Editorial

«die form eines gegenstandes halte so lange, das heisst sei so lange erträglich, solange der gegenstand physisch hält. Ich will das zu erklären suchen: ein anzug wird seine form häufiger wechseln als ein wertvoller pelz.»[1] Um mit Adolf Loos zu sprechen, handelt es sich bei den in diesem Heft thematisierten Bauten um wertvolle Pelze, deren Physis an sich intakt war. Doch sei es, dass sich Motten einnisteten («Asbest: Risiko abklären»), dass die Nähte nicht mehr stark genug waren («Hohe Promenade») oder dass sie aus der Mode gekommen waren («Kunst elektrisiert», «Dreibein, Korsett und Regenschirme»): Die Bauten wurden einer Transformation unterzogen.

Das Titelbild illustriert ein anderes Kleidungsstück, das noch bis vor Kurzem démodé war (dass es heute wieder en vogue ist, ist eine andere Geschichte). Das Korsett ist vielfach negativ konnotiert. Dem modischen Accessoire, das den Zwang symbolisiert, sich einzuschnüren, um ein zweifelhaftes Schönheitsideal zu erfüllen, brach erst das Verdikt der Mediziner, die drastisch auf die Verformung des Knochenkostüms verwiesen, das Genick bzw. das Fischbein.

Auch auf dem Gebiet der Architektur hat es sich keinen guten Namen gemacht. Sah sich die Moderne im Korsett der Stile gefangen, aus dem sich das Neue Bauen zu befreien trachtete, hadern heutige Architekten mit dem konstruktiven Korsett, das ihnen die Schwerkraft und die Gesetze der Baustatik auferlegen. Die Zerstörung von Baukultur wird ebenso unter «Architektur im Korsett» subsumiert wie umgekehrt Bauvorschriften, Kostenrahmen und Auflagen des Denkmalschutzes.

Wenn «Kürschner» am Werk sind, die ihr Fach meisterlich beherrschen, schöpfen sie aus der Beschränkung das Potenzial: Sie rücken dem Schädlingsbefall vorzeitig zu Leibe, verstärken die Nähte, ehe auch das Fell berieben ist, und arbeiten den Pelz so um, dass ihn die Modeströmung nicht hinwegfegt. Das Korsett im übertragenen Sinn – beim Caixa Forum die beschränkte Tragfähigkeit der Umfassungsmauern – ausgerechnet mit einem Korsett im wörtlichen Sinn – der Konstruktion – zu sprengen, mithin das Korsett zum Clou der Lösung zu machen, ist Homöopathie: Similia similibus curantur (Ähnliches wird durch Ähnliches geheilt).
Rahel Hartmann Schweizer

Anmerkung
[1] Adolf Loos, «Ornament und Verbrechen», 1908, in: Ulrich Conrads: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Vieweg. Braunschweig/Wiesbaden, 1981, S.15ff .

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Architektur in Worten – Thesenkonkurrenz

14 MAGAZIN
Historischer Anker im Stadtfluss | Leserbrief: Rollen eines Ingenieurs | FLS: Entscheidende Phase

24 DREIBEIN, KORSETT UND REGENSCHIRME
Heinrich Schnetzer Ingenieurwesen: Die Integration der Umfassungsmauern des Madrider Elektrizitätswerks in das neue Caixa Forum gelang den Ingenieuren WGG Schnetzer Puskas mit einem ebenso diskreten wie anspruchsvollen Tragwerkskonzept.

29 KUNST ELEKTRISIERT
Klaus Englert Architektur: Die architektonische Attraktion des Caixa Forum von Herzog & de Meuron sind die gusseisernen, perforierten Fassadenplatten, die das auf die Ziegelfassade des Elektrizitätswerks aufgepfropfte Gehäuse wie eine Aussenhaut abschirmen.

34 ASBESTRISIKO ABKLÄREN
Daniel Bürgi Umwelt: Die Mehrheit aller Bauten aus den 1950er- bis 1980er-Jahren enthält Asbest. Kommen diese ins Sanierungsalter, werden mit einer Asbestabklärung vor Baubeginn Gesundheitsrisiken vermieden.

38 HOHE PROMENADE
Anna Ciari, Carlo Bianchi Denkmalpflege: Um die Erdbebensicherheit nachzuweisen, wurde ein neues, verformungsbasiertes Verfahren für Mauerwerksbauten für die Anwendung an einem Altbau – der Zürcher Kantonsschule Hohe Promenade – adaptiert.

