Editorial
»Der dritte Pädagoge ist der Raum«, heißt es in Schweden. Ein Gedanke, der der Schulbau-Architektur über Jahrhunderte fremd war, dem inzwischen aber erfreulicherweise immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein Rückblick und Ausblick auf den Schulbau und die begleitenden Diskussionen in Deutschland. rm
Inhalt
Diskurs
03 Kommentar: Frankfurt - »rettende« globalisierung? | Christian Thomas
06 Magazin
12 On european architecture: The space of palladio | Aaron Betsky
14 Im Blickpunkt: Enschede - Wiederaufbau des Quartiers Roombeek | Hubertus Adam
Schwerpunkt
20 Lernen
21 Zum Thema – Schularchitektur und Lernkultur | uk
22 Evangelisches Gymnasium in Bad Marienberg (Westerwald), 4a Architekten | Christoph Gunßer
30 Staatliche Realschule in Höchstadt an der Aisch, Käppel Klieber Architekten | Karl J. Habermann
38 Einsatz von Tageslicht und Kunstlicht in Schulen, Gisela und Ahmet Çakir
42 Brede School De Matrix in Hardenberg (NL), Architectenbureau Marlies Rohmer | Stefan Rethfeld
48 Erweiterung der Schulanlage Steinmürli in Dietikon (CH), Enzmann Fischer Architekten | Caspar Schärer
56 Sonderschule in Schwechat (A), fasch & fuchs | Gabriele Kaiser
64 ... in die Jahre gekommen
Nachbarschaftsschule in Oppelsbohm und ProGymnasium in Lorch, Behnisch&Partner | Christoph Gunßer
Trends
Energie
70 Kalender
Ausstellungen:
Becoming Istanbul (Frankfurt am Main) | Franziska Puhan-Schulz
71 Mode Linie Architektur (Hannover) | Peter Struck
72 Neu in …
...Vaduz (FL) | Manuel Joss
...Frankfurt am Main | Franziska Puhan-Schulz
73 Köthen | Matthias Grünzig
74 Bücher
76 Energetische Sanierung, teil 2: Aussendämmung und Nachahmung vorhandener Sichtmauerwerk- und Stuckfassaden | Thomas Dittert
Technik aktuell
82 Leistungsfähige Glasfassaden | Susanne Rexroth
88 Produktberichte, Putze und Farben | rm
103 Infoticker | rm
104 Schaufenster
Decken | rm
Anhang
106 Planer / Autoren
108 Vorschau / Impressum
Detailbogen
109 Hardenberg (NL): Brede School De matrix
112 Schwechat (A): Sonderschule
Empfehlungen
Schularchitektur und Lernkultur
»Der dritte Pädagoge ist der Raum«, heißt es in Schweden. Ein Gedanke, der der Schulbau-Architektur über Jahrhunderte fremd war, dem inzwischen aber erfreulicherweise immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein Rückblick und Ausblick auf den Schulbau und die begleitenden Diskussionen in Deutschland.
Vom Schulhaus als eigenständigem Bautyp lässt sich eigentlich erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen, zuvor erschöpfte sich der »Schulbau« im Wesentlichen im zur Verfügung stellen von Raum. Der architektonische Ausdruck der frühen Schulen (vor allem der Gemeindeschulen) ist einfach und streng, der Vergleich mit Kasernenbauten liegt nahe. Zum erzieherischen Auftrag durchaus passend, schließlich sollten Disziplin, Ordnung, Gehorsam und Sauberkeit vermittelt werden. Klassengrößen von bis zu siebzig Schülern ließen allerdings auch kaum Spielraum bei der Wahl der Unterrichtsmethoden. Der architektonischen Gestaltung von Mittelschulen, Realschulen und Gymnasien widmete man damals hingegen schon etwas mehr Aufmerksamkeit; wenngleich vor allem auf das äußere Erscheinungsbild bezogen, so wird das höhere gesellschaftliche Ansehen dieser Schulen auch im Raumprogramm deutlich: zu den Klassenzimmern kommen Fachräume und eine Bibliothek hinzu.
