Editorial

Die vorliegende Ausgabe 216 zum Thema »Neuer Städtebau« ist das letzte Heft, das in der Reihe AW Architektur Wettbewerbe erscheint. Die Entscheidung, den Titel so kurz vor seinem 70-jährigen Bestehen einzustellen, ist dem Herausgeber und dem Verlag zugegebenermaßen nicht leicht gefallen, zeichnete sich aber schon seit längerer Zeit ab. »Architektur Wettbewerbe« wurde 1939 als »Schriftenreihe für richtungweisendes Bauen« gegründet. Mehrere Jahrzehnte lang war die aw ein Unikat, da sie die einzige in »zwangloser Reihenfolge» erscheinende Fachzeitschrift war, die in jeder Ausgabe zu einer bestimmten Bautypologie ausführlich über aktuelle Wettbewerbsentscheidungen berichtete. Im Laufe der Zeit änderte sich nicht nur die Aufmachung, sondern auch das Konzept der AW: Die jeweilige Bautypologie wurde – neben den Wettbewerben – durch realisierte Beispiele und im Bau befindliche Projekte noch umfangreicher dokumentiert. Vor allem für junge Architekten und für Studenten wurde die Zeitschrift so zu einem wichtigen Informationsmittel. Heute jedoch, im Zeitalter des Internets, werden Informationen zu Wettbewerbsentscheidungen mehr und mehr in elektronischer Form abgerufen. Und Bautypologien selbst lassen sich im »engen Korsett« einer Zeitschrift häufig nicht so anschaulich und umfangreich darstellen, wie wir es uns eigentlich gewünscht hätten. Die AW als Zeitschrift wird es künftig also nicht mehr geben – dafür wird sich der Karl Krämer Verlag dem ein oder anderen interessanten Thema in Buchform annehmen. Wir freuen uns, wenn Sie uns als Leser erhalten bleiben.
Der Herausgeber und die Redaktion

Inhalt

Zum Thema
Neuer Städtebau – Urbane Kontingenz als Ziel | Volker Kleinekort und Björn Severin

Bauten
Donnybrook-Areal in London | Peter Barber Architects
Wohnanlage in Bilbao | Luis Díaz-Mauriño, Eduardo Belzunce & Juan García Millán
Stadtteilzentrum für das Olympische Dorf in Innsbruck | Froetscher Lichtenwagner
Quartier »De Stadstuinen« in Amsterdam | DP6 architectuurstudio bv
Städtisches Quartier Dreikönigshof in Mainz | Atelier 5 Architekten und Planer AG
Stadtcarré in Bad Rappenau | ASIR Architekten
Siedlung Ruggächern in Zürich | Baumschlager & Eberle
»Brauquartier« in Hamburg – Baufeld 3 | Steidle Architekten/döll – atelier voor bouwkunst/coido architects

Hochschularbeit
Bahnhofzone Brunnen | Thies Brunken

Projekte
Stadtquartier »Tirana Rocks« in Tirana | MVRDV
Wohnquartier in Zürich-Wipkingen | pool Architekten
»Die Stadt für jedes Lebensalter« in Kopenhagen | 3XN
Wohntürme »Nordhavnen Residences« in Kopenhagen | 3XN
Neues Stadtquartier in Herdecke | döll – atelier voor bouwkunst

Wettbewerbe
LindeQuartier Wiesbaden – Wohnen am Floßhafen
Stadtquartier Leopoldstraße 152-194 in München
Zukunft Killesberg – Forum K, Stuttgart
Quartier Zschokkestraße/Westendstraße in München
Alter Stadthafen Oldenburg
Konversion der General-von-Stein-Kaserne in Freising

Neuer Städtebau

(SUBTITLE) Urbane Kontingenz als Ziel

»Neuer Städtebau« ließe sich als Forderung verstehen, als Wunsch nach neuen Ansätzen. Aber was kommt nach der funktionsgetrennten Stadt und der Wiederentdeckung des Ideals der europäischen Stadt? Die auf der Ebene wissenschaftlicher Forschung durchgeführten Perspektiven Zwischenstadt und Shrinking Cities sind bestenfalls Analysen, haben aber von der wesentlichen Frage nur abgelenkt: In welchem Sinne sollen wir Stadt bauen?

