Editorial

In der Farbenlehre bezeichnet man Farben als «komplementär», die miteinander gemischt einen Grauton ergeben. Je nach Farbsystem variieren die «Gegensatzpaare»: Der Physiker Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz begründete das Modell Blau-Gelb, Rot-Cyan und Grün-Magenta, das bis heute im RGB- oder CMY-System Verwendung findet. Das-NCS-System basiert auf den vom Physiologen und Hirnforscher Karl Ewald Konstantin Hering postulierten Blau-Gelb- und Rot-Grün-Kontrasten. Und Johann Wolfgang von Goethe orientierte sich an Blau-Orange, Rot-Grün und Gelb-Violett, dem Johannes Itten im 20. Jahrhundert eine Renaissance bescherte. Er war es auch, der den von Hering im Rahmen seiner Gegenfarbentheorie beschriebenen Simultankontrast in seine Definition der Sieben Farbkontraste integrierte. Beim Simultankontrast handelt es sich um ein physiologisch begründetes Wahrnehmungsphänomen, bei dem das Auge zu einer gegebenen Farbe die komplementäre Ergänzung selbstständig erzeugt.

Komplementarität kennt man aber auch in der Physik, der Quantenmechanik und der Mathematik, in der Logik, der Kommunikationstheorie und der Sprachwissenschaft sowie in der Pädagogik, der Philosophie und der Psychologie. Carl Gustav Jung hat sie mit dem Begriff «Synchronizität» gefasst und die Reaktion von Menschen gemeint, physische Ereignisse als körperlich manifestierte Spiegelungen innerer seelischer Zustände zu empfinden – einem Traum etwa einen Sinnzusammenhang zu unterstellen mit einem darauf folgenden Erlebnis, ohne dass die beiden kausal etwas miteinander zu tun hätten.

In der Physik ist es der «Welle-Teilchen-Dualismus», wonach jedes quantenphysikalische Objekt stets sowohl Wellen- als auch Teilcheneigenschaften hat. Beobachten lassen sie sich aber nie gleichzeitig. In der Quantenmechanik sind Ort und Impuls komplementäre Messgrössen.

All diesen Phänomenen gemeinam ist, dass immer etwas Gegenwärtiges auf etwas Abwesendes verweist. Analog verhält es sich mit den Bauten, die in diesem Heft besprochen werden. Die für das Gropius-Meisterhaus in Dessau vorgeschlagenen abstrakten schwarzen Kuben würden wie ein Schatten auf den zerstörten Bau fallen («Schattenspiel oder Spiegelfechterei?»). Der Bauschmuck, der die Villa Rainhof heute ziert, wirkt wie ein Nachbild der einstigen Stuckaturen und Täferverkleidungen («Balanceakt»), und in der Mittelpunktbibliothek in Berlin-Köpenick («Vetraut und fremd») schwingt die Resonanz der ursprünglichen städtebaulichen Harmonie.
Rahel Hartmann Schweizer

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Neubau Therapiezentrum Altdorf

11 MAGAZIN
Planat: erste Etappe abgeschlossen

14 SCHATTENSPIEL ODER SPIEGELFECHTEREI?
Jürgen Tietz
In Dessau steht das Bauhaus-Erbe zur Diskussion: Dabei ist Walter Gropius’ Meisterhaus zum Spielball geworden in der Debatte um Rekonstruktion oder Integration in eine abstrakte Komposition.

17 BALANCEAKT
Rahel Hartmann
Schweizer Die 1867 errichtete Villa Rainhof in Zürich wurde renoviert und trägt nun auf der Rückseite komplementäre Züge zur Front, sodass sie zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert balanciert.

23 VERTRAUT UND FREMD
Christian Holl
Die Mittelpunktbibliothek in Berlin-Köpenick macht deutlich, dass ein grosses Potenzial darin liegt, das Heterogene zum architektonischen Thema zu machen.

30 SIA
Beitritte zum SIA im 1. Quartal 2009

31 PRODUKTE

37 IMPRESSUM

38 VERANSTALTUNGEN

Schattenspiel oder Spiegelfechterei?

