Editorial

Der Verkehr plant unsere Städte. Der Satz des Zürcher Stadthistorikers Bruno Fritzsche[1] gilt nach wie vor. Er gilt selbst da, wo der Verkehr verschwindet: Wenn im nächsten Frühling der Üetlibergtunnel und damit die Zürcher Westumfahrung dem Verkehr übergeben werden, kann einer der beiden Äste der «Westtangente», die seit 40 Jahren «provisorisch» die Stadt zerschneidet, abklassiert und zurückgebaut werden. Die Wohnquartiere im Sihlfeld werden sich verändern, wenn Lärm, Russ und Gefahr teilweise verschwinden und dafür plötzlich Strassenraum und Plätze für neue Nutzungen zur Verfügung stehen.

An der Weststrasse, wo der kleinteilige Bodenbesitz in privaten Händen ist, werden sich Häuser, Nutzungen und Preise wohl der Zürcher Umgebung anpassen, es wird also leiser, aber auch teurer. Entlang der Bullinger- und der Sihlfeldstrasse jedoch gehören über die Hälfte der Liegenschaften Baugenossenschaften, der Stadt oder den Kirchgemeinden. Hier hat ein Ideenwettbewerb einen Prozess ausgelöst: Das Bullingerquartier soll in einem gemeinsamen Prozess schrittweise erneuert werden. Dabei zeichnet sich eine Kombination aus baulichen und sozialen Strategien ab.

Der Verkehr plant unsere Städte – auch dort, wo er gar nicht ist: Weil sich der Detailhandel zunehmend in Shoppingcenter-Cluster an den Autobahnausfahrten konzentriert, verlieren die historischen Ortskerne ihre Läden. Eine Umfrage belegt den Strukturwandel mit eindrücklichen Zahlen. Eine Initiative aus Burgdorf schlägt vor, das grosse Potenzial von Altstadthäusern für das Wohnen zu nutzen und die verödenden Marktgassen zu Wohnquartieren umzugestalten. Ein Werkzeugkasten soll Gemeinden helfen, die dazu nötigen Prozesse in Gang zu bringen.

Der Verkehr plant unsere Städte – aber wir machen den Verkehr. Genau genommen ist es unser Mobilitätsverhalten, unser Entscheid, in Lyssach, Brünnen oder Stettbach (einem unserer neuen Stadtzentren) einzukaufen und vielleicht gleich auch noch etwas zu essen oder ins Kino zu gehen, mit dem wir täglich über die Entwicklung unserer Gemeinden bestimmen.
Ruedi Weidmann

Anmerkung:
[1] Der Verkehr plant unsere Städte, in: T. Ginsburg u.a.: Zürich ohne Grenzen. Zürich 1986

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Architekturpreis Region Winterthur | Internationaler Wettbewerb Architekturzeichnen

10 MAGAZIN
Biennale Venedig, Arsenal: Déjàs-vus und Pièces de résistance

14 FLAMA WEST ZÜRICH
Daniela Dietsche
Nach der Eröffnung der Westumfahrung im Mai 2009 wird Zürich vom Transitverkehr entlastet. Die Strassenzüge der bisherigen innerstädtischen Westtangente werden bis 2012 umgestaltet.

20 DER VERKEHR GEHT, EIN QUARTIER ERWACHT
Andreas Hofer
Seit 40 Jahren führt eine der wichtigsten Schweizer Autobahnen quer durch Zürich. Nun wird ein Ast der Westtangente zurückgebaut. Das Bullingerquartier plant seinen zweiten Frühling.

23 SCHWEIZER ALTSTÄDTE: ZUKUNFT ALS WOHNVIERTEL?
Ruedi Weidmann
Die Shoppingcenter an den Autobahnausfahrten ziehen Kaufkraft ab, die Läden verschwinden aus den Altstädten. Können diese als Wohnquartiere überleben? Ein Vorschlag aus Burgdorf.

29 SIA
Baukultur vermitteln | Krankenkassenprämien | Ist Quartierleben planbar?

31 PRODUKTE

37 IMPRESSUM

38 VERANSTALTUNGEN

Flama West Zürich

Im Mai 2009 wird die Westumfahrung Zürich mit dem Üetlibergtunnel eröffnet. Der Transitverkehr durch die Stadt nimmt ab. Dadurch kann ein Ast der Westtangente verschwinden, der «provisorischen Stadtautobahn», die seit 40 Jahren das Quartier Sihlfeld zerschneidet. Im Rahmen der flankierenden Massnahmen (FlaMa West) werden Bullinger-, Sihlfeld- und Weststrasse zurückgebaut; der gesamte Verkehr wird auf der Seebahnstrasse geführt.