44 SIA
Geschäftslage im 2. Quartal 2008 | Kurse Projektmanagement | Innovation unter Tage

49 PRODUKTE

61 IMPRESSUM

62 VERANSTALTUNGEN

Dreibein, Korsett und Regenschirme

Die denkmalgeschützten Umfassungsmauern des Elektrizitätswerks «Central Eléctrica del Mediodìa» in Madrid sollen gemäss den Architekten Herzog & de Meuron nahezu komplett in den Museumsneubau integriert werden. Die Ingenieure von WGG Schnetzer Puskas setzten die architektonische Idee in einem kaum wahrnehmbaren und gerade darum anspruchsvollen Tragwerkskonzept um.

Das denkmalgeschützte Elektrizitätswerk «Central Eléctrica del Mediodìa» liegt unmittelbar an der Paseo del Prado. Der Backsteinblock des ersten Kohlekraftwerks von Madrid ist zwischen dem Prado, dem Museo Reina Sofía und dem Thyssen-Museum an dieser Lebensader angebunden. Trotz der wechselvollen Geschichte des Baus, die eng mit der industriellen und politischen Entwicklung des Landes verbunden ist, hat der Backsteinmonolith bis ins 21. Jahrhundert überlebt und sollte für die neue Nutzung nahezu komplett in den Museumsneubau integriert werden.

Als städtebaulich-architektonische Grundidee ist parallel zur stark befahrenen Strassenachse der Paseo del Prado eine Fussgängerachse als Verbindung zwischen den weltweit bedeutenden Museen angedacht. Der Raum unter dem Museumsbau ist Teil dieser Verbindungsachse. Dieses Konzept führt in seiner Konsequenz zu einem Loslösen des Backsteingebäudes von seinem Granitsockel, seinem Fundament. Der massige Backsteinkörper schwebt als riesiger Block über dem Platz und ist nur auf wenigen Beinen abgestützt (Bilder 1 und 2).

Schwebender Block

Das neu erstellte Museum Caixa Forum gliedert sich in vier Obergeschosse, eine ebenerdig gedeckte Plaza und zwei Untergeschosse. Die gesamte oberirdische Gebäudestruktur steht auf dem von den Erschliessungskernen gebildeten Dreibein (Bild 3). Die Restfläche – der weitaus grösste Teil des Gebäudegrundrisses – wird durch den über der Plaza schwebenden monolithischen Körper gedeckt, aus dessen Mitte sich eine spiralförmige Treppe aus der Decke entwickelt – der Hauptzugang zum Gebäude.

Ursprünglich bildete ein umlaufender, bis zu zwei Meter hoher Granitsockel die Gebäudebasis. Dieser aus einzelnen grossen Steinen gefertigte steife Sockel wurde während des Baus der Untergeschosse mit einem Stahlkorsett gefasst und über Joche auf Mikropfählen abgestützt. Nach einem Voraushub wurden die Baugruben der drei Erschliessungskerne abgeteuft und die Kerne hochgezogen. Die Erschliessungskerne dienten während des Baus der Untergeschosse als feste Auflagerpunkte zur Spriessung der Baugrube. Damit konnten die Aussenwände direkt unter den Backsteinwänden bis auf die Grundstücksgrenze ausgeführt werden. Die anspruchsvolle Ausführungsplanung und Bauleitung wurde vom Partnerbüro NB35 in Madrid übernommen.

Abfangendes Korsett und tragendes Dreibein

Das primäre Gebäudetragwerk besteht aus zwei Haupttragelementen: drei Erschliessungskerne (Bild 3) und eine sich um diese Kerne windende und alles zusammenbindende Umfassungswand. Die drei Erschliessungskerne bilden ein Dreibein aus Stahlbeton, das alle vertikalen und horizontalen Lasten in den Baugrund abträgt. Die mit diesen Kernen dene Umfassungswand fasst die Tragstruktur des Gebäudes wie ein Korsett ein. Sie trägt die Fassaden- und die Gebäudelasten sowie die aufgesetzte, zweigeschossige Stahlkonstruktion, die das bestehende Backsteingebäude erweitert. Zusammen mit zwei weiteren, zueinander parallel verlaufenden Innenwänden bildet sie einen in Spannbeton gefertigten Zellenkasten, der als makroskopische Abfangkonstruktion sämtliche Gebäudelasten auf das erwähnte Dreibein überträgt. Mit diesem Zellenkasten aus der Umfassungsmauer und den weitgespannten inneren Abfangscheiben wird gleichzeitig eine Raumteilung erreicht, die die grossflächigen Ausstellungsräume ermöglicht.