Der Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Revolution von 1918 ermöglichten, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Deutschen ein Schulsystem in der Verfassung festgeschrieben wurde, das weder auf der Grundlage gesellschaftlicher Klassen noch den finanziellen Möglichkeiten der Eltern basierte. Die wohl größten Neuerungen waren die Einführung der Grundschule für alle und die achtjährige Schulpflicht. Die allgemeine Aufbruchsstimmung der Zwanzigerjahre wirkte sich auch auf das Schulwesen aus: eine verstärkte Diskussion über Lehr- und Lernmethoden sowie Überlegungen zum Schulbau setzten ein und Schulexperimente wurden ins Leben gerufen. Unmittelbare Einflüsse auf die Schulbau-Architektur gab es allerdings selten, nur wenige Beispiele – wie die Schule am Bornheimer Hang (1927–30) in Frankfurt am Main von Ernst May – zeigen Merkmale des neuen Bauens. Das Gebäude ist nicht Respekt einflößend in die Höhe gestapelt, sondern offen und flächig mit Bezug zum umgebenden Freiraum angelegt.
Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft kamen die Reformen im Schulwesen wieder zum Erliegen; oberstes Ziel war schließlich die Unterordnung unter die Staatsdoktrin und nicht die individuelle Förderung des Einzelnen. Einer Schul- und Schulbaureform bedurfte es also nicht.
Im Zuge des Wiederaufbaus nach 1945 war der Bedarf an neuen, wohnortnahen Schulen groß und wie in kaum einer anderen Bauaufgabe spiegelte sich im Schulbau die Hoffnung auf einen Neubeginn wider. Bereits Anfang der fünfziger Jahre entstanden unterschiedliche Gebäudetypen: Die Pavillonschule, meist aus industriell vorfabrizierten Materialien, folgte dem Gedanken des kleinmaßstäblichen demokratischen Schulhauses, die großmaßstäblicheren Rasterbauten aus Stahlbeton, inspiriert durch Mies van der Rohe, dem Gedanken der Ökonomie.
Vorreiter der gebauten Pädagogik
Als Pionier einer pädagogisch durchdachten Schulbau-Architektur kann Hans Scharoun bezeichnet werden. Bei seinem Entwurf für eine Volksschule in Darmstadt (1951) und dem realisierten Gymnasium in Lünen (1956–62) nimmt die Grundrissgestaltung erstmals auf die verschiedenen Entwicklungsstufen der Schüler Rücksicht. So haben die Räume der Jüngeren einen beschützenden Charakter, während die der Älteren ihrer zunehmenden Selbstständigkeit entgegenkommen.
Mitte der sechziger Jahre wandelten sich die Ziele im Schulbau abermals; Begriffe wie Chancengleichheit und Bildungskatastrophe mischten sich in die Diskussion. Von der Leistungsschule wollte man endgültig weg, die neuen Schulen sollten Offenheit demonstrieren und soziale Unterschiede aufheben. Ende des Jahrzehnts entsteht ein neuer Schultyp: die Gesamtschule. Sie war nicht nur im Hinblick auf ihre absolute Größe neuartig, sondern vor allem aufgrund der hohen räumlichen Nutzungsvarianz. Um diese zu erreichen, bestimmte, wie schon in den Fünfzigern, das Denken in Systemen und Rastern die Architektur. Doch die Umsetzung der wohlmeinenden Konzepte misslang allzu oft. Vollklimatisierte, fensterlose Betonburgen gaben den Schülern keinerlei Möglichkeit der Identifikation mit ihrer Schule, und Untersuchungen zeigten, dass sie »Freundlichkeit« und »Geborgenheit« vermissten und die Gebäude daher ablehnten.
Mitte der Achtziger ließ der Rückgang der Schülerzahlen den Schulbau drastisch zurückgehen, und das Gros der wenigen Neubauten vermochte nicht wirklich zu überzeugen: Monotone Fassaden und vermeintlich kindgerechte, in Wirklichkeit eher willkürlich bunte Farbgebungen bestimmten das Bild.
