schaden kann.
Massnahmen zur Erzielung von Robustheit
Um Tragwerksversagen einzuschränken, werden verschiedene Massnahmen eingesetzt. Einzelne davon sind kombinierbar oder gehen nahtlos ineinander über, andere schliessen sich gegenseitig aus (siehe auch Kasten S. 20). Die Robustheit von Tragwerken kann beispielsweise gesteigert werden, indem Baustoffe verwendet werden, die eine entsprechende Festigkeit aufweisen; ohne es detailliert zu spezifizieren, wird die Tragkonstruktion auf (zu) hohe Einwirkungen dimensioniert, womit ihre Traglast erhöht wird. So wurden zum Beispiel die Tragseile grosser Hängebrücken in den USA mehrheitlich mit grossen Reserven bemessen, die nachträglich für zusätzliche Eigenund Verkehrslasten mobilisiert werden konnten.
Duktiles Verhalten eines Tragwerks trägt ebenfalls zur Steigerung der Robustheit bei. Überbeanspruchte Bereiche von Baustoffen, die wie Stahl nach der elastischen Phase ein Fliessverhalten aufweisen, entziehen sich einer Übernahme von weiteren Lasten. Dies ist vor allem dann wirksam, wenn die Last nach einem kurzfristigen Maximum wieder abnimmt oder wenn die Beanspruchung aus einer aufgezwungenen Verformung besteht. Ein ähnliches Verhalten können auch an sich spröde Materialien zeigen. Die Festigkeit darf in einem solchen Fall nach dem Überschreiten der Bruchlast nicht auf null absinken, sondern es muss eine Restfestigkeit vorhanden bleiben – ein Beispiel dafür ist Beton, der durch Umschnürung dreiachsig druckbeansprucht werden kann.
Mit der Kapazitätsbemessung können spröde Versagen nicht massgebend werden, weil die Bemessung der Tragelemente auf spröde Versagensmechanismen wie Querkraftversagen nicht mit den Einwirkungen erfolgt, sondern mit dem Tragwiderstand der benachbarten, sich duktil verhaltenden Elemente. Damit wird zum Beispiel bei Rahmen erreicht, dass sich die plastischen Gelenke in den Riegeln bilden, die nur lokal tragen, und nicht in den Stützen, die auch eine globale Tragfunktion zu erfüllen haben.
Mit einer Sollbruchstelle (Opfer- und Schutzelement), die wie eine Sicherung knapp über dem durch die normale Bemessung abgedeckten Lastniveau versagt, lässt sich die Versagensstelle im Voraus festlegen. Solche explizit festgelegten Stellen können abschnittsbildend wirken – allerdings nicht im Gebrauchszustand, sondern erst bei aussergewöhnlichen Einwirkungen. Durch eine Abschnittsbildung mittels Fugen wird ein allfälliges Versagen auf einen Teilbereich beschränkt. Dies wird im Erdbebeningenieurwesen angewandt, wenn sich Baukörper unterschiedlich verhalten und die Gefahr besteht, dass sie sich gegenseitig ungünstig beeinfl ussen.
Ein Versagen kann auch durch eine sogenannte zweite Verteidigungslinie eingegrenzt werden: Massive Bauteile schützen andere, indem sie bei ihrem Versagen Energie dissipieren, die dann für weitere Zerstörungen nicht mehr zur Verfügung steht. Für das Tragwerk relevante Stützen können beispielsweise durch Leitplanken, Leitmauern oder andere deformierbare Elemente vor Anprall geschützt werden.
Alternative Lastpfade halten die Lastabtragung über das Resttragwerk aufrecht, auch wenn in der Planung nicht genauer untersucht wird, welches Bauteil weshalb ausgefallen ist. Statisch unbestimmte Tragwerke weisen wegen ihrer Kontinuität beispielsweise mehrere Möglichkeiten auf, eine Last abzutragen. Voraussetzung dafür ist, dass sich die überbeanspruchten Bereiche duktil verhalten. Kontinuität kann allerdings dazu führen, dass sich ein Versagen ausbreitet. So genügt bei Rahmen, die an sich viele Lastpfade aufweisen, ein schräg stehendes, druckbeanspruchtes Element oder ein durchhängendes Zugelement, um grosse Horizontalkräfte zu erzeugen, die das ganze Tragwerk gefährden können.