Das Stahlbetonkorsett ist vorgespannt (Bild 4). Mit den Umlenkkräften der Vorspannung werden grosse konzentrierte Lasten eingesammelt und an den Auflagerlinien über eine Gegenkrümmung gezielt abgegeben. Ausserdem ziehen die Vorspannkräfte die alten, zu erhaltenden Backsteinmauern zusammen und überdrücken die Zugspannungen im Backstein, die aus der Lastumlagerung resultieren.

Tragende Fingerspitzen

Das ehemalige historische Elektrizitätswerk wurde komplett ausgekernt. Indem die bestehende Mauerwerksfassade mit der innen neu erstellten Umfassungswand verbunden wird, werden die Backsteinaussenwände komplett in den Neubau integriert. Einzelne, über der gesamten Wandhöhe verteilte, aus den Tragwänden herausragende Stahlbetonnocken tragen Fingerspitzen gleich punktuell die bestehenden Mauerwerkswände (Bild 4). Durch diese Verzahnung werden die vertikalen Lasten kontinuierlich auf das Korsett übertragen und eine horizontale Verdübelung der beiden unterschiedlichen Wände und Materialien erreicht.

Die dicht aneinandergereihten Nocken am Fuss der bestehenden Mauerwerkswände bilden lineare Lager, die vor allem die vertikalen Lasten abtragen (Bild 5). Die untersten Steine werden durch ein umlaufendes Stahlblech, das mit dem Korsett verbunden ist, gehalten. Nach dem Einschlitzen des Bleches in die Fuge zwischen Granitsockel und Backsteinwand und der anschliessenden Fertigstellung des Korsetts konnte der Granitsockel entfernt und das Gebäude auf das Dreibein abgesetzt werden. Umgekehrte Regenschirme als zentrales erschliessendes Element führt die spiralförmige Treppe von der Plaza ins erste Obergeschoss. Dieses Geschoss ist der Ausgangspunkt für die Begehung des Museums. Von ihm gelangen die Besucher in die Ausstellungs- und Diensträume in den weiteren Obergeschossen, aber auch in die Auditorien in den Untergeschossen. Die erforderliche Raumgrösse, die Freiheit im Grundriss und die Stützenlosigkeit im Raum unter dem Museum (Fussgängerachse) wurden mit einer aufgehängten Bodenkonstruktion geschaffen. Der Boden des Eingangsgeschosses ist punktuell mit feinen Hängestützen an die Blechträger der Verbunddecke über dem ersten Obergeschoss aufgehängt. Die wegen des Gewichts als reine Stahlkonstruktion ausgebildete Bodenkonstruktion (Hohldecke aus entsprechend zugeschnittenen HEB-500-Walzprofilen) kann zusammen mit den Hängestützen (Stahlstangen aus RND 80) als willkürliches Aneinanderreihen mehrerer umgekehrter Regenschirme verstanden werden (Bild 6). Die nicht in einem Raster angeordneten Hänger bilden jeweils den zentralen Stab des Schirms. Die radial verlaufenden Träger nehmen in ihrer Höhe zum Hänger zu und bilden so die stark facettierte Plazadecke. Ein Betonüberzug im Verbund mit der Hohlkastendecke bildet den oberen, begehbaren Abschluss.

Für die Decken über dem ersten, zweiten und dritten Obergeschoss werden Verbunddecken eingesetzt. Sie sind aus 20 m weit gespannten, 1.10 m hohen Blechträgern mit darüber liegenden Profilblechen und darin eingegossenem, bis zu 140 mm starkem Betonüberzug gefertigt. Die verkleideten Stahlträger sind in das Beleuchtungs- und Entlüftungskonzept der Ausstellungsräume integriert. Die Tragrichtung der raumbildenden Deckenkonstruktion ist an den sich abzeichnenden Rippen ablesbar.

Das sich unterhalb der Plaza befindende Auditorium wird von einer vorgespannten Spannbetonplatte überdeckt. Wie in Spanien weitverbreitet, wird die statisch erforderliche Stärke der Deckenkonstruktion mit Schalungseinlagen aufgelöst. Die massive Decke wird leichter und kann damit ökonomischer erstellt werden. Sie folgt der triangulierten Oberfläche der Plaza. Mit dieser faltwerkförmigen Ausbildung der Deckenoberfläche kann auf einen komplexen und schweren Aufbau mit Gefällsbeton verzichtet werden. Ausserdem kann durch diese Tragwerksform die lichte Höhe des Auditoriums maximiert werden.