Lernlandschaften
Gut zwanzig Jahre später und unter dem Eindruck der PISA-Studien hat die Diskussion um erfolgreiche Lehr- und Lernmethoden neue Relevanz bekommen. Um den passenden architektonischen Rahmen, den längst erwiesenen Zusammenhang zwischen dem zur Verfügung gestellten Raum und dem Lernerfolg der Schüler, geht es leider immer noch zu wenig. Architekten werden zwar nicht den guten Unterricht in die Schulen bringen, aber sie können ihn erleichtern und unterstützen oder wesentlich erschweren. Doch wie muss die neue Schule im Sinne eines neuen Lernens aussehen? Eine Forderung ist die nach möglichst viel Fläche. Im Weiteren muss diese Fläche flexibel zu gliedern und zu bespielen sein, damit konzentrierte Einzelarbeit ebenso wie Arbeiten in Klein- und Großgruppen oder das Feiern von Festen möglich sind.
In »Lernlandschaften« können Aktivitätsbereiche verändert werden, so dass es je nach Bedarf zu Verschiebungen und Überlagerungen von Funktionsbereichen kommt. – In diesen Punkten waren die Gesamtschulen in den siebziger Jahren bereits auf dem richtigen Weg. »Der dritte Pädagoge ist der Raum.« Das gilt nicht nur bezogen auf rein ästhetische Qualitäten. Die Schüler müssen sich mit ihrem Schulhaus identifizieren können; je nach Alter sollen sie Geborgenheit, Anregung oder Abwechslung erfahren. Letztendlich muss die Gestaltung der Räume und des gesamten Gebäudes die Schüler in ihrem Lern- und Entwicklungsprozess unterstützen, ihnen Orientierung geben sowie Freiheiten lassen und ihnen helfen, ihr Leben zu strukturieren. Gelingen kann das in erster Linie natürlich über die städtebauliche Lage des Gebäudes oder der Gebäude zueinander sowie die Grundrissgestaltung, unterstützt durch den Einsatz von Materialien, Farbe und Licht. Auf den nächsten Seiten stellen wir Schulen vor, in denen nicht nur gelernt wird, sondern die bereits Orte sind, von denen Kinder lernen können.db, Mi., 2008.10.01
01. Oktober 2008 Ulrike Kunkel
Boogie Woogie Schule
Schon von Weitem ist das Gebäude nicht zu übersehen: Die Fassade aus strahlend weißen Quadraten lugt über das neue Wohngebiet herüber und deutet auf eine besondere Nutzung hin. Dabei gibt sich die Brede School De Matrix nicht sofort als Schulgebäude zu erkennen. Umso spannender wird es jedoch, wenn man das Gebäude betritt: Es ist ein Ort, der mehr ermöglicht als Lernen.
Zunächst war es nur ein Stück Papier, auf dem Kees Baaker ein paar Gedanken notierte. Als langjähriger Direktor einer Schule im niederländischen Hardenberg, einem rund 18 000 Einwohner zählenden Grenzort zu Deutschland, beauftragte ihn die Gemeinde, doch einmal seine »Schule der Zukunft« zu skizzieren. Schließlich hatte er über viele Jahre hinweg Erfahrungen gesammelt, welche Rolle eine Schule in einer Stadt spielt und wie Schüler sie nutzen. So addierte er viele Wünsche. Im luftleeren Raum entstand dieser Idealplan allerdings nicht, denn schon seit Beginn der neunziger Jahre diskutieren die Niederländer neue Bildungsstrukturen. Dabei war vielen bewusst, dass neue Programme auch einer neuen Architektur bedurften.
Auch für die Amsterdamer Architektin Marlies Rohmer ergab sich dies zwingend. Doch wie könnten neue Lernorte für die nächste Generation aussehen? In einer gleichnamigen Forschungsarbeit, die sie 1999 begann und 2007 als Buch »Bouwen voor de NEXT GENERATION« (Building for the NEXT GENERATION) [1] jüngst vorlegte, untersuchte und entwickelte sie Räume für eine zeitgenössische Jugendkultur. In einer Zeit, in der sich berufliche Anforderungen ändern, familiäre neu formen, wirtschaftliche und kulturelle Bedingungen auf dem Prüfstand sind und neue Lern- und Kommunikationstechniken zur Verfügung stehen, bedarf schließlich auch die Institution Schule der Aktualisierung. Ein Glück für Marlies Rohmer war, dass sie bei zwei ersten Aufträgen für Schulen in Den Haag (1998 und 2001), dies gleich testen und veranschaulichen konnte. In dem Zusammenhang war sie auch Kees Bakker aufgefallen, dem Direktor aus Hardenberg, und für ihn lag es nahe, sie nun auch nach Hardenberg zum Wettbewerb einzuladen.