Im Spannungsfeld der Anforderungen
Viele der genannten Massnahmen sind Teil der gängigen Entwurfspraxis für Tragwerke und als allgemeine Grundsätze in den Tragwerksnormen verankert.[7] Für Einzelfälle existieren auch konkretere Bestimmungen, um die Robustheit von Tragwerken zu steigern. So kann die Einsturzsicherung für Platten ohne Durchstanzbewehrung[8] als zweite Verteidigungslinie oder als alternativer Lastpfad interpretiert werden. Beim Einsatz von Klebebewehrungen ist auch das Gefährdungsbild «Ausfall der Klebebewehrung» zu untersuchen; ein alternativer Lastpfad muss zumindest für die quasiständigen Einwirkungen ohne Lastfaktoren nachgewiesen werden.[9] Ausfallfähige Bauteile werden auch im Zusammenhang mit Fahrzeuganprall gefordert: bei Schienenfahrzeugen in einem Anhang zur Eisenbahnverordnung[10] und für Strassenfahrzeuge in einer Richtlinie des Bundesamts für Strassen (Astra)[11].
Es gibt Normbestimmungen, die dazu verleiten, wenig robuste Tragwerke zu entwerfen. So ist in Biegebalken nach Norm SIA 262 immer eine Verbügelung erforderlich, in Platten hingegen nicht. Unverbügelte Platten versagen spröde, da der Beton auf Druck versagt. Sie sollten nur ausgeführt werden, wenn sichergestellt ist, dass ein Biegeversagen vor einem Querkraftversagen eintritt. Ein absoluter Wert für den Querkraftwiderstand ohne Verbügelung verleitet jedoch dazu, die Plattenstärke so zu wählen, dass just keine aufwendige und kostenintensive Verbügelung erforderlich ist.
Beim Durchstanzwiderstand wirken die Bestimmungen der Norm SIA 262 ähnlich; er lässt sich steigern, indem die Biegebewehrung verstärkt wird. Dadurch wird aber das Versagen zunehmend spröder. Den durchstanzgefährdeten Bereich zu verbügeln – auch wenn dies etwas mehr Aufwand erfordert – wäre hier bezüglich Versagensart vernünftiger, da das Verhalten duktil wird. Ebenso können die an sich begrüssenswerten Bestrebungen zur Gewährleistung der Dauerhaftigkeit von Spanngliedern in Kunstbauten, wie sie in einer kürzlich erschienenen Richtlinie von Astra und SBB[12] festgelegt sind, zu einer Reduktion der Robustheit führen: Spannglieder, die die Tragsicherheit von Eisenbahnbrücken gewährleisten, müssen mit Kunststoffhüllrohren elektrisch isoliert und somit kontrollierbar ausgeführt werden.[13] Diese Konstruktion verursacht höhere Unterhaltskosten. Somit besteht die Versuchung, den Einsatz der Vorspannung einzuschränken und stattdessen weniger schlanke, schlaff bewehrte Biegeträger einzusetzen – diese versagen aber tendenziell eher spröde auf Querkraft als duktil auf Biegung.
Die Robustheit steht in einem Spannungsfeld mit der Wirtschaftlichkeit und der Dauerhaftigkeit. Es bleibt dem Ingenieur überlassen, wie er die verschiedenen Ansprüche im Einzelfall gewichten will und welche Folgerungen sich daraus ergeben.
Anmerkungen:
[01] Norm SIA 260: Grundlagen der Projektierung von Tragwerken. Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein, Zürich, 2003, 44 pp.
[02] Norm SIA 260, Ziff er 2.3.1
[03] Müllers, Ingo: Zur Robustheit im Hochbau. IBK Bericht Nr. 304, Institut für Baustatik und Konstruktion ETH Zürich, Juli 2007, 111 pp.