Mit seinem hohen Satteldach und dem grauen Putz fügt sich das unscheinbare Einfamilienhaus in der Dessauer Ebertallee ins Bild einer harmlosen Vorstadtidylle. Nach seinen ehemaligen Besitzern «Haus Emmer» genannt, hätte das Gebäude kaum überregionale Bekanntheit erlangt, stünde es nicht auf dem Keller des einstigen Wohnhauses des Bauhausdirektors Walter Gropius. Dieses ist zum Spielball geworden in der Debatte um Rekonstruktion oder abstrakte Komposition schwarzer Kuben.

Nachdem das Bauhaus 1925 Weimar verlassen musste, fand es in Dessau seine neue Heimat. Hier entstanden neben dem Meisterhaus für Gropius 1925 / 26 auch drei Doppelhäuser für die legendären Bauhausmeister Lyonel Feininger, Lazlo Moholy-Nagy, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Georg Muche und Oskar Schlemmer. Es waren programmatische Bauten, ineinandergeschachtelte Kuben mit mächtigen Atelierfenstern und Terrassen, an denen genauso wie beim nahen Bauhaus selbst der Duktus der Bauhaus-Moderne zele briert wurde. Die Geschichte ging freilich nicht sonderlich sorgsam mit diesen Inkunabeln der Moderne um: So verschwand in den 1970er-Jahren die «Trinkhalle», die Eduard Ludwig nach einem Entwurf des letzten Bauhausdirektors Ludwig Mies van der Rohe 1932 als Auftakt zur Meisterhaussiedlung verwirklicht hatte, ebenso wie das angrenzende Meisterhaus von Gropius. Es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, genauso wie die Moholy-Nagy- Hälfte des benachbarten Meisterhauses. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Bauhaus längst aufgelöst worden, nachdem Mies van der Rohe in Berlin einen letzten vergeblichen Versuch zur Wiederbelebung unternommen hatte: Mit seiner offi ziellen Schliessung am 10. August 1933 war Mies dem Druck der Nationalsozialisten erlegen. Das Bauhaus war Geschichte. 1956 entstand in Dessau anstelle von Gropius’ Meisterhaus, von dem nur Garage und Keller – samt eingemauertem Weinregal – überdauerten, das schlichte Haus Emmer im traditionellen Stil. Schliesslich hatte das Neue Bauen nicht nur im Dritten Reich einen schweren Stand, sondern auch in der Frühzeit der DDR.

Damals bestimmte der sozialistische Bruder in Moskau die Richtung in Architekturfragen. Ab 1950 war in der DDR daher statt klassischer Moderne das Bauen im «nationalen Stil» gefordert. Kein Wunder also, dass auch die erhaltenen Meisterhäuser zu DDR-Zeiten kaum noch eine Ähnlichkeit mit ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild aufwiesen: Die skulpturale Wirkung der weissen Kuben war unter Anbauten, Kaminen, Sprossenfenstern und Rauputz so gründlich versteckt, dass kaum mehr zu erahnen war, dass es sich hier um die Vorreiter eines befreiten Wohnens inmitten einer grosszügigen Parklandschaft handelte. Eine Wende in der Wertschätzung der Meisterhäuser brachte erst die deutsche Wiedervereinigung 1990: Danach wurden die erhaltenen Meisterhäuser aufwendig restauriert und saniert. Dabei mangelte es jedoch am wünschenswerten denkmalpfl egerischen Fingerspitzengefühl, das ihnen aufgrund ihrer hohen künstlerischen und geschichtlichen Bedeutung hätte zukommen müssen. Doch im strukturschwachen Dessau erschien es offenbar besonders wichtig, vorrangig die optische Wirkung des Ensembles Meisterhäuser zurückzugewinnen, um mit diesem Pfund touristisch wuchern zu können.