Brede School: die breit gefächerte Schule
Die Gemeinde hatte sich inzwischen für den Bau einer Brede School auf der grünen Wiese als Zentrum von Marslanden, einem neuen Stadtteil für knapp 10 000 Bewohner, entschlossen, und aus Bakkers Skizze war eine konkrete Wettbewerbsauslobung geworden. Brede School lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen, bedeutet aber soviel wie breit gefächerte Schule. Der derzeit in Deutschland diskutierte Begriff der lokalen Bildungslandschaft kommt ihr am nächsten. Für die Niederländer standen bei der Entwicklung dieses Schultyps amerikanische und schwedische Vorläufer Pate, einen ersten Bau realisierten sie 1995 in Den Haag. Zurzeit gibt es bereits 500 landesweit und jährlich werden es mehr. Zumeist wird um eine Grundschule (für Fünf bis Elf-Jährige) herum ein Netz von Betreuungs- und Beratungsangeboten für Erwachsene und Kinder zwischen null und zwölf Jahren gruppiert, so dass für Erzieher und Lehrer kurze Wege entstehen und gerade berufstätige Eltern sie als zentrale Anlaufstelle für Schule, Kinderbetreuung und Arztbesuche nutzen können.
Im 2004 durchgeführten Wettbewerb gelang es Marlies Rohmer, sich gegen drei andere Entwürfe durchzusetzen. Kurioserweise ließen sich in der Jury alle begeistern, bis auf Kees Baaker, der den Entwurf dann doch zu abstrakt und kühl fand. Ihm schwebte zwar »etwas Neues« vor, doch wohl eher in Form einer Farm. Er lässt dabei nachklingen, dass die Flächen des Stadtteils vormals schließlich auch Weideland für Kühe und Schafe waren.
Doch Rohmer ahnte bereits, dass auch Marslanden ein typisches Neubaugebiet im Geist der Postmoderne werden wird: mit einem Potpourri an Hausformen von Giebeldächer-Reihenhäusern über Fertighausvillen bis hin zu Pseudo-Reetdachscheunen. Mit ihrem öffentlichen Bildungsbau setzte sie deshalb der kunterbunten Häusermischung ein strenges, abstraktes Konzept entgegen. In keiner Weise versucht das Bauwerk dem Ort zu entsprechen oder regional typisch zu erscheinen. Vielmehr ging es ihr darum, eine allgemeine Struktur mit maximaler Flexibilität bereitzustellen. Rohmer, die 1978 bis 1986 an der TU Delft studiert hat und hier vor allem von Hermann Hertzberger geprägt wurde, knüpft damit an wesentliche Ideen des Strukturalismus an und überführt sie in unsere heutige von Individualiät und Flexibilität durchdrungene Zeit.
Fünf in eins
Inspiriert von Piet Mondrian und seinem Werk Broadway Booggie Woogie zeigt sie dies auch in einer entsprechenden Marslanden Boogie Woogie-Version auf, wie ihr Schulbau in alle Richtungen eines Areals ausstrahlen soll und dabei Verbindungen zu anderen Punkten aufnimmt. Das Herz des Netzwerks stellt ihre Schule dar: Von hier aus wird Energie in den Kreislauf geschickt, zu einigen Nebenzentren und auf unterschiedlichen Bahnen. Viele Richtungen und Figuren sind dabei möglich, immer wieder erlaubt der Rhythmus neue Bewegungsabläufe. Was zunächst als Denkschema für ein hochkomplexes Netzwerk diente, nutzt Rohmer jedoch auch gleich ganz pragmatisch als formale Idee: Auch der konkrete Bau setzt sich im Grundriss aus vier Quadraten zusammen, ein verbindendes fünftes liegt als Gemeinschaftszone in der Mitte.