[04] Faber, Michael H.; Schubert, Matthias: Beurteilung von Restrisiken und Kriterien zur Festlegung akzeptierter Risiken in Folge aussergewöhnlicher Einwirkungen bei Kunstbauten. In: Neues aus der Brückenforschung, Dokumentation SIA D 0223, November 2007, pp. 123–132
[05] Als Einstieg in die umfangreiche Fachliteratur eignet sich ein demnächst erscheinendes Buch in englischer Sprache, das der Autor mitverfasst hat. Knoll, Franz; Vogel, Thomas: Design for Robustness; Structural Engineering Documents No 11. Internationale Vereinigung für Brückenbau und Hochbau, Zürich (in Vorbereitung)
[06] Norm SIA 263: Stahlbau. Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein, Zürich, 2003, Ziffer 6.2.2.2
[07] Zum Beispiel in Ziff er 2.4.6 der Norm SIA 2601
[08] Norm SIA 262: Betonbau. Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein, Zürich, 2003, Ziffer 4.3.6.7
[09] Vornorm SIA 166: Klebebewehrungen. Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein, Zürich, 2004, Ziff er 2.3.5 f.
[10] Bundesamt für Verkehr: Bauten an, über und unter der Bahn. Anhänge zu den Ausführungsbestimmungen zur Eisenbahnverordnung, Anhang Nr. 1, Juli 2006, Tabelle 75
[11] Bundesamt für Strassen (Astra): Anprall von Strassenfahrzeugen auf Bauwerksteile von Kunstbauten; Richtlinie, Ergänzungen zur Norm SIA 261 Einwirkungen auf Tragwerke, 2005, Ziff er 2.1.2
[12] Bundesamt für Strassen (Astra) in Zusammenarbeit mit SBB AG, Infrastruktur Ingenieurbau: Massnahmen zur Gewährleistung der Dauerhaftigkeit von Spanngliedern in Kunstbauten. Richtlinie Ausgabe 2007 V2.00, Astra Bern, 2007, 49 pp.
[13] Solche Spannglieder müssen der Kategorie c zugewiesen werden.TEC21, Fr., 2009.05.08
08. Mai 2009 Thomas Vogel
Herrlichkeit in Hoogvliet
Hoogvliet, ein Stadtteil von Rotterdam (NL), wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1948 nach dem Vorbild der englischen New Towns als eine mit einem Grüngürtel umgebene Siedlung mit voneinander abgegrenzten, um ein Zentrum angelegten Quartieren geplant. Mitte der 1990er-Jahre schrieb der Ort die «Chronik eines Ghettos». Nun hat die britische Architektengruppe FAT mit starken Farben, zeichenhaft en Formen und einfachen Details einem Unort eine ebenso unverwechselbare wie robuste Identität gegeben.
Der Park «Heerlijkheid Hoogvliet» war in erster Linie als temporäres jährliches Sommerfestival geplant, um der Hoogvlieter Bevölkerung zu zeigen, dass Hoogvliet trotz umfassenden Stadterneuerungsmassnahmen ein lebenswerter Wohnort ist. Der Park lehnt sich deshalb ursprünglich an den temporären, zweidimensionalen Kulissenbau an, wie er bei indischen Hochzeiten, aber auch in der Zeit des Wiederaufbaus bei Rotterdamer Geschäftsleuten gebräuchlich war, und soll Hoffnung und Fantasien der Bewohner (trotz der städtebaulichen Realität) widerspiegeln. Die Heerlijkheid Hoogvliet ist im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Rotterdam Hoogvliet entstanden und wurde durch die Programmleitung namens WiMBY! (Welcome into my backyard!) initiiert (siehe Kasten S. 22). Die Idee eines temporären Festivals wuchs sich schnell zu einem grossen, ernst zu nehmenden Bauprojekt aus. Bei der Planung und Konzeption des Parks wurden zwei Prinzipien verfolgt: Einerseits wurden von Anfang an potenzielle Nutzer einbezogen, anderseits sollte die Gestaltung garantieren, dass sich das Image von Hoogvliet verbessert und der Park über den Stadtteil hinaus Wirkung entfaltet. Das jährliche Festival bekam nun zusätzlich die Funktion, die Akzeptanz unter den Bewohnern für das Konzept und das Programm des zukünftigen Parks zu testen. Neben einem kulturellen Programm (unter anderem mit Auftritten verschiedener landesweit bekannter Künstler) bekamen Hoogvlieter Vereine und Organisationen die Gelegenheit, sich zu präsentieren, und machten für alle Bewohnergruppen ein breites Angebot. Nach und nach fanden sich so Gruppen, die sich langfristig für den Park engagieren wollten und die während der Festivals ausgiebig Gelegenheit hatten, sich kennenzulernen und probeweise miteinander zu arbeiten. WiMBY! ging davon aus, dass diejenigen, die sich schon am Planungsprozess beteiligen, den Park anschliessend auch nutzen und sich um ihn kümmern würden, und so das langfristige Bestehen des Parks gesichert ist.