Die heutigen Voraussetzungen auf dem Feld der Stadtplanung erfordern ein Umdenken in der Gestalt der Entwicklungsperspektive. Die bisher zumeist auf Leitbildern basierenden Entwürfe erfahren große Probleme in der Prozessualität ihrer Umsetzung. Mehr denn je gilt es die Organizität dessen anzuerkennen, was man als Stadt zu bezeichnen gewohnt ist. Die Forderung schließt an den Begriff der Stadtlandschaft an, ohne sich in dessen Bildhaftigkeit zu verfangen. Dabei sind es gerade die realen Bilder der Städte, die uns die Begrenztheit von Planung und damit die Begrenztheit des Menschen überhaupt vor Augen führen. Das Erreichen einer Grenze ist eine schwierige wie wertvolle Erfahrung, schließlich verdeutlicht die Grenze sowohl die kulturelle Relevanz, als auch das kulturelle Potential von Planung. Das größte Problem, das sich den Beteiligten in dieser Situation stellt, liegt in der Antizipation, die unweigerlich mit der Planung verbunden ist. Jeder Entwurf hat ein Verfallsdatum, wobei sich gute Entwürfe durch ein möglichst geringes Maß an Antizipation und damit durch eine längere Haltbarkeit auszeichnen.

Städtebauliche Entwürfe werden wesentlich durch wirtschaftliche und politische Faktoren beeinflusst. Städtebau ist im Gegensatz zur Architektur grundsätzlich politisch. Das Recht auf Freiheit nimmt in den westlichen Demokratien einen vergleichsweise hohen Stellenwert ein. So liegt das politisch Verhandelbare stets nahe am kleinsten gemeinsamen Nenner der zur Entscheidung berechtigten Öffentlichkeit. Dieser Schwachpunkt im System Demokratie ist letztlich der Grund für den Erfolg immer größerer geschlossener Systeme, wie beispielhaft der Gated Communities und Shopping Malls, die eigentlich nichts anderes tun, als die aus dem Freiheitsanspruch des Einzelnen resultierenden Störfaktoren zu minimieren. Vom Erfolg dieser Systeme zu lernen, ohne deren fatale Entwicklung fortzusetzen, ist einer der Ansprüche, die hier formuliert werden sollen.

Die meisten städtebaulichen Konzepte der Vergangenheit zerbrachen an dem in der Planung ignorierten Faktor Zeit. Die stetig wechselnden Parameter von Stadt führen dazu, dass selbst neu entwickelte Bildversprechen nicht eingelöst werden können. Begreift man das Geflecht heutiger Stadtagglomerationen ein Stück mehr als Organismus, geraten Eingriffe zu Implantationen. Städtebau bezeichnet zwar eine durch Verfasstheit bestimmte Form von Stadt, doch handelt es sich in der Regel um überschaubare Einheiten, die bereits bestehende Siedlungsgefüge ergänzen. Städtebau entwerfen heißt somit, den Ausschnitt eines größeren Ganzen zu entwerfen, das selbst nicht mehr die Stadt, sondern ein sich stets entwickelndes polyzentrisches Netz von Siedlungsstrukturen ist. Eine wesentliche Qualität städtebaulicher Entwürfe misst sich in ihrem Verhältnis zu diesem größeren Ganzen, nicht nur als baulicher, sondern auch als gesellschaftlicher, sozialer, und ökonomischer Kontext. Die zwei diametral entgegen gesetzten Möglichkeiten der Stellungnahme dazu lauten Autonomie oder Kontextualität. Das Erste bedeutet Isolation, das Zweite Vernetzung. Als Extreme sind sie ebenso unbrauchbar wie uninteressant. Gute städtebauliche Entwürfe sind wie gute Implantate, formal und infrastrukturell gleichzeitig autonom und vernetzt, möglichst natürlich – künstlich. Allgemeine Wachstums- und Schrumpfungsprozesse spielen ebenso eine Rolle wie die aktuellen Anforderungen der Immobilienwirtschaft und sollten bei der Planung berücksichtigt werden. Die vierte Dimension der Stadt muss bei ihrer Konstitution mit entworfen werden.
So ist für den neuen Städtebau eine strategische Methode zu entwickeln, die den immer und nie fertigen Zustand der Stadt nicht nur akzeptiert, sondern voraussetzt. Es geht darum, Möglichkeitsräume zu schaffen, die sich einer endgültigen Form verweigern. Die Wiederentdeckung des Ideals der europäischen Stadt ergoss sich in postmodernen Bilderwelten. Rem Koolhaas kritisierte sie als eine »Welt ohne Urbanismus (...) nur noch Architektur«. Dem lässt sich die »unfertige Stadt« gegenüber stellen. Eine Stadt die nicht das eine Bild annimmt, die konträr dazu Brüche und Ungereimtheiten nicht nur akzeptiert sondern gerade fordert und mit entwirft - die räumliche »Gelegenheit« steht vor der ästhetischen Präfabrikation.