So einprägsam diese Grundstruktur, so fein abgestimmt und variantenreich sind dann auch die räumlichen Details. Sie ermöglichen nahezu überall flexible Teilungen und multifunktionale Zonen. Zunächst einmal sind die vier Quadranten unterschiedlich »programmiert«: in den zwei größeren, die zweigeschossig sind, ist jeweils eine Grundschule untergebracht. Eine private protestantische (Quadrant B) mit über 13 Gruppen und eine städtische freie (Quadrant A) mit jeweils sieben Gruppen. In den beiden kleineren, eingeschossigen vervollständigen ein Kindergarten mit drei Gruppen und eine Übertagbetreuung (Quadrant D) sowie im Quadrant C ein kleines medizinisches Zentrum für Krankengymnastik und Logopädie das Angebot.
Alle vier Quadranten kennzeichnet im Grundriss, dass die Räume um eine zentrale Mittelzone angeordnet sind. Teilweise, wie im Fall der protestantischen Grundschule lassen sich sogar auch die Klassenraumwände komplett zu dieser Kernfläche öffnen. Auch die Klassenraumgröße kann durch flexible Wände variieren.
Für weitere räumliche Überraschungen sorgt der fünfte Quadrant (E) in der Mitte mit seinen drei Ebenen: im Erdgeschoss zeigt er sich als große wandelbare Gemeinschaftszone, die als Speiseraum, Spielfläche, Gymnastikhalle oder sogar auch als Kirche den zentralen Treffpunkt aller rund 350 Kinder im Haus darstellt. Nach Schulschluss steht diese Ebene zudem auch für Kurse oder Feste von verschiedenen Gruppen, Clubs und kirchlichen Organisationen des Stadtteils bzw. der Stadt zur Verfügung. In der mittleren Ebene liegen zwei Turnhallen und ganz oben auf dem Dach ein großes Mehrzwecksportfeld, das einer eindrucksvollen Aussichtsplattform gleichkommt. Von hier oben winken die Kinder den Besuchern der Schule gerne zu, hier können sie der Schule auf’s Dach steigen und haben den neuen Stadtteil im Blick.
Identitätsstiftende Fassade
Außergewöhnlich ist auch die Fassade selbst. Rohmer wählte ein industrielles Produkt und ließ aus weißem Kunststoff quadratische Reliefplatten produzieren, die sie bandförmig um ihre Struktur in Stahlbetonkonstruktion wickelte. Die Fensterbänder betonen hierbei den offenen Charakter des Gebäudes. Die Fassade erhebt das Gebäude zu etwas Besonderem und verleiht ihm eine Aura, gleich einem Botschaftsgebäude für Kinder. Der strukturalistische Ansatz führte zu einem allansichtigen Bau ohne Rückseiten. Den Namen »De Matrix« haben die Architekten übrigens nicht erfunden. Dieser wurde in einem Kinderwettbewerb nach der Fertigstellung ermittelt. Doch ist man mit dieser Bezeichnung mehr als glücklich. Auch Kees Bakker, der nun als Direktor die größte Einheit im Haus, die protestantische Schule leitet, hat inzwischen das Haus in sein Herz geschlossen. Das spürt man spätestens dann, wenn er das Gebäude im Rundgang zeigt. Die zentralen Zonen in den Quandranten nennt er dann liebevoll »meadow«, also Wiese – und so kann er dem Bau dann doch auch etwas Ländliches abgewinnen.
Die Menschen in Marslanden haben mit dem neuen »landmark« ein Zentrum mit großer Offenheit und Ausstrahlung erhalten. Besonders für die Kinder hält es viele funktionale und räumliche Angebote parat. Rohmer nennt es »space à la carte«, der aus geschickt genutzten Synergieeffekten der verschiedenen Einrichtungen resultiert. Sicher kann gesagt werden, dass die Architektur der Schule sehr motivierend auf die Schüler wirkt, die Kommunikation untereinander befördert und das räumliche Denken trainiert. Womöglich finden die Kinder ihre Übertagarchitektur viel abenteuerlicher als ihr Zuhause in den kleinen Siedlungshäusern. Schade nur, dass das Budget letztendlich nicht für die Außenanlagen gereicht hat. Doch hier fällt den Marsländern sicher auch eine Lösung durch Eigeninitiative ein. Im besten Fall ist sogar Boogie-Woogie möglich.