Die Zürcher Strassenplanung der 1950er-Jahre sah vor, drei Autobahnen bis ins Stadtzentrum zu führen und am Platzspitz zu verknüpfen. Das «Expressstrassen-Ypsilon» erwies sich aber als technisch, finanziell und politisch nicht realisierbar.[1] Den wachsenden Verkehr zu bewältigen wurde zur wichtigsten Aufgabe Zürichs.

Der Stadtrat berief den Architekten und Planer Hans Marti als Delegierten für Stadtplanung. Marti hatte als Redaktor dieser Zeitschrift unter dem Titel «Machen Sie diesen Blödsinn nicht» das Ypsilon grundsätzlich kritisiert.[2] Es gelang ihm, die politische Blockade zu lösen: Als provisorische Nord-Süd-Verbindung wurden Anfang der 1970er-Jahre bestehende Strassenzüge zur «Westtangente» ausgebaut. Sie besteht aus zwei zweispurigen Ästen mit Einbahnverkehr (Bild 2). Einer davon wird nun zurückgebaut – das Wohnquartier kann nach 40 Jahren etwas aufatmen.

Flankierende Massnahmen Westumfahrung Zürich

Die neue Hochleistungsstrasse entlastet mehrere Agglomerationsgemeinden und die Stadt Zürich vom Durchgangsverkehr. Es entsteht mehr attraktiver öffentlicher Raum. Flankierende Massnahmen (FlaMa West) greifen punktuell in das regionale Verkehrssystem ein, um den Transitverkehr umzulagern und den innerstädtischen Verkehr zu kanalisieren. Lichtsignalanlagen an den Haupteinfallsachsen in die Stadt werden den Verkehrsfluss dosieren und den Transitverkehr auf die Autobahn lenken. Das bringt die nötige Entlastung, um Stadträume gestalterisch aufwerten zu können.

Auf dem Strassenzug Bullingerstrasse–Sihlfeldstrasse–Weststrasse fahren heute pro Tag ca. 23 000 Fahrzeuge, und der Lärmalarmwert von 70 dB wird permanent überschritten. Nachts schützt ein Fahrverbot die Anwohner der Weststrasse ab der Badenerstrasse, der Verkehr wird jedoch durch andere Stadtteile geleitet.

Die künftigen Verkehrsmengen und die Dimension der Strassenabschnitte wurden mit Verkehrsmodellen berechnet. Diese basieren auf den Spitzenstundenverkehrsaufkommen am Morgen und am Abend im Prognosejahr 2010. Entscheidenden Einfluss hatte auch die Vorgabe, den öffentlichen Verkehr zu bevorzugen und die Situation für Fussgängerinnen und Velofahrer zu verbessern. Es wird davon ausgegangen, dass dank der Autobahn und den flankierenden Massnahmen der Verkehr auf der Bullinger-, West- und Sihlfeldstrasse bis 2012 stark abnimmt. Auf der Seebahnstrasse dagegen wird der Verkehr – und die damit verbundenen Lärm- und Luftemissionen – durch die neue Verkehrsführung zunehmen (Bild 3).

Stadträume gestalten

Mit der Strategie «Stadträume 2010»[3] möchte die Stadt Zürich den Stadtraum wieder stärker als Lebensraum nutzen und eine ruhige, elegante Gestaltungssprache als Standard etablieren. Grundlage der Strategie ist ein hierarchisch angelegter Plan, der die Stadträume in quartier-, stadt- oder landesweit bedeutsame Zonen einteilt. So wird heute die Sihlfeldstrasse als quartierweit oder der Bullingerplatz als stadtweit bedeutender Raum eingestuft. Die Strategie enthält ideale Gestaltungsstandards, denen sich die Gestaltung im gewachsenen Stadtraum nur annähern kann. «Stadträume 2010» war während der Projektierung der flankierenden Massnahmen zwar erst in Bearbeitung – Siedlungs-, Verkehrs- und Umweltplaner sowie die beteiligten Dienstabteilungen der Stadtverwaltung (siehe Kasten «Projektbeteiligte ») arbeiteten jedoch Gestaltungspläne aus, die auf Grundzügen der Strategie basieren.

Die Projektverantwortlichen verzichteten auf Gestaltungswettbewerbe. Dies um – nach Aussage des Tiefbauamtes – ein einheitliches Bild zu erreichen, die zeitlichen Vorgaben einhalten zu können und mögliche Mehrkosten zu vermeiden.