Gropius' Rückkehr

Nachdem es der «Stiftung Meisterhäuser» nach der Jahrtausendwende gelang, das Haus Emmer aus Privatbesitz zu erwerben, wurde auch überregional lange und intensiv über die Zukunft des Ensembles diskutiert. Drei grundsätzliche Möglichkeiten waren dabei denkbar: das Satteldachhaus als beredtes Zeitzeugnis für die Rezeption der Moderne an seinem Ursprungsort zu belassen, ein neues, zeitgenössisches Eingangsgebäude zur Siedlung zu errichten oder das Gropius-Direktorenwohnhaus weitgehend zu rekonstruieren. Im Dezember 2007 wurde ein als «Städtebauliche Reparatur» ausgeschriebener internationaler Wettbewerb für die zukünftige Gestaltung des Entrées der Meisterhaussiedlung ausgelobt. Hier wird dringend eine Anlaufstelle für die Besucher des Ensembles benötigt, samt Buchladen, Sonderausstellungsraum und Vortragssaal. Dabei handelt es sich um ein Raumprogramm, das – auch aus konservatorischen Gründen – in keinem der anderen Meisterhäuser Platz fi ndet. Doch das Wettbewerbsergebnis war in den Augen der Preisrichter offenbar nicht befriedigend, denn anstelle eines ersten Preises vergab man lediglich zwei zweite Preise. Mit der weiteren Ausarbeitung wurde daraufhin das Zürcher Büro Nijo von Nina Lippuner und Johannes Wick beauftragt. Ihr Entwurf sah eine abstrakte Komposition schwarzer Kuben anstelle der Häuser Moholy-Nagy und Gropius vor, deren Abmessungen sich zwar am verlorenen historischen Bestand orientieren, sich ansonsten aber wie die Schatten der verlorenen Originale ausnahmen.

Mit Argwohn hat der «International Council on Monuments and Sites» (Icomos), der die Unesco in Welterbefragen offi ziell berät, auf die Welterbestätte Meisterhäuser geblickt. Noch ehe der Wettbewerb entschieden war, kam das Ensemble auf die Liste der gefährdeten Welterbestätten: So plädierte der damalige Icomos-Weltpräsident Michael Petzet im Jahresreport 2006/07 dafür, den aktuellen Zustand des ehemaligen Direktorenwohnhauses beizubehalten, während er für eine Rekonstruktion der Trinkhalle und der fehlenden Hälfte des Hauses Moholy-Nagy eintrat. Intern allerdings machte sich Icomos dagegen für eine deutlich weiter gehende Rekonstruktion stark. So wurde betont, dass es wünschenswert wäre, auch das Gropius-Wohnhaus 1:1 zu rekonstruieren.

Inzwischen sind Nijos schwarze Kuben mit ihrer geplanten Fiberglasoberfl äche vom Tisch, und die Architekten verweigern mit Hinweis auf den Bauherrn die Auskunft über den aktuellen ProjektstandAnstelle des hintergründigen Schatten-Schwarz wird sich der Siedlungsauftakt nämlich künftig im klassisch modernen Weiss des Bauhauses präsentieren – wie seine Nachbarbauten. Doch man geht in Dessau noch einen Schritt weiter. So bestätigt Giulio Marano, der von Icomos mit der Beobachtung der Dessauer Welterbestätte betraut ist, dass die Trinkhalle, der fehlende Hausteil Moholy-Nagy und das Direktorenwohnhaus in ihren Abmessungen rekonstruiert werden sollen. Etwas verschämt wirkt es, wenn der Dessauer Kulturamtsleiter Gerhard Lamprecht, der als Geschäftsführer auch für die Stiftung Meisterhäuser zuständig ist, die Rekonstruktion von Atelier- und Treppenfenstern sowie der Terrassen und Balkone als das «Einfügen von Zitaten» umschreibt. Zumal – so Giulio Marano – die ursprüngliche Verteilung der Fenster in allen Wandfl ächen des Gebäudes angelegt werden soll, jedoch ohne sie jetzt zu öffnen. So solle künftigen Generationen die Möglichkeit gegeben werden, das Erscheinungsbild des Bauwerks von 1925 / 26 (vollständig) zu rekonstruieren!