„Dekorierte Schuppen“
Die britische Architektengruppe FAT (Fashion, Architecture, Taste) wurde von WiMBY! damit beauftragt, ein detailliertes Gestaltungskonzept für den Park zu entwickeln. FAT wurde 1995 von Sean Griffiths, Charles Holland und Sam Jacob in London gegründet und hat sich vor allem in den ersten Jahren durch kleinere Interventionen, Statements und vor allem ihre Vorliebe für die Postmoderne einen Namen gemacht – mittlerweile gehören auch grössere Wohnungsbauprojekte zu den Aufträgen der Gruppe. Während WiMBY! auf die Suche nach potenziellen, permanenten Nutzern des Parks ging, interpretierte FAT mithilfe von Fotocollagen, die an die Arbeit der amerikanischen Architekten Venturi und Scott-Brown erinnern, die Einrichtung von Vorgärten und Laubengängen im Stadtteil, um einen zu Hoogvliet passenden Architekturstil zu entwickeln. Die Architektursprache des Parks greift heute zwar ortstypische Elemente auf, kann aber keiner der vielen hier lebenden Gruppen explizit zugeordnet werden. Dies war wichtig, damit der Park zu einem Ort werden konnte, mit dem sich alle Hoogvlieter identifizieren können. Die Arbeit und die Entwürfe von FAT wurden der Öffentlichkeit und den zukünftigen Nutzern immer wieder vorgestellt und mit ihnen diskutiert. Wegen der Sprachschwierigkeiten wurde der Partizipationsprozess von WiMBY! moderiert. So konnte sichergestellt werden, dass der Park den Bedürfnissen der zukünftigen Nutzer entspricht und auch die Gestaltung nicht auf Widerstand stossen würde. FAT, bekannt für poppig-polemische Gestaltung, war in diesem Fall genau die richtige Wahl. Mit starken Farben, zeichenhaften Formen und einfachen Details hat es FAT geschafft, einem Unort ein unverwechselbares Gesicht zu geben. Während der hier vorherrschende Witz der Architektur im Wohnumfeld schnell aufdringlich wirken kann, ermutigt er in Hoogvliet dazu, sich Park und Villa anzueignen, und weist indirekt darauf hin, dass Ballspiele, Grillieren und all die Dinge, die in anderen Parks verboten sind, hier ausdrücklich erwünscht sind.
Die Gruppen, die heute im Park aktiv sind oder Teile des Parks betreiben, sind so unterschiedlich wie die Bevölkerung Hoogvliets. Eine Gruppe vornehmlich älterer Damen, die Baumritter, die sich schon früher für den Erhalt von Bäumen eingesetzt hat, betreibt ein Arboretum. Es grenzt den Park von der angrenzenden Wohnbebauung ab, erfüllt also gleichzeitig eine in das Gesamtkonzept eingebundene gestalterische Funktion und trägt dazu bei, Konflikte mit den Anwohnern zu vermeiden, weil es als ruhiger Ort zwischen eventuell lärmerzeugenden Aktivitäten und Wohnbebauung Abstand schafft. Eine gelbe «Hobbyhütte» wird vom Modellbootverein, dem vor allem ältere Hoogvlieter angehören, als Vereinsheim genutzt. Zunächst sollte ein ganzes Dorf dieser Hütten entstehen, für die verschiedene andere Vereine Interesse gezeigt haben, aber dies liess sich leider nicht finanzieren. Eigentlich waren die Hobbyhütten als eine Art erweiterter Garagen in einfachster Ausführung gedacht, mussten dann aber Anforderungen an Aufenthaltsräume erfüllen und ausserdem mit Sanitäranlagen ausgestattet werden – und wurden damit für die zukünftigen Nutzer zu teuer.