Seebahnstrasse: Rückgrat der Quartiererschliessung

Dass auf der Seebahnstrasse einmal Gegenverkehr eingerichtet werden sollte, war schon bei der Eröffnung der Westtangente in den 1970er-Jahren vorgesehen und ist seit damals so in den Richtplanungen festgelegt. Auf der Seebahnstrasse kann die heutige Strassenbreite allerdings nicht reduziert werden. Die künftig durchgängig zweistreifige Strasse wird weiterhin mit rund 30 000 Fahrzeugen pro Tag belastet sein. Sie wird als Rückgrat für die Erschliessung der umliegenden Quartiere dienen. Bei ihrer Planung standen die Kapazität und die Sicherstellung des Verkehrsflusses im Vordergrund. Durch Abbiegespuren im Kreuzungsbereich variiert die Strassenbreite stark, dem wird gestalterisch je nach Breitenbedarf mit einer überfahrbaren Mittelzone begegnet. Sie kann von Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr und der Rettung überfahren werden.

Weststrasse: Raum für Gestaltung

Bullinger-, Sihlfeld- und Weststrasse werden zu Quartierstrassen mit Tempo 30 abklassiert und zurückgebaut. Hier konnte die Gestaltung weitgehend losgelöst von technischen Randbedingungen erfolgen. Die Strassenprofile können verschmälert werden unter Berücksichtigung künftig möglicher Verkehrsorganisationen wie Gegenverkehr, Einbahnverkehr, wechselseitige Parkierung oder Platzgestaltungen. An Kreuzungen mit Hauptachsen führen Niveausprünge teilweise zu einer «Verinselung» des Stadtraums. Die Trottoirabsätze werden aber gebraucht, um die Verkehrsarten zu trennen und die Sicherheit zu gewährleisten. So oft wie möglich wird das Niveau der Strasse dem des Trottoirs angepasst, um ein einheitliches Bild zu schaffen und die Dominanz des Strassenraums zu brechen. Zur optischen Aufwertung werden Bäume gepflanzt. Der Veloverkehr wird durchgängig auf der Fahrbahn geführt. Für den Individualverkehr werden Sperren eingebaut, um den Schleichverkehr aus dem Quartier zu verbannen. Die Ausgestaltung der Strassen ist genügend flexibel, um das Regime künftig anpassen zu können. Durch den vergleichsweise schmalen Querschnitt werden Baumpflanzungen möglich, ohne dass der Mindestabstand von 5 m zu den Gebäuden unterschritten wird. Aufgrund zu geringer Gebäudeabstände und der Lage der Werkleitungen sind Pflanzungen jedoch nicht auf der ganzen Länge möglich.

Insgesamt müssen 120 Parkplätze im öffentlichen Raum aufgehoben werden. Die Liegenschaftsbesitzer werden verpflichtet, vermehrt Parkplätze auf dem Privatareal zur Verfügung zu stellen.

Leben ins Sihlfeld

Wie gut die Massnahmen greifen, der Verkehr fliessen und ruhige, sichere, für den Durchgangsverkehr uninteressante Wohnquartiere entstehen werden, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Die Entlastung wird ab Mai 2009 spürbar sein, dann werden die Baustellen eingerichtet. Dabei bleibt der Verkehr zunächst noch je einstreifig auf beiden Ästen der Westtangente. Der Umbau der Seebahnstrasse für den Gegenverkehr wird voraussichtlich im Sommer 2010 beendet sein. Anschliessend wird der gesamte Verkehr auf die Seebahnstrasse verlegt, und der Rückbau des abklassierten Astes beginnt. Diese Arbeiten dauern voraussichtlich bis 2012.

Anmerkungen:
[1] Jean-Daniel Blanc: Die Stadt – ein Verkehrshindernis. Chronos Verlag Zürich, 1993
[2] Schweizerische Bauzeitung, Vol. 79 (1961): «Machen Sie diesen Blödsinn nicht», Seite 327
[3] Stadt Zürich: «Stadträume 2010», Strategie für die Gestaltung von Zürichs öff entlichem Raum, 2006
[4] Ingenieurgemeinschaft HMM: Technischer Bericht, Bauprojekt FlaMa West N4/N20 Westumfahrung,2006

TEC21, Mo., 2008.09.29

29. September 2008 Daniela Dietsche

Der Verkehr geht, ein Quartier erwacht

Um 1930 entstand um den Bullingerplatz ein eindrückliches städtebauliches Ensemble des sozialen Wohnungsbaus. Die Eröffnung der Westumfahrung um Zürich ermöglicht eine Verkehrsreduktion, die als Chance für eine sozialverträgliche Erneuerung genutzt werden soll.