Zum besseren Verständnis könnte eine Analogie zum Begriff der »konglomeraten Ordnung« von Alison und Peter Smithson helfen. Sie schrieben der konglomeraten Ordnung die Eigenschaft zu, sich schwerlich im Gedächtnis zu verankern, »nur wenn man wirklich dort ist, dann scheint alles ganz einfach«. Durch diese Komplexität bildet sich eine räumliche Präsenz von Stadt, die über die Präsenz des Objektes hinausgeht. So gesehen sollte es auch ein Mittel des Städtebaus sein, Komplexität, Differenz und Heterogenität zu betonen, Brüche und Zweckentfremdung zu ermöglichen. Ausgehend von diesem Verständnis sehen wir städtebauliche Projekte als eine Mischung aus Prozess und Produkt, aus Verfahren und Gestalt. Der Willen zur Form und der Hang zum Verfahren, um die Tendenzen der beiden Professionen Architektur und Stadtplanung zu nennen, gilt es immer wieder neu zu verhandeln. Dies aber nicht nur auf der strukturellen Ebene aller Handlungsbeteiligter, der Raum selbst muss dieser Justierung folgen. Das Ziel ist eine urbane Kontingenz - eine Sichtweise, in der nicht Architektur und Städtebau zwei Bereiche sind, Objekt und Kontext bedingen sich hier vielmehr wechselseitig.

Wenn eingangs der Wunsch nach dem Mitentwerfen der vierten Dimension erwähnt wird, so will das nichts weniger, als mit der beschriebenen Wechselseitigkeit alle Eventualitäten aufzunehmen. Der Raum ist eine Form des Nebeneinanders, die Zeit dagegen eine Form des Nacheinanders. Diese Widersprüchlichkeit ist zu vereinen in einem »StadtRaum« der Gleichzeitigkeiten. Die geforderte vierte Dimension, also die Zeit als strategische Komponente im Entwurf, meint aber gerade nicht die gewohnte Sichtweise auf ökonomisch technisch bedingte Baufolgen und Baustufen. Vielmehr ist es von entscheidender Bedeutung, einen flexiblen Plan zu denken und zu entwerfen – flexibel in seinen unterschiedlich möglichen Entwicklungsstufen und seinem »Endzustand«. Bei der Entwicklung eines städtischen Areals können sich die Parameter im Laufe der Phasen ändern, hier darf der Planungsstand nicht nur mehr reagieren, sondern die Planung sollte so strategisch konzipiert sein, dass diese Eventualitäten bereits als Szenarien implementiert sind. Das Ganze ist wie die beweglich flexible Masse eines Gummibandes zu sehen, welches zwar in Material und Struktur kontinuierlich ist, dessen Form aber auf unterschiedlichste Einflüsse von innen und außen reagieren kann und das in jeder erdenklichen Form einen Zusammenschluss leistet.

Aus der geschilderten Sichtweise kommen wir wieder zu dem eingangs erwähnten Aspekt der Voraussetzungen. Bestand und Programm stehen in einer unmittelbaren Wechselbeziehung. Wir unterscheiden uns grundlegend von dem »Neuen« in der Moderne, denn dieses Neue ist nicht mehr anzutreffen. Da es den geschichtslosen Ort in unserer Kulturlandschaft nicht gibt, ist Bauen heute immer Umbauen. So wird die Formulierung der Aufgabenstellung ein zunehmend bedeutender Teil der Arbeit von Architekten sein. Es gilt bereits die Nutzungs- und Programmdefinition eines Ortes als Teil des Entwurfes strategisch mitzugestalten.

Architektur + Wettbewerbe, Fr., 2008.12.19

19. Dezember 2008 Volker Kleinekort, Björn Severin

Städtisches Quartier Dreikönigshof in Mainz

Das rund 5250 Quadratmeter große Grundstück befindet sich auf einer Hochterrasse direkt über der Mainzer Innenstadt: Ein Stadtviertel in privilegierter Lage am Kästrich, mit Gebäudefragmenten der ehemaligen Brauerei Schöfferhof-Dreikönigshof aus dem Jahr 1889 bebaut. Durch die Anordnung von Hauptriegel, Quergebäuden und Blockrandschließung bildet das Quartier eine differenzierte Hofstruktur. Die Begrenzungen und Proportionen der unterschiedlich gestalteten Höfe orientieren sich am Kreuzgang der benachbarten Kirche St. Stephan. Sie bilden im dichten, städtischen Quartier kleine Oasen der Ruhe. Die flexible Struktur bietet insgesamt 94 Senioren-, Geschoss- und Maisonettewohnungen an, die sich durch ihre Vielfältigkeit auszeichnen. Ergänzt wird das Wohnquartier in bescheidenem Maß mit Büro- und Gewerberäumen. Die hohe Dichte unterstreicht die Zusammengehörigkeit der geplanten Neubauten im ganzen Quartier, ohne dass dabei die Qualität der einzelnen Wohnungen zu kurz kommt.