[1] Marlies Rohmer, Bouwen voor de NEXT GENERATION, NAi Publishers, Rotterdam, 2007db, Mi., 2008.10.01
01. Oktober 2008 Stefan Rethfeld
Mit offenen Armen
(SUBTITLE) Evangelisches Gymnasium in Bad Marienberg (Westerwald)
»Die gute Schule kümmert sich um den ganzen Menschen. Sie bedient sich deshalb ganz anderer Verfahren als die bloße Unterrichtsanstalt.«. Was Bildungsreformer wie Hartmut von Hentig seit Langem fordern, findet im Schulbau nur selten eine räumliche Entsprechung. Das abseits progressiver Zentren neu gegründete Evangelische Gymnasium beruft sich indes wacker auf den Reformer – und bekam eine klare, (etwas zu) kraftvolle Architektur dazu, die den hohen pädagogischen Anspruch in bester Behnisch-Tradition unterstützt.
Der Weg zum neuen Evangelischen Gymnasium führt durch die Tiefen der jüngeren Schulbaugeschichte hindurch: eine Realschule mit den schlicht-schäbigen Lochfassaden der fünfziger Jahre und einem fantasielos asphaltiertem Schulhof, ein Hauptschulkomplex mit den plumpen Kupfermützen der Achtziger, ein Busbahnhof, wo ebenso gut Vieh verladen werden könnt … Als hinter der Tristesse das neue Gymnasium auftaucht, atmet man auf: »Mit offenen Armen« – so das vom Kollegium gern zitierte Motto der Architekten für den Entwurf – empfängt einen das Gebäude. Die umfassende Geste der zwei Baukörper führt den weitläufigen Schuldistrikt zu einem sinnvollen städtebaulichen Abschluss. Da es den Hang hinaufgeht, überragt der breit lagernde Neubau den Altbestand, so dass der Blick von dort weit ins Land schweift. Schon auf dem Schulhof nimmt man, das Gebäude schützend im Rücken, mehr Wiese, Wald und Wind wahr als Bauwerke. Diese Offenheit, akzentuiert von ein paar alten Eichen, neu gepflanzten Bäumen und einer bunten Kunst-Blume von Otmar Alt, zieht sich in Stein durch das Foyer hindurch bis zur Hangseite, wo sie über weitere Plätze, den Schulgarten und einen Tümpel in die freie Landschaft übergeht. Zwischen den zwei »Armen« rahmt ein seitlich überhängender Gebäudeteil den Blick hinaus zum Balkon – ein bevorzugter Hangout der Schüler. Auf dem Weg hinauf waren schon die jüngst im Werkunterricht entstandenen Modelle von Baumhäusern zu bewundern: Wie eine Vitrine öffnet sich der rechte »Arm« zum Schulhof.
Außen kantig, innen offen
Prägend für die äußere Erscheinung des Gymnasiums ist indes die horizontale Bandfassade aus grauen Metallbrüstungen und Fensterbändern, die, ähnlich einer Karosserie, in zwei großen kastenartigen Öffnungen an den Schmalseiten münden. Wären nicht die für das Stuttgarter Architekturbüro typischen grellbunten Akzente (hier: Lüftungsflügel und Jalousien in Grün, Gelb und Orange), man könnte das Gebäude ob seiner streng-dynamischen Gliederung für einen Verwaltungsbau halten – die Schülerschaft dieser verbindlichen Ganztagsschule hat übrigens auch eine 38-Stunden-Woche.