Verlust der Zeitspuren

Im Inneren der Doppelhaushälfte Moholy-Nagy soll der Grundriss dagegen der neuen Nutzung angepasst werden. Schliesslich werden hier künftig keine Bauhausmeister mehr wohnen, sondern Ausstellungen zu sehen sein. Aus diesem Grund erhält der Bau anstelle eines zweiten Vollgeschosses eine Galerie. Beim Direktorenhaus von Gropius bleibt das erbauungszeitliche Kellergeschoss erhalten. Aus statischen Gründen könnten darüber laut Lamprecht keine zwei Vollgeschosse errichtet werden, wie zunächst gewünscht, sondern lediglich ein grosser Raum. Hier soll künftig über Gropius und die Meisterhaussiedlung informiert werden. Auch Veranstaltungen sollen hier stattfi nden, um so die «originalen» Meisterhäuser zu entlasten. Rund 2.6 Millionen Euro sind für die Rekonstruktion eingeplant, die im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 2010 in Sachsen-Anhalt erfolgt. Bis dahin sollen die Bauten fertiggestellt sein. Die meisten Besucher der Welterbestätte wird es kaum stören, dass sie mit dem idealtypischen Bild der Meisterhaussiedlung konfrontiert werden. Der schwierige Umgang mit dem Erbe der Moderne in den beiden deutschen Diktaturen lässt sich künftig nur noch über Fotos nachvollziehen, die meisten Zeitspuren sind in der Meisterhaussiedlung bis dahin dank dem Rekonstruktionslifting getilgt.

TEC21, Fr., 2009.05.01

01. Mai 2009 Jürgen Tietz

Balanceakt

Äusserlich intakt war die 1867 errichtete Villa Rainhof in Zürich Mitte des 20. Jahrhunderts ihres baulichen Schmucks fast gänzlich beraubt worden. Nachdem «das Haus bis auf die Knochen geschält wurde und während neun Monaten eine klaff ende Wunde war», trägt es nun auf der Rückseite komplementäre Züge zur Front, sodass es zwischen 19. und 21. Jahrhundert balanciert.

Die 1867 erbaute Villa Rainhof liest sich als Teil jenes im Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte von kommunaler Bedeutung aufgeführten Ensembles, zu dem auch die ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Villen Patumbah und Hagmann gehören. Dem Kanton 1977 vermacht, war das Legat an die Bedingung geknüpft, dass das Haus der Bildung zugänglich gemacht würde. 1982 löste der Staat diese ein; zunächst mit der Belegung durch die Universität Zürich, dann bis 2005 mit der Einquartierung des ETHInstituts für Geobotanik, um es nun schliesslich defi nitiv den Instituten für systematische Botanik und für Pfl anzenbiologie zur Verfügung zu stellen. Der Regierungsrat sprach einen Kredit von 5.5 Millionen Franken, um die an der Zollikerstrasse 137 gelegene Liegenschaft instand zu setzen und für die Erfordernisse der Bildungs institute aufzurüsten, das heisst, die Sammlung des an der Zollikerstrasse 107 untergebrachten Instituts für Systematische Botanik ins Erdgeschoss der Liegenschaft «Rainhof» zu verlegen und in den beiden Obergeschossen Büros und Seminarräume des Instituts für Pfl anzenbiologie einzurichten.