Als Zürich um die Wende zum 20. Jahrhundert explosionsartig zur Grossstadt wurde, produzierte dies Stadträume unterschiedlichster Prägung. Die Industrie als treibende Kraft verwandelte im Westen und Norden Riedlandschaften in Fabrikareale. In ihrer Nähe siedelten die zuströmenden Arbeiterfamilien. Städtebau hiess in der Folge Massenwohnungsbau, Infrastrukturbau und Sozialpolitik. In den 1920er-Jahren löste die Tieferlegung der linksufrigen Eisenbahn in den Seebahneinschnitt umfangreiche Planungen aus. Die Stadtplanung gestaltete in der Folge die Entwicklung des Quartiers in einem heute unvorstellbaren Mass und sicherte ihre Ziele durch öffentlichen Landerwerb ab. Leitbild waren grosse Baufelder mit einer strassenbegleitenden Bebauung und durchgrünten Höfen. Ungefähr die Hälfte des Bullinger quartiers gehört heute der Stadt oder Genossenschaften. Den Endpunkt der baulichen Entwicklung markierte in den 1960er-Jahren die städtische Hochhaussiedlung Lochergut. Breite Alleen, ruhige Höfe, fast keine Produktion: Das Bullingerquartier ist eine Insel des gemeinnützigen Wohnungsbaus – allerdings eine umtoste und zerschnittene. Denn seit den 1970er-Jahren belegt die Westtangente die wichtigsten Strassen: Auf Bullinger- und Sihlfeldstrasse und über den Bullingerplatz quält sich der Verkehr in den Süden, auf der Seebahn- und der Hohlstrasse in die Gegenrichtung. Das Quartier ist heute eines der ärmsten der Stadt, hat einen der höchsten Anteile an ausländischer Wohnbevölkerung, aber ihm fehlt die multikulturelle Lebendigkeit des benachbarten Langstrassenquartiers oder des Kreises 5 jenseits des Gleisfeldes.

Verkehrsberuhigung als Chance

Die flankierenden Massnahmen zur Eröffnung der Westumfahrung von Zürich im nächsten Jahr ermöglichen einen Rückbau der Westtangente. Die Bullinger- und die Sihlfeldstrasse werden bis 2012 zu Quartierstrassen. Der (beträchtliche) innerstädtische Verkehr wird auf der Seebahnstrasse konzentriert. So stark, wie der Verkehr das Quartier stigmatisiert und seinen Charakter bestimmt hatte, wird seine Reduktion und Verlagerung an den Rand eine Entwicklungsdynamik auslösen. Die Stärke der gemeinnützigen Bauträger ermöglicht es, diese Transformation ähnlich koordiniert zu gestalten wie seinerzeit den Bau des Quartiers. Diese Chancen fallen mit Überlegungen der gemeinnützigen Bauträger über den Umgang mit ihren Beständen zusammen. Die um 1930 gebauten Siedlungen sind gut unterhalten, die Wohnungen sind aber eng und technisch veraltet. Eine umfassende Erneuerung würde das Quartier wieder für mittelständische Familien attraktiv machen, gleichzeitig aber knappen günstigen Wohnraum zerstören und soziale Verdrängungsprozesse auslösen. Wenn diese Veränderung mit Neubauten geschieht, stellen sich zusätzlich noch denkmalpflegerische Fragen. Es ist weniger die herausragende architektonische Qualität von Einzelgebäuden als die grosse städtebauliche Figur, die das Quartier wertvoll macht.

Der Ideenwettbewerb „Wie wohnen wir morgen?“

Der Schweizerische Verband für Wohnungswesen (SVW, der Verband der gemeinnützigen Wohnbauträger, Sektion Zürich) feierte im letzten Jahr gemeinsam mit der Stadt Zürich 100 Jahre Wohnbauförderung. Das Jubiläum sollte neben dem Rückblick auf eine stolze und in der Schweiz einmalige Erfolgsgeschichte auch für das Weiterdenken des gemeinnützigen Wohnungsbaus in die Zukunft genutzt werden. Ein städtebaulicher Ideenwettbewerb war die Plattform. Als Projektperimeter standen das Bullingerquartier und das Quartier Leutschenbach, ein Entwicklungsgebiet im Norden von Zürich mit einem grossen Wohnpotenzial, zur Verfügung. Die Aufgabe war breit und offen formuliert. Es ging nicht nur um architektonische Entwürfe oder die Umsetzung eines Raumprogramms, sondern um den möglichen Beitrag des gemeinnützigen Wohnungsbaus zur Entwicklung der Stadt. 40 Teams, darunter 15 aus dem Ausland, stellten sich dieser Herausforderung mit ganz unterschiedlichen Konzepten. Die Jury vergab am Schluss sechs Preise, ohne diese zu rangieren.