TEC21, Mo., 2008.09.01

01. September 2008 Heinrich Schnetzer

Kunst elektrisiert

Madrid erlebt momentan einen regelrechten Museumsboom. Manche beschwören schon ein neues «siglo de oro», ein neues Goldenes Zeitalter, herauf, denn im Herzen Madrids wird derzeit eine Kunstmeile vollendet, die alles Dagewesene in Spanien in den Schatten stellt.

Entlang dem Paseo del Prado, der von der prachtvollen Plaza Cibeles im Norden bis zum Bahnhof Atocha im Süden führt, befinden sich in kurzer Entfernung die drei wichtigsten Kunstsammlungen Madrids: Museo Thyssen-Bornemisza mit den Sammlungen von Heinrich und Carmen Thyssen-Bornemisza, Museo Nacional del Prado mit den königlichen Sammlungen und Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía mit Werken aus dem 20. Jahrhundert. Die Museumsmeile «Paseo del Arte» umfasst die Erweiterung dieser grossen Kunstsammlungen sowie die Errichtung der gerade fertiggestellten Kunsthalle Caixa Forum der renommierten katalanischen Stiftung La Caixa. Damit ist das ambitionierte Projekt «Paseo del Arte» noch nicht abgeschlossen, denn Prado-Direktor Miguel Zugaza möchte sein Museum durch Hinzunahme des angrenzenden Museo del Ejército (Heeresmuseum) und des Casón del Buen Retiro zum «Campus del Museo del Prado» vereinen, um zusätzliche Ausstellungsflächen und ein Forschungszentrum zu erhalten. Zu guter Letzt kommt noch die städtebauliche Umgestaltung des Paseo del Prado durch den Portugiesen Alvaro Siza hinzu.

Der Umbau der drei namhaften staatlichen Museen am Paseo del Prado konnte im Herbst 2007 mit dem von Rafael Moneo gestalteten Erweiterungsbau des Museo del Prado beendet werden. Im Februar folgte schliesslich die private Kunsthalle der Stiftung La Caixa. Lange mussten die Madrider auf das mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Caixa Forum des Basler Teams Herzog & de Meuron warten. Doch nun braucht man nur die Strasse zu überqueren, um vom Prado zur neuen Kunsthalle zu gelangen. Auch der erweiterte Musentempel Museo Thyssen-Bornemisza und das Museo Reina Sofía mit Jean Nouvels aufsehenerregendem Anbau befinden sich in unmittelbarer Nähe.

Herzog & de Meuron stellten sich der anspruchsvollen Aufgabe, die denkmalgeschützten Umfassungsmauern eines Elektrizitätswerks, der «Central Eléctrica del Mediodía» von 1899, nahezu komplett in den Museumsneubau zu integrieren. Arata Isozaki hatte es etwas einfacher, als er sechs Jahre zuvor für die Caixa Forum-Kunsthalle in Barcelona den Ziegelbau der 1911 von Josep Puig i Cadafalch errichteten modernistischen Tuchfabrik lediglich um einen abgesenkten Eingangsbereich erweiterte. Herzog & de Meuron akzentuierten nicht nur die spannungsvollen Beziehungen zwischen Alt- und Neubau, sie erklärten das neue Museum schlechthin zum «Magneten» für ganz Madrid. Gemessen an der moderaten Formensprache des «klassizistischen» Prado-Annexes gingen die Schweizer Baumeister ein grösseres Wagnis ein. Sie wollten beweisen, wie radikal zeitgenössisches und fantasievolles Bauen in einem traditionellen städtischen Umfeld möglich ist. Nun, der Nachweis ist ihnen zweifellos geglückt.

Gebirgsmassiv

Gegenüber des Königlichen Botanischen Gartens gelegen, ragt das Caixa Forum aus dem leicht ansteigenden Wohnviertel wie ein Gebirgsmassiv empor. Der neue Baukörper wurde auf die bestehende Ziegelfassade des Elektrizitätswerks aufgestockt, während man den Granitsockel des Altbaus abriss. Die hochgezogene Fassade versteht Jacques Herzog als «zerklüftete Landschaft», geprägt von Schrägen und Einbuchtungen. Dabei orientiert sich das Rot der gusseisernen Fassadenplatten an den Dachziegeln der angrenzenden Wohnbauten. Diese Platten gehören zur architektonischen Attraktion des Museums: Sie besitzen alle ein engmaschiges Perforationsraster, ausserdem unregelmässig geformte Einschnitte. Diese Module schirmen das aufgepfropfte Gehäuse wie eine Aussenhaut ab. Herzog & de Meuron interessieren sich seit mehreren Jahren für diese hybriden Konstruktionselemente, die sie wegen ihrer textilen und dekorativen Eigenschaften schätzen. Auch in der im Bau befindlichen «Ciudad del Flamenco» von Jérez de la Frontera kommen diese Elemente, die an die Fassadenstruktur der Moschee von Córdoba (784–987 n. Chr.) erinnern, zum Einsatz. Die «porösen» Platten des Caixa Forum funktionieren gleichzeitig als Fassade und Fensteröffnung: Sie schliessen ab, leiten aber zugleich gedämpftes Licht in die Museumsräume, in denen sie für ein angenehmes Clair-obscur sorgen.