Steigt man von der Zollikerstrasse den Zugangsweg hinauf, erhascht man zwischen dem reichen Baumbestand des 1880 von Theodor Froebel angelegten Landschaftsgartens[1] hindurch einen Blick auf die zur Seeseite hin orientierte Fassade der Villa. Von hier aus würde man kaum vermuten, dass die intakte Front des im Stil der Neorenaissance erbauten Hauses ein Inneres birgt, dem im Laufe der Jahrzehnte arg zugesetzt wurde. Die gravierendsten Eingriffe hatte die Villa um 1943 und 1951 zu ertragen, als sie in ein Zweifamilienhaus umgebaut wurde. Mit Ausnahme der Verlegung des ursprünglich auf der südöstlichen Seite situierten repräsentativen Eingangs auf die Rückseite spielten sich die Eingriffe hauptsächlich im Innern ab. Die Treppe wurde ersetzt, die dreiachsige Grundrissdisposition durch die Unterteilung von Räumen verunklärt, die Innenausstattung in Mitleidenschaft gezogen, indem der bauliche Schmuck – Stuckdecken, Holztäfer, Tapeten – entfernt und durch einen Zementputz ersetzt wurde, unter dessen Panzer die Gebäudehülle nicht mehr atmen konnte. Zumindest teilweise erhalten geblieben waren immerhin die Parkettböden – in verschiedenen Hölzern (Eiche, Tanne, Buche, Nussbaum) und schmuckvollen Verbänden (Würfel-, Stern-, Fischgrätmuster) verlegt.

Die Gesamterneuerung des Gebäudes stand unter zuweilen widersprüchlichen Prämissen: Die vorhandene Bausubstanz hatte denkmalpfl egerisch renoviert, den heute geltenden baulichen Vorschriften und Normen angepasst und auf die Bedürfnisse der Institute – vor allem auch ihre hohen Ansprüche an die Technologie – adaptiert zu werden. Martin und Elisabeth Boesch, die mit ihrem Projekt eine Konkurrenz von fünf eingeladenen Büros gewonnen hatten, haben sich auf sehr differenzierte Weise Zugang zu der Villa verschafft. Ausgangspunkt war ihr Grundsatz, sich nicht auf den Kontrast zwischen Alt und Neu zu kaprizieren. Ihm entspricht sowohl der Umgang mit dem Bestand als auch die Haltung, mit der sie das Haus um einen – in der Ausschreibung nicht geforderten – Anbau ergänzten.

Dieser Anbau gibt dem Haus das zweite Gesicht, das ihm immer gefehlt hat. Denn die Villa thront gleichsam auf einem natürlichen Grat, der nach Südwesten zum Zürichsee und nachNordosten, Richtung Zürichberg, zur Senke hin abfällt, in welche die Kuppeln der Gewächshäuser des Botanischen Gartens eingebettet sind. Diese «Rückseite« aber hatte der unbekannte Urheber der Villa der Vernachlässigung anheimgestellt. Daran änderte sich auch nichts, als bei den Umbauten Mitte des letzten Jahrhunderts der Eingang von der Südost- auf die Nordostseite, den einstigen Dienstboteneingang, verlegt und eine neue Treppe eingebaut wurde. Der neue, kubische Anbau wertet diese Fassade nun nicht nur auf, sondern gibt der Frontseite ein «Gegengewicht», das den auf dem topografi schen Sattel balancierenden Charakter des Hauses wahrnehmbar macht.

Der zweigeschossige Portikus ist in je neun vorfabrizierte Betonstützen aufgelöst. Gedämpft wird die repräsentative Geste durch verschiedene Massnahmen: Die Oberfl äche des Flachglases nimmt dem Baustoff die Härte, das Gussglas von Brüstungen und Schürzen defi niert den menschlichen Massstab, die in die Betonelemente eingegossenen Lindenholzbretter markieren nur zarte Fugen, und dem Beton wurde mittels Ansäuerung eine optisch weiche Anmutung verliehen. Beim Ansäuern – eine Alternative zum Sandstrahlen oder Auswaschen – wird das Betonelement mit Säure bestrichen, um die Zementhaut von der Oberfl äche abzutragen. Im Vergleich etwa zum Sandstrahlen, das eine relativ raue Oberfl äche hinterlässt, ist das Ansäuern dezenter im Abtrag und erzeugt eine optisch und haptisch weich wirkende Oberfläche.