Im Entwicklungsgebiet Leutschenbach bot die Situation wenig Anknüpfungspunkte. Die Frage war zu offen gestellt; das verleitete zu öko-technokratischen Megastrukturfantasien. Doch die negativen Erfahrungen mit den Grossplanungen im 20. Jahrhundert wirken nach: Architektur und Städtebau haben noch keine gemeinsame Sprache gefunden. Diesem Dilemma wichen eine Reihe von Autorinnen und Autoren aus, indem sie die Frage nach dem Wohnen der Zukunft auf abstrakte, poetische Weise zu beantworten suchten. In ihren Collagen wird die Stadt zum Spannungsfeld, in dem sich das intime Wohnen und der kommunikative Austausch im öffentlichen Raum überlagern. Zwei dieser Arbeiten erhielten einen Preis. Die vier anderen Preisträger beschäftigen sich mit dem Bullingerquartier. Das bestehende Quartier erwies sich als vielversprechendes Feld für die Weiterentwicklung des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Alle Projekte setzten beim Potenzial des absehbaren Wandels an: Die Entlastung der Strassenräume gibt dem reinen Wohnquartier Öffentlichkeit. Teilweise verblüffend ähnliche Projekte schlugen einen Transformationsprozess mit wenig baulichen Massnahmen, einer Neuinterpretation des Hof- und Strassenraums und Software – Kooperationen und Kommunikation im Quartier – vor.

Quartiervernetzung als Pilotprojekt

Erfreulicherweise hat der Ideenwettbewerb in beiden Perimetern konkrete Folgen. In Leutschenbach sprach die Stadt Zürich der für diesen Zweck neu gegründeten Baugenossenschaft «mehr als wohnen» ein Grundstück im Baurecht zu. Hier soll eine experimentelle Wohnsiedlung entstehen; zurzeit läuft der Projektwettbewerb. Im Bullingerquartier führte die Diskussion der Wettbewerbsresultate zu einer Vernetzung der Baugenossenschaften. Nach einer internen Diskussionsrunde gelangten sie an die Stadtverwaltung und schlugen Gespräche vor, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. In der ersten Jahreshälfte 2008 fanden zwei Workshops statt. Die beteiligten Amtsstellen, die Genossenschaften, der Quartierverein, die Kirchgemeinden und die Schulpflege diskutierten die künftige Entwicklung. Diese Gespräche mündeten in Leitsätze für die Erneuerung des Quartiers.

Zusammen mit den Ideen des Wettbewerbs steht damit ein gut gefüllter Werkzeugkasten für die weitere Entwicklung zur Verfügung: Um den verkehrsberuhigten Bullingerplatz soll ein Zentrum für das Quartier entstehen. Kommerzielle (Café) und soziale Infrastrukturen (Spitex, Mehrzwecksaal) schaffen eine grössere Öffentlichkeit. Die gemeinnützigen Bauträger fördern die Belebung der Erdgeschosse mit Gemeinschaftsräumen, Waschsalons, Ateliers und der Ansiedlung von Klein gewerbe, Krippen und Horten. Das Fusswegnetz kann unter Einbezug der Höfe enger geknüpft werden. Einzelne Höfe übernehmen Funktionen für das ganze Quartier. Der tiefe Motorisierungsgrad soll als Chance genutzt werden: Wenn die Parkierung in bestehenden Tiefgaragen am Rand konzentriert wird, entsteht ein verkehrsarmes Quartier. Eine Machbarkeitsstudie klärt siedlungsübergreifend das Potenzial von Ersatzneubauten ab. Der Ersatz einzelner Siedlungen an immissionsbelasteten Standorten ermöglicht eine massive Steigerung der Wohnqualität und eine Ergänzung des Angebotes mit zeitgemässen Familienwohnungen und altersgerechtem Wohnraum.

Der eingeschlagene Weg verspricht eine behutsame Erneuerung und eine Aktivierung der Potenziale im öffentlichen Raum. Das Bullingerquartier als Monument des Kampfes gegen die Wohnungsnot wird durch diesen Prozess vielleicht etwas von seiner architektonischen Homogenität und Strenge verlieren, aber als Stadtquartier an Vielfalt, Attraktivität und Zukunftsfähigkeit gewinnen.

TEC21, Mo., 2008.09.29

29. September 2008 Andreas Hofer

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