Im nordwestlichen Teil des Parks ist ein Abenteuerspielplatz angesiedelt, der mit einem Wassergraben vom Rest des Parks abgegrenzt ist. Die Brücke und das Tor, über das man ihn betritt, sind ebenfalls von FAT gestaltet und machen deutlich, dass er zum Park gehört. Der nordöstliche Teil des Parks wird von einer grossen, flexibel nutzbaren Rasenfläche und einem See eingenommen. Auf dem Rasen ist Ballspielen ebenso möglich, wie Festivals veranstaltet werden können. Der See hat die Form der Niederlande. Ausserdem gibt es in diesem Teil des Parks Grillstellen und viele Sitzgelegenheiten.
Einfachheit als Widerstandsfähigkeit
Am wichtigsten für den Park ist die Villa Heerlijkheid, in der ganz verschiedene Aktivitäten stattfinden können. Typologisch handelt es sich um einen «dekorierten Schuppen», eine einfache Halle mit Stahlskelett und Wandverkleidung aus Holzfaserplatten, auf die Baumornamente und eine an die Schornsteine in der Umgebung angelehnte Holzverkleidung appliziert wurden. Beides ist deutlich als schmückendes Ornament erkennbar und verbirgt nicht, dass die eigentliche Gebäudehülle darunter einfach, billig und zweckmässig gebaut ist. Auch innen fehlt unnötiger Schnickschnack: Man sieht die pink angestrichene Stahlkonstruktion, es gibt einen unauffälligen, aber belastbaren Industrieboden, und die Treppe in den ersten Stock ist ein einfaches Standardprodukt aus dem Gerüstbau. Von innen wird auch sichtbar, dass die Fensterformen den Ornamenten auf der Fassade nicht entsprechen, sondern dahinter einfach rechteckig bleiben. Diese Einfachheit ist von einer Robustheit, die vielleicht widerstandsfähiger ist als manche Bauten, deren Architekten eine vermeintliche «Wahrheit» zur Schau stellen, die aber sowohl ästhetisch als auch im Gebrauch sehr viel anfälliger auf den Zahn der Zeit reagieren.
Die Villa verfügt über eine Profiküche, einen grossen Veranstaltungssaal, einen kleinen Saal, in dem ein Restaurant betrieben wird, und über zwei schalldichte Räume, in denen ursprünglich ein kulturell orientierter Kinoveranstalter Filme zeigen wollte. Veränderte politische Konstellationen haben dazu geführt, dass diese Kooperation nicht zustande kam. Stattdessen werden die beiden Räume heute von Musikern als Proberäume genutzt. Dass die Villa Heerlijkheid flexibel genutzt werden kann, hat sich damit schon einmal gezeigt, aber auch das Spektrum der Veranstaltungen, die in den beiden Sälen stattfinden, ist breit gefächert und reicht von islamischen Hochzeiten bis zu Technokonzerten. Für den Fall, dass kommerzielle Veranstaltungen im Aussenraum stattfinden, lässt sich der Bereich um die Villa herum abtrennen. Er ist dann nur noch über eine Brücke zu erreichen, sodass der Zugang sich sehr einfach kontrollieren lässt. Dass kommerzielle Nutzungen nötig sind, um die Villa auf Dauer betreiben zu können, war allen Beteiligten klar und schmälert den Gewinn für Hoogvliet nicht. Im Gegenteil, die Villa ist so nicht von einem einzigen Geldgeber abhängig, kann ein vielfältigeres Angebot machen und ausserdem Veranstaltungen, die dem Stadtteil nützen, quersubventionieren.
Nachdem WiMBY! ihre Arbeiten in Hoogvliet 2007 abgeschlossen hat, ist es nun an den beteiligten Hoogvlieter Organisationen, den Park als einen Treffpunkt für alle Bewohner zu erhalten und auszubauen. Das ist vor allem eine Frage des Gleichgewichts unter den vielen verschiedenen Nutzergruppen. Bisher sieht es ganz so aus, als würde ihnen das auch ohne die Betreuung durch WiMBY! bestens gelingen.TEC21, Fr., 2009.05.08
08. Mai 2009 Maren Harnack, Sandra Schluchter