In der architektonischen Fügung ist die Bandfassade nicht überall ganz schlüssig durchgehalten und wirkt eher grafisch als »tragwerkstechnisch« gedacht. So läuft das eine oder andere Brüstungsband ins Leere, und der zweite »Arm« der Anlage – im Wettbewerbsentwurf noch dem ersten ebenbürtig – schwächelt, da er im Süden nicht mehr um die Ecke geführt wurde. Doch dem etwas groben Maßstab im Großen, der städtebaulich dennoch einen Sinn ergibt, ist eine fein auf das pädagogische Konzept abgestimmte Binnengliederung beigefügt. Der blockartige, scharfkantig-kühle Eindruck täuscht zunächst. Denn dort, wo die Schüler in direktem Kontakt mit Materialien oder Gegenständen sind – auf dem Schulhof, in der Bibliothek, an den Garderoben, Geländern und Fensterrahmen – berühren sie handwerklich hochwertig bearbeitetes Holz.
Der rechte Winkel ist in den Grundrissen eher selten. Die Raumtiefen verringern sich zu den Enden hin, extrem in der Bibliothek, und auch die Flure verjüngen sich mancherorts. Am breitesten ist der Hauptbaukörper im Foyer, das sich als zentrales Gelenk über die drei Etagen zieht und zugleich als Aula dient – ein Rest Behnisch-Tradition scheint hier auf, schließlich waren Matthias Burkart, Alexander von Salmuth und Ernst Ulrich Tillmanns etliche Jahre im Büro Behnisch verantwortlich tätig (vergl. S. 64 ff). Die Klassenräume sind allerdings fast ausnahmslos rechtwinklig und entsprechen den Richtlinien. Doch wurden einigen der etwa quadratischen Räume für die Unterstufe kleine Nebenräume hinzugesellt, die für »Expertenrunden« und spezielle Fördergruppen genutzt werden. Schiebefenster verbinden diese Zimmer mit der Klasse, so dass die Lehrer die Übersicht wahren können.
Mathe oder Taekwondo?
»Wir setzen mit neuen Unterrichtskonzepten auf einen aktiven Lernprozess, bei dem die Kinder als Mensch an- und ernst genommen werden.« Die staatlich anerkannte Ganztagsschule, getragen von der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau und dem Dekanat Bad Marienberg, kontrolliert aber vom Land Rheinland-Pfalz, hat sich viel vorgenommen. Angefangen hat man 2005 in benachbarten Altbauten, seit 2007 ist der Neubau zweizügig in Betrieb, vor Kurzem wurde, da der Andrang groß ist, die Dreizügigkeit genehmigt. Dem Lehrerkollegium ist die Aufbruchstimmung anzumerken, es ist hoch motiviert und nutzt die Möglichkeiten des Neubaus. Die Ganztagsschule wird hier nicht als eine notwendige Verwahrung der Kinder gesehen, sondern als echte Chance, die Schüler ganzheitlich zu fördern. Die großzügige Cafeteria, der »Raum der Stille«, die Dachterrasse und zahlreiche Sitzecken und Rückzugsbereiche im Gebäude zeugen von einer »bewohnten« Schule, wo die Kinder und Jugendlichen von morgens bis abends leben und sich wohlfühlen. Es gibt keine Hausaufgaben, alles wird in der Schule erledigt. Im Unterricht gibt es beträchtliche Mitsprachemöglichkeiten: So kann die Klasse mit entscheiden, welche Fächer wann an der Reihe sind. Wenn die Mehrheit müde ist und nach Abwechslung verlangt, kann auch am Morgen mal Taekwondo statt Mathe unterrichtet werden.
Einkehr im »Raum der Stille«
Ebenso wie die Klassenräume sind die Fachunterrichtsräume auf selbständiges, praxisbezogenes Arbeiten ausgelegt. Frontalunterricht und Hörsaalsituationen sind verpönt. Statt einer Wandtafel gibt es bewegliche Lernmittel und Fächer im Raum, aus denen sich die Schüler – ähnlich wie in Montessori-Schulen – selbst bedienen können. Die individuelle Förderung jedes Einzelnen wird (trotz der mit fast dreißig Schülern pro Klasse starken Belegung) ernst genommen und das eigenverantwortliche Arbeiten (EVA) nimmt einen breiten Raum ein.