Pilzdach

Auch konstruktionstechnisch hebt sich der hochkomplexe Baukörper von allen anderen Museumsprojekten auf dem Paseo del Arte deutlich ab (siehe «Dreibein, Korsett und Regenschirme», S. 24 ff.). Harry Gugger, Partner von Herzog & de Meuron, erklärte dazu: «Anfangs dachte niemand an die enormen Schwierigkeiten, die das Projekt mit sich brachte. Zunächst galt es, das Gebäude abzustützen, erst danach konnte der Granitsockel des Altbaus entfernt werden.» Das gesamte Gebäude lastet in den Untergeschossen auf drei mächtigen Pfeilern, die aus dem Fundament ragen. Doch davon bemerkt der Besucher nichts. Er nimmt nur den verkleideten Betonkern wahr, einen mächtigen Stängel, über dem sich das Gebäude wie ein Pilzdach wölbt. Dieser prismatisch geformte Eingangsbereich mit öffentlichem Platz unter dem schützenden Dach mutet wie expressionistische Filmarchitektur an. Die in den zwei Untergeschossen untergebrachten Säle, an deren Wände perforierte Aluminiumplatten angebracht wurden, sind allesamt stützenlos. Ebenso die Ausstellungssäle in der zweiten und dritten Etage. In den fünf oberen Geschossen, die sich über dem buchstäblich aufgelösten Sockelgeschoss erheben, demonstrieren die Basler, wie man Räume sinnlich gestaltet: Im Restaurant hängen tropfenförmige Lampen aus der Werkstatt von Herzog & de Meuron. Die Treppenhausspirale mit ihren elegant geschwungenen Ecken erstrahlt in blendendem Weiss. Und im Foyer überrascht der ruppige Charme eines von Neonröhren, Stahlboden und unverdeckten Ablüftungsrohren geprägten Industrie-Ambientes. Das Direktorenzimmer mag zunächst klaustrophobische Ängste wecken, bis man die Fensterschlitze unterhalb der Decke entdeckt.

Seit Langem gehört es zum Arbeitsprinzip von Herzog & de Meuron, mit bildenden Künstlern und Fotografen zusammenzuarbeiten. Diesmal luden sie den französischen Gartenkünstler Patrick Blanc ein, auf dem öffentlichen Vorplatz, der früher von einer Tankstelle verstellt war, landschaftsarchitektonische Akzente zu setzen. Blanc gestaltete die Brandmauer eines den Platz einfassenden Gebäudes als lebendige Pflanzenwand. An dieser quer zur Kunsthalle emporragenden Wand wachsen 15 000 Pflanzen von 250 verschiedenen Arten, aufgehängt an einem metallischen Gewebe, das gleichzeitig als Bewässerungssystem dient. Gegenüber dem Botanischen Garten zweifellos ein unwiderstehlicher Blickfang für die Passanten am Paseo del Prado.

Das Caixa Forum wird sich als machtvolle Konkurrenz zum benachbarten Museo Reina Sofía entwickeln. Beide Institutionen haben sich in Spanien als führende Museen für die Kunst des 20. Jahrhunderts etabliert, allerdings liegt der Sammlungsschwerpunkt des Caixa Forum mehr auf der Gegenwartskunst, beginnend mit den Nachkriegsströmungen um Joseph Beuys, Bruce Nauman, Bill Viola, Anselm Kiefer, Gerhard Richter und Georg Baselitz. Ähnlich wie das Museo Reina Sofía, das seit Kurzem der experimentierfreudige Manuel Borja Villel leitet, wird man nicht nur auf Ausstellungen setzen, sondern auf Konzertreihen, Debatten und ungewohnte Veranstaltungsformen. Die Rivalität der beiden Institutionen am Paseo del Prado dürfte sich als befruchtend erweisen.

TEC21, Mo., 2008.09.01

01. September 2008 Klaus Englert



verknüpfte Bauwerke
Paseo del Prado
Museo del Prado - Erweiterung
Reina-Sofía-Museum
Caixa-Forum

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