Um das Material noch stärker dem Bestand anzuverwandeln, wurde der Beton ausserdem leicht gelblich getönt und als Gesteinskörnung mit Jurakies versetzt, dessen Färbung ebenfalls durch das Ansäuern zusätzlich hervorgeholt wurde. Als Reverenz sowohl an den Ort als auch an die bauhistorische Epoche mit ihrem ursprünglichen Bauschmuck zieren neun als Reliefs ausgebildete Eidechsen die Stützen. Das Erdgeschoss des Anbaus ist «technisch» ein Windfang, inhaltlich aber soll es als eine Art Wintergarten mit Sammlungsstücken bespielt werden. Entsprechend seinem Charakterals «Interface» zwischen innen und aussen ist der Boden mit beigen, sechseckigen Steinzeugplatten belegt. Das Obergeschoss ist funktional nicht eindeutig defi niert: Es kann als Sitzungszimmer, Pausenraum oder Seminarraum genutzt werden, ist aber immer ein «Baumzimmer», eine Art Baumhütte.

Im Entrée dominieren die beiden an Bienenkörbe erinnernden Zierköpfe: überdimensioniert nachgedrechselte Varianten der den Antrittspfosten des Handlaufs des Treppengeländers zierenden Exemplare. Den Architekten ist es gelungen, die skulpturale Qualität der restaurierten Treppe mit ihrem zeittypischen Geländer, die sich fast schwebend in die Höhe schraubt, zu «ent-decken» – trotz den auch optisch robusten Gläsern und Profi len des Brandabschnitts. Dessen Situierung zwischen Treppenhaus und Raumschicht (einen zweiten gib es zwischen Treppenhaus und Anbau) schützte umgekehrt die bestehenden Türen und ihre dekorativen Gussglasausfachungen vor Eingriffen. Anstelle eines Lifts installierten Architekt und Architektin eine Hebevorrichtung, die das Haus bis zum 1. OG behindertengerecht erschliesst, und spielten damit die Räume frei. Diese mussten der technischen Installationen wegen ohnehin schon «grenzwertig» (Martin Boesch) befrachtet werden.

Zwischen Verfestigen und Verflüchtigen

Es war denn auch ein Balanceakt, den Instituten Genüge zu tun und dem Haus gerecht zu werden. Um den Bau typologisch zu bereinigen und ihn im Wesentlichen auf die Dreiachsigkeit zurückzuführen, musste er «bis auf die Knochen geschält» (Martin Boesch) werden. Die das Mauerwerk tragende Holzständerkonstruktion bedurfte stellenweise einer statischen Ertüchtigung. Dies zum einen wegen höherer Anforderungen für öffentliche Gebäude – so mussten die Decken über den grossen Kurs- bzw. Seminarräumen lokal mit Stahlträgern verstärkt werden –, zum andern wegen bautechnischer Altlasten. Das Ersetzen der ursprünglichen Treppe von 1867 durch die heutige Treppe in den 1940er-Jahren wirkte sich nachteilig auf das Gebäudetragwerk aus, sodass der Deckenrand der Hallen zum Treppenhaus hin mit Stahlträgern und Stützen verstärkt werden musste.Neben der Wiederherstellung der typologischen Lesbarkeit war den Architekten auch daran gelegen, sie atmosphärisch wieder aufzuladen. Sie sannen darauf, ihr die architektonische Dichte – Parkett, Stuck, Täfer und Tapeten –, deren das Haus durch die Umbauten verlustig ging, wieder zu verleihen. Das Prunkstück des Hauses, einen antiken Kachelofen, übergaben die Architekten der Kantonalen Denkmalpfl ege und erhielten im Gegenzug aus deren Bestand Parkettböden, um die an manchen Stellen fehlenden bzw. bei Kücheneinbauten ersetzten Stücke zu ergänzen. Die Brüche sind zwar sichtbar, aber die Muster stimmen. Das Brusttäfer bildeten die Architekten in mit hellgrauer Ölfarbe gestrichenen MDF-Platten nach. Um den Genius Loci einzuhauchen, frästen sie stilisierte Blattmotive verschiedener Pfl anzen ein. Sie entnahmen sie den Herba rien, die Frank Klötzli, 1976–1999 Professor für Angewandte Pfl anzensoziologie und Pfl anzenökologie an der ETH Zürich, in den 1970er- und 1980er-Jahren angelegt hatte. Von den acht gewählten Pfl anzen, die Boesch Architekten aus den Sammlungen aus Tansania, Kenia und Hawaii wählten, lassen sich aufgrund der originalen Beschriftung Orchideenbaum, Wolfsmilch, Zypergras, Liebesgras und eine Ahornart identifi zieren.