Weltanschaulich gibt man sich offen, humanistisch. Die wöchentlichen Gottesdienste sind zwar für alle Pflicht, doch sind Schüler aller Konfessionen vertreten. Die einheitliche Schulkleidung – blaues T-Shirt oder Sweatshirt mit dem Logo der Schule – soll Konkurrenzdruck und Eitelkeit mindern sowie den Zusammenhalt fördern. Wie man hört, wird die Schulkleidung positiv aufgenommen.
Schulgeld wird nicht erhoben, aber ein Förderverein lebt von Spenden. Stiftungsmittel und Ganztagsschulförderung haben eine vorzügliche Ausstattung möglich gemacht. So stehen im »Lernzentrum« Bibliothek edle Ledersessel, Laptops und ein »Coach« bereit, um die Wissbegierde der Kinder zu stillen. Da in diesem Sommer erst die siebte Klasse begonnen hat, wird das Angebot für Ältere erst nach und nach ausgebaut werden. Die Eltern finden stets offene Türen, sie dürfen am Unterricht teilnehmen, wann sie wollen. Zu nennen ist noch die dreiteilige Sporthalle, die – wiederum Behnischs Modell folgend – mit ihrer filigran aufgelösten Tragkonstruktion kaum auffällt, da sie in den Hang eingegraben wurde.
Fernwärme vom Bauernhof
Konstruktiv wie energietechnisch entspricht das Gymnasium dem Stand der Technik. Hinter der metallenen Bandfassade steckt ein Ortbetonbau, im Bereich der Vollverglasung (Foyer, Bibliothek) sind die zurückgesetzten Rundstützen sichtbar. Die Fenster (überwiegend Festverglasung, farbige Öffnungsflügel und -klappen) sind in eine schlanke Pfosten-Riegel-Konstruktion aus Furnierschichtholz integriert. Die Brüstungsbänder sind aus vorgehängten eloxierten Metallpaneelen – wie in den meisten Bauten der Architekten der letzten Jahre.
Der Sonnenschutz in Form von Jalousien liegt außen vor der Fensterebene, was beim großen Glasanteil auf der Südseite sicher sinnvoll ist (in der Bibliothek wird es im Sommer trotzdem sehr warm). Passive Energiegewinne spielen hingegen im Winter eine Rolle. Eine Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung ist installiert. Ein benachbarter Bauernhof versorgt das Gebäude mit Fernwärme.
Grün, grün, grün sind alle Jalousien
Bleibt noch der Blick auf die Farbigkeit des Bauwerks. Schwarzes Linoleum und weiße Wände – beides gleichermaßen empfindlich und somit bereits von Gebrauchsspuren gezeichnet – prägen die Innenräume, kräftig grüne oder orangefarbene Akzente übernehmen in Ausnahmefällen eine Leitfunktion. So sind die WCs der Jungen grün, die der Mädchen orange gehalten. An den Farben erkennt man die zu öffnenden Fensterflügel. Ob das intensive, artifiziell wirkende Grün der Jalousien bei Sonne ein angenehmes Licht gibt, ist allerdings fraglich. Den Architekten zufolge soll es das Gebäude mit dem Grün der Umgebung verbinden. Im Œuvre des Büros ist dieses Grün indes fast omnipräsent, beispielsweise ist im neuen Hallenbad in Biberach die gesamte Decke grün. Mag man getrost bezweifeln, ob hier in erster Linie die Bedürfnisse von Kindern eine primäre Rolle spielten oder die Natur Pate stand. Der Wiedererkennungswert der Farbe ist aber zweifellos groß.
Wer »die Kinder ernst nehmen« will, hätte dem kindlichen Gestaltungsdrang ruhig auch am Gebäude Raum geben können, zumal das Haus ja erst nach und nach voll genutzt werden wird. Nichts ist für junge Leute motivierender, als die eigene Lebensumwelt als formbar und veränderbar zu erfahren. Warum beteiligte man sie nicht zum Beispiel am Farbkonzept, statt ihnen ein fertiges Design zu liefern? Bleibt zu hoffen, dass wenigstens die Freiräume im Gebäude künftig genutzt werden. Der Elan von Lehrern und Schülern dazu ist jedenfalls vorhanden.db, Mi., 2008.10.01
01. Oktober 2008 Christoph Gunßer