Die Höfe sind unterschiedlich gestaltete Gärten, die ähnlich einem Klosterhof von gedeckten Arkadengängen umschlossen werden. Sie werden also nicht direkt betreten, sondern können beim Spazieren innerhalb der Anlage wahrgenommen werden. Sie strahlen Ruhe aus ohne sich aufzudrängen und akzentuieren den Wechsel der Jahreszeiten.

Eine große Anzahl der Wohnungen sind durchgehend von Ost nach West beziehungsweise Nord nach Süd und bieten somit abwechslungsreiche Ausblicke in unterschiedlich gestaltete Höfe. Der Kontrast des schiefergrauen Betons der Gebäude zum Grün der Höfe verstärkt die Nähe der Natur, die ein wesentlicher Teil der Wohnqualität innerhalb der städtischen Anlage ausmacht. Die Lage der meisten Wohnungen – Maisonette oder Geschosswohnungen – ist mit wenigen Ausnahmen auf die Höfe oder die Quartierstraßen, bestenfalls auf den neu gestalteten Martinsplatz orientiert. Der Bezug zum dichten, städtischen Quartier ist einerseits gegeben, andererseits bieten gemeinschaftlich genutzte Dachterrassen allen Bewohnern zusätzlichen Erholungsraum mit Weitsicht bis zum Taunus.

Architektur + Wettbewerbe, Fr., 2008.12.19

19. Dezember 2008

Stadtcarré in Bad Rappenau

Lange Zeit war Bad Rappenau ausschließlich von der Heilkur geprägt, die seit dem 19.Jahrhundert mit der hier gewonnen Sole erfolgt. Zahlreiche über die Landesgrenzen hinaus bekannten Bäder und Sanatorien und zugehörige Kurparks finden sich in der Stadt. Im Zuge der Neuausrichtung des Kurbetriebes in Richtung Wellness und Rehabilitation nach Krankenhausaufenthalten wurde Anfang der 1990er Jahre die Innenstadt saniert, um den Ansprüchen der neuen Gäste gerecht zu werden. Im Rahmen dieser Umstrukturierung wurden mehrere städtebauliche Wettbewerbe ausgelobt – aus einem davon ging das neue Rauhaus mit Rathausplatz hervor. Der südliche Teil des Zentrums wurde zwar mehrmals überplant; die Entwürfe kamen aber nie zur Ausführung. Dieser Bereich wurde bislang als Parkplatz genutzt, mit entsprechenden Nachteilen für das Stadtbild und die Wegeverbindungen. Impuls für die erneute Untersuchung einer möglichen Bebauung an dieser städtebaulich wichtigen Stelle war die Vergabe der Landesgartenschau 2008, auch verbunden mit einem neuen Anschluss an das Regionalbahnnetz. Die wesentlichste städtebauliche Qualität wurde deshalb auf die Verbindung zwischen Bahnhof und Innenstadt gelegt. Dies gelingt durch eine öffentliche Passage, die das Gebäude in zwei Bauteile trennt und auf die Stadtkirche als wichtigsten Bezugspunkt in der Stadt orientiert ist.
Am Eingang der Passage zum Bahnhof wird ein Vorplatz gebildet, der sich zum Bahnhof orientiert und durch ein Café belebt wird. Eine große Tiefgarage und notwendige Nebenräume befinden sich im gemeinsamen »Sockel« unter den Läden. Neben den Geschäften im Erdgeschoss, die das Angebot in der Innenstadt ergänzen, sind darüber im westlichen Gebäudeteil 15 Zwei- bis Fünfzimmerwohnungen entstanden, die sich zum Stadtpark orientieren und für Familien konzipiert sind. 36 betreute Zwei- und Dreizimmerwohnungen befinden sich im größeren Gebäudeteil und gruppieren sich auf drei Geschossen um eine gemeinsame grüne Mitte. Vorgelagerte Laubengänge dienen der Erschließung und gleichzeitig als Treffpunkt für die Bewohner. Der Standort in der Mitte der Stadt bietet den älteren Menschen, die häufig aus einem größeren Eigenheim am Stadtrand in das »Stadtcarré« umgezogen sind, eine neue Lebensqualität. Die Nähe der Wohnung zur Stadt eröffnet vor allem bei in der Bewegung eingeschränkten Senioren die Möglichkeit, selbst wieder aktiv zu sein und zum Beispiel einzukaufen oder am öffentlichen Leben in der Stadt teilnehmen. Viele der Bewohner gehen sehr häufig in »ihr Café« und treffen sich dort mit der Familie und Freunden. Gleichzeitig ist diese Nutzung auch eine Chance für Städte und Gemeinden, mehr Menschen in den Innenstädten zu halten oder zurück zu gewinnen.

Architektur + Wettbewerbe, Fr., 2008.12.19

19. Dezember 2008

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