Simultankontrast

Gewissermassen als Analogien zur einstigen Stuckatur fi gurieren die Profi lierung des oberen Wandabschlusses und die mittels Schablonen in Glanzlack an die Decke «projizierten» Blätter des im Garten stehenden Tulpenbaums. Je nach Lichtverhältnissen changieren die Blätter zwischen positiv und negativ, mal sind sie heller als die Decke, mal dunkler. Und schliesslich sind die Räume mit einer Andeutung von Farbe angehaucht. Boesch Architekten adaptierten vier in der Klassifi kation der Blütenfarben verzeichnete Werte, reduzierten sie auf eine gerade noch wahrnehmbare Tönung in Zitronengelb, Hellblau, Lila und Mint. Die Anmutung der Zeitperiode, in der die Villa umgebaut wurde, verströmt die Möblierung: Mit Ausnahme der Büroräume konnte das ganze Haus aus dem Fundus im «Estrich» der Universität mit 110 Exemplaren des Mehrzweckstuhls SE68 (1950) von Egon Eiermann ausgestattet werden. In den beiden Hallen sind je zwei der von Häfeli, Moser, Steiger für das Kongresshaus 1939 entworfenen und von der Möbelfabrik Horgen-Glarus wieder aufgelegten «Holzstühle mit Armlehne» um ein Salontischchen platziert, das aus jeweils zwei Ulmer Hockern (1954) von Max Bill besteht.

Elisabeth und Martin Boesch ist es gelungen, die Villa am Ort und in der Geschichte zu verankern, indem sie sie in der Schwebe liessen. Sie haben sie zwischen Zürichsee und Zürichberg verortet, indem sie ihr ein zweites Gesicht gaben. Sie haben sie in die Jahre 1867, 1943–1951, 2009 datiert – nicht indem sie das Dekor rekonstruiert, sondern indem sie die vorhandenen Zeitschichten freigelegt und die fehlenden in Anlehnung an jene – gleichsam komplementär – ergänzt haben.

Sie haben das Neue dem Alten nicht kontrastierend entgegengesetzt, sondern es ihm anverwandelt. Sie haben mit dem Bauschmuck architektonisch verdichtet, atmosphärisch aber verfl üchtigt. Farben und Formen geben nicht den Ton an, sie sind die Resonanz. Oder anders formuliert: Das Dekor, das die Architektin und der Architekt, die Künstlerin Mirca Maffi und der Künstler Moses Mbah Godlove schufen, wirkt wie ein Simultankontrast: Bei der Betrachtung schwingt der ursprüngliche Schmuck mit.

TEC21, Fr., 2009.05.01

Anmerkung
[1] Vorläufig beschränkte sich der Projektperimeter aus finanziellen Gründen auf das Haus und die Instandsetzung der durch Baumassnahmen (Kanalisation, Werkleitungen, Aushub) betroffenen Bereiche, insbesondere auf den Zufahrtsweg, die unter dem Haus gelegene Vorfahrt und den Vorplatz beim neuen Hauseingang. Christiane Sörensen verfasste im Rahmen des Villa-Rainhof-Projekts für die Parzelle Zollikerstrasse 137 eine Konzeptstudie, unter Berücksichtigung des Architekturgartens der Villa Hagmann von Otto Froebel und der Gebrüder Mertens von 1898 sowie des Landschaft sgartens der Villa Patumbah von Evariste Mertens (1880). Kanton und GrünStadt Zürich fassen eine weiterführende Projektierung der Umgebung ins Auge

01. Mai 2009 Rahel Hartmann Schweizer

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